Das Leben Jesu geht weiter
Predigt am 31. Dezember 2007 (Silvester) zur Jahreslosung 2008, Johannes 14,19
Jesus Christus spricht: Ich lebe und ihr sollt auch leben.
Als ich nachschaute, in welchem Zusammenhang denn diese Jahreslosung steht, da stutzte ich doch erst mal für einen Moment. Denn sie gehört zu den Worten Jesu am letzten Abend vor seiner Kreuzigung, als er noch einmal mit seinen Jüngern spricht und ihnen zum Schluss noch mal das Wichtigste sagt für die schwere Zeit, wenn er tot sein wird. Gehen wir also auf ein schweres Jahr zu und sollen noch einmal dafür aufgebaut werden?
Aber man muss sich ja nicht immer dramatische Sachen vorstellen. Auch für das normale Leben kann man Aufbauendes brauchen. Und außerdem überlässt es Jesus nicht dem Schicksal oder irgendwelchen finsteren Mächten, aus einem Jahr etwas Dramatisches oder Bedeutendes zu machen. Was er an manchmal zunächst unauffälligen Dingen anstößt, das ist viel wichtiger als manches große Ereignis, an das sich bald keiner mehr erinnert.
Schauen wir also, worum es geht: kurz vor seiner Kreuzigung bereitet Jesus die Jünger darauf vor, dass ihnen jetzt eine dunkle Zeit bevorsteht, aber er macht ganz deutlich, dass es danach weitergehen wird. »Schon bald wird die Welt mich nicht mehr sehen, aber ich lebe, und deshalb werdet auch ihr leben«.
Leben ist hier natürlich ein ganz gefülltes Wort: Jesus redet vom eigentlichen Leben, das seinen Ursprung in Gott hat, und das Gott weitergegeben hat, als er die Welt schuf. Leben im Sinn von Fülle und Überfluss, so wie wir es manchmal ahnen in den Augenblicken voller Freude und Glück oder Schönheit und Freiheit. Da erinnern wir uns wieder daran, was Leben eigentlich noch alles sein könnte. Es ist eben ganz viel verloren gegangen, seit Menschen sich von Gott abgewandt haben und damit nicht nur sich selbst beschädigt und reduziert haben, sondern auch die ganze Schöpfung mit.
Von diesem vollen Leben spricht Jesus, nicht von dem reinen überleben und vegetieren. Stellen Sie sich die Hühner in einer Legebatterie vor: natürlich leben die, es wird sogar viel dafür getan, dass sie nur nicht vorzeitig sterben oder krank werden, alle Keime werden so weit es geht von ihnen ferngehalten – aber ist das wirkliches Leben, wenn es auf ein paar Quadratzentimetern eingesperrt wird und eingebaut wird in eine völlig fremdbestimmte Maschinerie? Und natürlich kaufen die Leute die Eier, weil sie schön billig sind, aber wenn der Preis keine Rolle spielen würde und wir uns zwischen zwei Eiern entscheiden könnten, dann würden wir natürlich das Ei vom Hühnerhof nehmen und nicht das aus der Legebatterie. Natürlich bringt ein reiches Leben, das sich entfalten kann, bessere Dinge hervor als ein ödes, tristes Einerlei, auch wenn die Hygienestandards gewahrt sind.
Aber wir reden von Menschen, nicht von Hühnern, und was ein reiches, freies, volles Leben für Menschen bedeutet, das kann man an Jesus ablesen. Das Leben eines wahrhaft freien Menschen, der um sich herum so viel ansteckende Gesundheit verbreitete, in jeder Hinsicht, geistlich, körperlich, intellektuell, politisch, moralisch, sozial – so viel Klarheit, so viel Hoffnung, und sie kamen alle, um davon etwas abzubekommen. Nun gut, nicht alle. Einige zogen ihr bisheriges Leben vor. Aber viele ließen alles hinter sich, um mit ihm zusammen zu sein. Es war einfach viel besser als das, was sie bis dahin kannten.
Und dann kam immer wieder der Versuch, dieses neue Leben Jesu einzufangen, es einzubauen in die Kästen und Begrenzungen und Regeln der Gesellschaft, so wie man eben versucht, Hühner in die Legebatterie zu sperren, damit sie möglichst billig funktionieren und Eier legen. Und bei Jesus hat so etwas nie geklappt, sondern sein Leben war stärker als die ganzen Begrenzungen, in die man versucht hat, ihn einzufangen. Und deswegen haben sie dann schließlich beschlossen ihn zu beseitigen. Aber er sagt seinen Jüngern: ich lebe. Keine Sorge, mein Leben geht weiter. Mein Leben ist nicht zu kontrollieren.
Man kann einen Moment mal überlegen, warum das so ist. Ich denke, uns können sie immer wieder in irgendwelche Käfige sperren, uns können sie immer wieder kontrollieren und entmutigen, weil wir eben nur dieses reduzierte Leben kennengelernt haben, das so weit weg ist von Gott, dem Ursprung des Lebens. Und darum ist unser Liebe zum Leben nicht stark genug, unser Gespür ist nicht klar genug, so dass wir uns zu leicht einfangen lassen.
Jesus kannte aber dieses volle Leben, er verkörperte es, er war so stark damit verbunden, dass man ihn nicht davon trennen konnte, niemals, auch nicht für einen Augenblick. Deswegen ging er in keine Falle. Und deswegen konnte ihn auch der Tod nicht festhalten.
Und das heißt, er wird auferstehen, und er wird auch in Zukunft seine Jünger mit diesem unwiderstehlichen Leben versorgen, das sie bisher schon an ihm kennengelernt haben.
Das ist nämlich jetzt der zweite Teil des Verses: »und ihr sollt auch leben«. Gemeint ist nicht: ja, wir leben dann beide, ihr genauso wie ich, sondern gemeint ist: weil ich lebe, deshalb werdet auch ihr weiterhin dieses volle, ganze Leben von mir bekommen. So wie ich euch zu meinen Erdenzeiten angeleitet, inspiriert und lebendig gemacht habe, so soll es auch in Zukunft sein. Und wenn ihr dann eines Tages dem Tod begegnen müsst, dann werde ich euch auch da fest an der Hand halten.
Und dann redet Jesus vom Heiligen Geist und von seinen Geboten und von dieser Einheit, die dadurch aufrecht erhalten werden soll. Das sind die Wege, durch die er das macht. Aber entscheidend ist das Ziel: Sein Leben, durch das er hier auf der Erde so viel bewegt hat, das wird sich im Leben seiner Jünger fortsetzen.
Und hier reißt er ihnen schon mal den Horizont auf, damit sie nicht weniger erwarten. Er schraubt ihre und unsere Hoffnungen hoch, damit wir nicht glauben, uns bliebe keine andere Wahl, als uns in die jeweiligen Legebatterien einzufügen. Was Leben ist, das wird fortan daran gemessen, wie Jesus gelebt hat. Es ist ein Leben, das sich nicht mehr einfangen lässt, und das auch vom Tod nicht eingeschüchtert wird.
Unter keinen Umständen sollen wir uns diese Hoffnung wegnehmen lassen. Wir sollen uns auch keinen billige Ersatz andrehen lassen. Überall kriegen wir heute Künstliches und Nachgemachtes, selbst unsere Gefühle werden geformt von Bildern, Zeitschriften und Fernsehserien. Viel zu wenig vertrauen wir unserem eigenen Gespür. Es geht schneller, irgendwo ein Klischee zu übernehmen, als Stück für Stück herauszufinden, wer eigentlich wir selbst sind, was uns gut tut und was wir einzubringen haben an unverwechselbar Eigenem.
So wird auch das Leben, das Jesus bringt, bei jedem von uns wieder etwas anders aussehen. Jesus gibt uns nicht Erlebnisse von der Stange, es geht nicht darum, die korrekten Formulierungen zu lernen, sondern was er uns bringt, das ist ganz und gar sein Leben, von ihm her bewegt und geformt – und genauso ist es unser unverwechselbares Leben, zu dieser Zeit in diesem Land mit diesem einmaligen Lebenslauf und dieser einmaligen Kombination von Erfahrungen. Er nimmt uns nichts weg, er reduziert nicht den Reichtum der ganz persönlichen Umstände, aber er stellt es alles in sein Licht, so dass sichtbar wird, was Gott sich gedacht hat, als er genau uns schuf.
Man hat Jesus nur ganz selten Denkmäler gesetzt. Das macht man für Tote. Aber für ihn gibt es Versammlungsräume, in denen sich Leben abspielt. Denn er ist der Lebendige. Dafür gibt es gute Argumente, auch rein historisch kann man darlegen, weshalb mit ihm etwas ganz Ungewöhnliches passiert sein muss und die Rede von der Auferstehung nicht irgendein ausgedachter Mythos ist. Aber all diese vernünftigen Argumente werden nur sehr selten Menschen gewinnen. Erst da, wo Menschen dem Leben begegnen, das in den Jüngern Jesu weitergeht, da wird ihr bisheriges Leben in Frage gestellt, weil es dann zu einer realen Möglichkeit für sie selbst und ihr ganz eigenes Leben wird. Da bekommen sie eine Ahnung davon, was wirkliches Leben ist. Da breitet sich heilige Unzufriedenheit aus, und sie sehen die Gitterstäbe des Gefängnisses, die ihnen schon gar nicht mehr aufgefallen waren.
»Ich lebe und ihr sollt auch leben« – das ist ein Versprechen, das von sich aus ein Jahr zu etwas Besonderem macht, egal, ob es ein schweres oder ein normales Jahr ist. Es hat schon soviel bewegt in der Welt – bei uns hat es auch gute Chancen.