Jesus und die Religion
Predigt am 24. Mai 2009 zu Johannes 15,26 – 16,4
26 Der Beistand wird kommen, der an meine Stelle tritt. Es ist der Geist der Wahrheit, der vom Vater kommt. Ich werde ihn zu euch senden, wenn ich beim Vater bin, und er wird als Zeuge über mich aussagen. 27 Und auch ihr werdet meine Zeugen sein, denn ihr seid von Anfang an bei mir gewesen.
16,1 Ich habe euch dies gesagt, damit ihr nicht an mir irre werdet. 2 Sie werden euch aus den Synagogengemeinden ausschließen. Es wird sogar soweit kommen, dass alle, die euch töten, es als einen Opferdienst zur Ehre Gottes verstehen. 3 Das alles werden sie euch antun, weil sie weder mich noch den Vater erkannt haben. 4 Aber ich habe es euch gesagt. Wenn es eintrifft, werdet ihr an meine Worte denken. Ich habe euch dies alles zu Anfang nicht gesagt, weil ich ja bei euch war.
In diesen Worten Jesu wird ein Problem angesprochen, das im Lauf der Zeit immer wichtiger geworden ist: Jesus und die Religion. Genauer: Jesus und die religiösen Organisationen, damals konkret die jüdischen Synagogengemeinden. Jesus sagt seinen Jüngern voraus, dass sie eines Tages aus der jüdischen Gemeinschaft, die sich in den Synagogen traf, ausgestoßen werden würden. Es gab schon damals in den Synagogen eine große Bandbreite von Glaubensüberzeugungen und Stilen, und eine Zeit lang fanden auch die Anhänger Jesu dort ihren Platz. Aber irgendwann wurde ein Schnitt gemacht und die Jesusanhänger aus diesem Spektrum ausgeschlossen.
Nun hätte man sagen können: na und? dann treffen wir uns eben woanders! Paulus hat das ja nicht selten so gemacht: so lange es ging, diskutierte er innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, aber wenn er dort zwangsweise gehen musste, dann hatte er meist schon ein paar Anhänger gefunden, und dann machte er bei denen im Haus weiter. Oder in einem gemieteten Saal.
Das Problem dabei war nur: Synagogen waren staatlich anerkannte Orte der Religionsausübung, alles andere war streng genommen illegal. Damals im römischen Reich kamen die Christen durch den Ausschluss aus der Synagogengemeinschaft jedenfalls manchmal in eine gefährliche Lage.
Wir können uns das heute gar nicht mehr richtig vorstellen, aber auch bei uns in Deutschland ist es noch nicht lange her, dass man für jede Form von Religionsausübung eigentlich eine Genehmigung brauchte. Ich weiß z.B. von den sogenannten »Schülerbibelkreisen«, die etwa ab 1880 an Schulen gegründet wurden, und in den ersten Jahrzehnten ging das nur, wenn der Schuldirektor seine Zustimmung gab. Oder kurz nach 1700 gab es eine religiöse Bewegung unter den Bergleuten im Harz, und der Streit ging dabei bald darum, ob die sich außerhalb der Gottesdienste und in Privathäusern zu Bibelstunden treffen durften. Schließlich wurden die Anführer (zwar nicht umgebracht, aber) des Landes verwiesen.
Dass heute bei uns jeder seine Religion ohne Genehmigung leben darf, ist überhaupt nicht selbstverständlich, und auch das ist ein Grund, sehr froh über unser Grundgesetz zu sein.
Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten im Verhältnis zwischen den Jüngern Jesu und den religiösen Organisationen:
- die eine Möglichkeit haben wir gerade überlegt: die Anhänger Jesu werden abgelehnt und ausgestoßen, und manchmal werden sie dann vom Staat verfolgt. Jesus kündigt sogar an, dass Menschen es als Dienst an Gott ansehen werden, einen Jünger zu töten. Das heißt, es sind nicht unbedingt gottlose oder gottfeindliche Menschen, die die Jünger Jesu verfolgen, sondern gerade aus religiösen Motiven meinen sie, diese Ketzer beseitigen zu müssen. Paulus z.B., als er noch nicht Christ war, hielt die Christen für schlimme Gotteslästerer.
Jesus kündigt das seinen Jüngern an, um sie vor Unsicherheit zu schützen. Denn man fragt sich ja doch irgendwann: wenn sich sogar die Religiösen gegen uns wenden, vielleicht haben wir dann doch irgendwas falsch gemacht? Wenn Leute uns im Namen Gottes verfolgen, haben wir uns dann doch vielleicht in unserer Meinung über Gott getäuscht? Und Jesus sagt: nein, das ist so, auch in den religiösen Organisationen sitzen Leute, die keine Ahnung von mir und meinem Vater haben. Die können euch nur als gefährliche Spinner sehen. Lasst euch davon nicht beirren. - Es gibt aber auch die andere Möglichkeit, dass religiöse Organisationen den Anhängern Jesu freundlich gegenüberstehen und sich von ihnen beeinflussen lassen. Franz von Assisi z.B., als er noch ganz am Anfang und am Suchen war, hatte die Unterstützung seines Ortsbischofs. Der hat ihm den Rücken gestärkt gegen seinen Vater. Und später, als er schon bekannter war, hat ein Papst ihn und seine Bewegung legalisiert, weil er sich von diesem Einfluss eine Erneuerung der Kirche erhoffte.
- An diesem Beispiel kann man aber auch die dritte Möglichkeit sehen, dass nämlich der Impuls Jesu aufgenommen und dann umgebogen wird. Der ursprüngliche radikale Impuls des Franziskus, der immer bettelarm sein wollte und ohne Macht und Vorschriften auskommen wollte, ohne Besitz und Waffen, der wurde immer mehr zurückgedrängt.
Und das Schlimme ist, dass dann manchmal sogar fast das Gegenteil entsteht: eine religiöse Institution, auf der Jesus draufsteht, aber er ist kaum noch drin. Wenn Sie mit Menschen über den Glauben reden, dann kommt über kurz oder lang genau dieses Argument: die Kirche hat in ihrer Geschichte immer wieder Dinge getan, die mit Jesus überhaupt nicht vereinbar sind. Die Kreuzzüge und die Inquisition sind die Standardbeispiele dafür, aber auch die Verstrickung von Christen in viele Kriege bis hin zu George Bush. Und diese Verstrickung von Christen in nicht-jesusmäßige Sachen ist heute wahrscheinlich für viele Menschen mindestens so verwirrend wie es der Ausschluss aus der jüdischen Gemeinschaft für die frühen Christen war. Wie passt das zusammen?
Und es könnte sein, dass demnächst noch ein Argument dazukommt: wenn sich nämlich herumspricht, wie bis Ende der sechziger Jahre auch in kirchlichen Heimen mit vielen Kindern und Jugendlichen umgegangen worden ist, was es da für schrecklichen Druck und Schläge und sexuelle Misshandlung gegeben hat, in vielen Ländern, auch bei uns.
Ein ganz klein wenig davon habe ich miterlebt, als ich in jungen Jahren für ein paar Monate als Gast in einem Heim gelebt habe. Das war schon Anfang der 70er Jahre, da wurde keiner mehr geschlagen, soweit ich es mitgekriegt habe, aber es war eine Atmosphäre voller Verbote und Kontrollen. Der Leiter war so ein Hausmeister-Typ, wie es sie damals oft gab, er war früher bei der Bundeswehr gewesen, und das merkte man auch. Ich aß dort mit im Esssaal, und es war eine ungemütliche, gedrückte Atmosphäre. Ganz anders als sie bei den Mahlzeiten Jesu geherrscht haben muss, wo Freude und Befreiung in der Luft lagen. Ich war froh, als ich da weg war. Aber – am Anfang wurde immer gebetet.
Muss man sich dann wundern, wenn Leute, die nur das erlebt haben, sich auch Gott als so einen Kontrollfreak vorstellen? Muss man sich wundern, wenn Menschen sagen: wenn das Christentum ist, dann können wir gerne darauf verzichten?
Sehen Sie, die frühen Christen fragten sich: wenn wir in einer Organisation, auf der »Gott« drauf steht, keinen Platz haben, wie kann das sein? Und heute sagen Menschen: wenn in einer Organisation, auf der »Jesus« draufsteht, so viel nicht jesusmäßiges drin ist, wie kann das sein?
Und nun muss man dazu sagen, dass es leider das normalste von der Welt ist, wenn einer wie Jesus rausgedrängt oder getötet wird. Der bringt einfach zu viel Unruhe, der bedroht zu viele Erbhöfe und Privilegien und Selbstverständlichkeiten, und Menschen, die vom echten Gott keine Ahnung haben, werden das immer als Bedrohung erleben. Und genauso ist es normal in der Welt, dass die Mächtigen die Religion für ihre Zwecke einspannen und mit angeblich göttlichem Beistand in ihre Kriege ziehen und sich von Priestern bestätigen lassen, dass sie in Gottes Namen handeln. Das ist überall so. Wie soll ich denn Menschen dazu bringen, für mich im Kampf ihre Knochen hinzuhalten oder sich selbst in die Luft zu sprengen, wenn ich ihnen dafür nicht irgendeine Belohnung im Paradies anbieten kann? Religion wird natürlich benutzt im Machtspiel, Religion wird benutzt, um auf Kosten anderer zu leben, Religion wird benutzt, um Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Das ist scheußlich, aber es ist normal und eigentlich ziemlich gewöhnlich und uninteressant. So ein Impuls wie der von Jesus wird entweder plattgemacht oder umgebogen, entschärft und integriert. Sollen wir uns darüber wundern oder gar aufregen? So geht es eben in der Welt zu. Das ist schlecht und manchmal katastrophal, aber es ist normal. Da sollte man sich nicht drüber wundern.
Aber es gibt etwas, was es wirklich lohnt, dass wir uns darüber wundern und darüber nachdenken: und das ist dieser Impuls Jesu, der trotz allem nicht totzukriegen ist. Was ist das eigentlich, was so viel Feindschaft und Ablehnung hervorruft, so viel Bemühungen, es umzubiegen und zu verharmlosen, und das trotzdem nicht totzukriegen ist? Das ist die eigentlich interessante Frage. Wieso bringt das Christentum auch nach so vielen Jahrhunderten der Unterdrückung und Verharmlosung immer noch Menschen hervor, die sich nicht einschüchtern lassen, auf Privilegien und Sicherheiten pfeifen und stattdessen unbedingt den echten Jesus haben wollen? Die Harzer Bergleute, die allen Drohungen und Winkelzügen der Theologen widerstanden haben und sich ihre Bibelstunden nicht wollten nehmen lassen – was war es, das ihnen so viel wert war? Oder Christen, die sich mit großem persönlichen Risiko gegen die Hexenprozesse gestellt haben. Die englischen Christen, die 40 Jahre lang einen scheinbar hoffnungslosen Kampf gegen den Sklavenhandel geführt haben – was ließ sie durchhalten? Christen wie Dietrich Bonhoeffer, die Hitler widerstanden haben – was war es, das ihm so viel wert war, dass er sich dafür in Lebensgefahr begeben hat? Martin Luther King, der vor 50 Jahren in Amerika für die Rechte der Schwarzen gekämpft hat und immer wieder im Gefängnis war und am Ende ermordet wurde – warum hat er nicht ein bequemeres Leben gewählt? Das sind die wirklich interessanten Fragen.
Erklärungsbedürftig sind nicht die Irrwege der Kirchengeschichte, sondern warum dieser Impuls Jesu auch nach so viel Verfälschung und Unterdrückung immer noch nicht tot ist. Und – ganz im Ernst – wofür lohnt es sich denn, etwas zu investieren und zu opfern und sich einzusetzen, wenn nicht für diesen Impuls Jesu? Der ist das wirklich Interessante. Alles andere ist doch so was von öde.
Na klar, auch zu Jesu Zeiten gab es Leute, die stolz darauf waren, irgendwo einen mehr oder weniger bedeutenden Posten zu bekleiden und meinten, das wäre das Höchste im Leben. Aber Jesus sagt nur: das liegt daran, dass sie keine Ahnung haben. Die wissen einfach nicht, dass es was viel Besseres gibt. Deshalb lasst euch nicht von denen irre machen!
Und wenn jetzt einer sagt: aber wem soll man denn nun glauben? Wenn Gewalt und Täuschung in der Welt wirklich normal sind, kann ich dann überhaupt noch irgendwas glauben? Wer kann mir dann überhaupt noch sagen, was richtig ist?
Und deshalb fängt Jesus seine Worte so an, dass er den Jüngern den Heiligen Geist verspricht. Verstehen Sie, es gibt überhaupt keine menschliche Instanz, auf die wir uns 100%ig verlassen könnten. Es gibt zwar durchaus vertrauenswürdige Instanzen, aber letztlich muss ich immer prüfen, ob die sich nicht irren. Es gibt auch keine wirklich richtige Prüfungsmethode, obwohl da manches bedenkenswert ist.
Aber es gibt immer wieder Dinge, die ich einfach weiß. Dass Jesus und Krieg z.B. nicht zusammenpassen, das haben die Menschen im Grunde immer gewusst, wenn sie nur ein wenig Ahnung von Jesus hatten. Da haben sie auch die raffiniertesten Tricks der Theologen nie wirklich überzeugt. Eigentlich kann sich keiner Jesus vorstellen, wie er ein Maschinengewehr in die Hand nimmt und auf Leute schießt, oder wie er irgendjemanden auf eine Pritsche schnallt und foltert. Wahrscheinlich gibt es irgendwo auch Leute, die so was glauben, aber eigentlich wissen wir einfach, dass das nicht geht. Das heißt nicht, dass Menschen davon schon selbst friedlich würden, aber es gibt fast bei allen Menschen ein gewisses Gespür dafür, was der echte Jesus ist.
Und je mehr du dich mit Jesus beschäftigst, um so deutlicher tritt seine Gestalt hervor. Das heißt nicht, dass man das anderen jetzt vorschreiben könnte. Das heißt nicht, dass man jetzt sagen könnte: »ich bin traurig und böse, dass du nicht tust, was Gott dir durch mich sagt.« Man kann auch nicht sagen: »Gott hat mir gezeigt, dass wir zusammengehören, und deshalb musst du mich heiraten:« Oder etwas anderes dergleichen. Es geht nur darum, uns selbst sicher zu machen. Und dazu sendet Jesus uns den Heiligen Geist. Der wird in uns manchmal richtige Klarheit bewirken und manchmal nur eine ungefähre Richtung. Als ich damals in diesem Heim gelebt habe, da habe ich einfach gewusst: Gott ist nicht wie dieser Heimleiter. Ich hätte es damals vielleicht nicht wirklich begründen können, aber ich wusste es. Der konnte mich wirklich nicht dazu bringen, an Jesus irre zu werden.
Klar, es gibt andere Fälle, wo das nicht so einfach ist. Und ich hatte den Vorteil, dass ich natürlich schon vorher anderes von Jesus gehört hatte. Meine Geschichte eignet sich nicht als Paradebeispiel. Aber es geht mir um das Prinzip dahinter: dass der Heilige Geist uns durch alle Irrungen und Wirrungen hindurch immer wieder Sicherheit gibt, wenigstens für uns selbst. Dass der Heilige Geist trotz allem immer wieder Menschen für Jesus und seinen Weg begeistert. Er ist es, der in all den Jahren der Kirchengeschichte dafür gesorgt hat, dass Menschen trotzdem immer wieder wussten, wie der echte Jesus ist. Sie waren fehlerhafte Menschen, auch ihre Erkenntnis von Jesus war begrenzt, aber sie haben sich von ihm rufen lassen und haben Risiken und Mühen und Gefahren auf sich genommen, um ihm zu folgen.
Das ist das wirklich Bemerkenswerte. Darüber lohnt es sich, nachzudenken. Das ist es, woran wir interessiert sein sollten. Das ist es, was bleibt, wenn die Herren dieser Welt gegangen sind.