Inspirierte Gemeinschaft gegen die Pilatus-Welt
Predigt am 13. Mai 2018 mit Johannes 14,15-19
Jesus sprach zu seinen Jüngern: 15 Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten. 16 Und ich werde den Vater bitten und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll, 17 den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt. Ihr aber kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird. 18 Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen, ich komme zu euch. 19 Nur noch kurze Zeit und die Welt sieht mich nicht mehr; ihr aber seht mich, weil ich lebe und auch ihr leben werdet.
Das sagt Jesus im Johannesevangelium in der Nacht vor seinem Tod. Während die anderen Evangelien davon erzählen, wie Jesus als letzten Willen seinen Jüngern das Abendmahl hinterlässt, erzählt Johannes, wie er seinen Jüngern die Füße wäscht. Damit fängt der Abend an. Und um dieses Zeichen der Fußwaschung kreisen dann die weiteren Gespräche.
Anderen die Füße zu waschen war damals eine niedrige Sklavenarbeit. Mit den Füßen ist man schließlich auf der Straße rumgelaufen, wo sich der ganze Dreck und der Kot von Menschen und Tieren sich sammelt. Bis heute gilt in den vorderasiatischen Kulturen alles als besonders niedrig, was mit Schuhen und Füßen zu tun hat. In Syrien hängen die Soldaten des Regimes Militärstiefel an Stangen und halten sie über die Busse, wenn Menschen aus irgendeinem umkämpften Gebiet abtransportiert werden. Das ist ein demütigendes Zeichen dafür, dass sie verloren haben und jetzt wieder unter den Stiefel der Militärs zurück müssen.
Eine hierarchiefreie Gemeinschaft
Im Israel der Zeit Jesu war noch nicht mal ein jüdischer Sklave verpflichtet, seinem Herrn die Füße zu waschen. Und genau diese Arbeit sucht sich Jesus aus, und er konterkariert damit die Vorstellung, dass der Chef von solchen dreckigen Arbeiten befreit ist. Normalerweise ist es ein Statussymbol, wenn man das nicht mehr machen muss. Wer das hinter sich hat, der ist in der Hierarchie schon ein Stück aufgestiegen. Im christlichen Umfeld kann man das aber nie ungebrochen durchhalten, weil Jesus das untergraben hat. Christliche Chefs müssen mindestens so tun, als ob sie ihren Untergebenen dienen. Auch der Papst wäscht an Gründonnerstag Menschen die Füße, traditionell den Kardinälen, aber Papst Franziskus wäscht Strafgefangenen die Füße, womit dieses Symbol erst so richtig Kraft bekommt.
Jesus selbst deutet dieses Symbol und sagt: wie ich mich für euch alle zum Sklaven gemacht habe, so sollt ihr euch auch untereinander die Füße waschen und damit Einer zum Sklaven des Anderen werden. Wenn aber alle Sklaven sind, dann ist es keiner mehr.
Dieser Gedanke einer hierarchielosen Gemeinschaft findet sich in allen Traditionssträngen des Neuen Testaments. Das ist einer der stärksten und deutlichsten Impulse, die Jesus immer wieder gesetzt hat: die Absage an eine patriarchalische Ordnung, wo die Väter das Sagen haben. »So ist es unter euch nicht« hat er den Jüngern eingeschärft, und so hat er seine Gemeinde angelegt als Gemeinschaft von Brüdern, die nicht von einem Vater regiert werden. Und heute ist uns deutlich, dass dazu auch die Schwestern gehören, die auch nicht mehr unter der Fuchtel der jeweils ältesten Mutter stehen.
Beistand für eine Gemeinschaft unter Druck
Das stärkste Symbolbild dafür ist immer noch Jesus, wie er freiwillig die Dreckarbeit annimmt und seinen Jüngern die Füße wäscht. Und es ist kein Zufall, dass sich dieses Bild gerade im Johannesevangelium findet, weil Johannes anscheinend zu einer Gruppe gehört hat, die extrem isoliert war. Die waren eine kleine jüdische Zelle in einem jüdischen Umfeld, das sie ablehnte. Sie standen enorm unter Druck, sowohl vom römischen Imperium als auch von der Seite der jüdischen Offiziellen, die sich mit dem Imperium arrangiert hatten.
Und in dieser Lage hören sie nun durch Johannes, wie Jesus ihnen sagt: ich sende euch den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht kennt und deshalb auch nicht empfangen kann. Mit Welt ist hier nicht die gute Schöpfung Gottes gemeint, sondern die Weltordnung, das römische Gewaltsystem, das alles infiltriert und den Menschen einbläut, dass man aufsteigen muss, Karriere machen muss, Macht über andere haben muss. So zerstört es den Zusammenhalt der Menschen, ihre Solidarität miteinander, und spielt alle gegen alle aus. Die »Welt« im Sinne des Johannes ist das genaue Gegenteil von der Gemeinschaft, die Jesus im Sinn hatte.
Johannes sagt also: an seinem letzten Abend hat Jesus die Weichen gestellt für eine alternative Gemeinschaft, die von gegenseitiger Liebe und der Abwesenheit von Herrschaft geprägt ist. Und damit die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu das auch durchhalten können in einer Umgebung, die ganz anders funktioniert, dafür sendet er ihnen den Heiligen Geist, den Geist der Wahrheit.
Was ist Wahrheit?
Das ursprüngliche Wort, das wir mit »Wahrheit« übersetzen, kommt vom gleichen Wortstamm wie das Wort »Amen«. »Amen« ist ja eine Bestätigung: ja, so soll es sein, das ist gewisslich wahr. Das meine ich ganz ernst. Dabei bleibt es. »Wahrheit« in diesem Sinn geht also in Richtung von Beständigkeit, ja von Treue. Die Wahrheit, von der die christlichen Johannesleute leben, ist die unverbrüchliche Zuwendung Gottes zu seinem Volk. Wenn am nächsten Tag Jesus vor Pilatus stehen wird und ihm sagt: ich spreche von der Wahrheit, also von dem Beständigen, von der Treue, dann wird dieser Funktionär des Imperiums antworten: »Was ist schon Wahrheit?« Wenn man die Macht hat, kann man die Wahrheit drehen und wenden, wie man will. In der Zone der Macht gibt es keine verlässliche Treue, weder zu Menschen, noch zu Grundsätzen, und auch nicht zu Verträgen, wie wir ja jetzt wieder vom amerikanischen Präsidenten deutlich vorgeführt bekommen haben.
Gerade deswegen ist für diese kleinen christlichen Zellen der »Geist der Wahrheit« so wichtig. Sie leben von der unverbrüchlichen Treue Gottes. Ihre einzige Hoffnung ist, dass Gott sein Volk nicht im Stich lässt. Und deshalb sollen sie auch einander nicht im Stich lassen. Die Wahrheit Gottes ist ihre einzige Inspiration. Anders könnten sie es gar nicht durchhalten. Für einen Handlanger der Macht wie Pilatus ist das völlig unzugänglich und undenkbar. Leute wie er sind verschlossen und unempfänglich für den Geist, der diese Gemeinschaften inspiriert. Aber in diesen Gruppen wissen sie, dass das die Kraft ist, durch die sie überleben.
Überleben in Wahrheit
Man kann daran sehen, wie sehr Johannes in der Defensive ist, ganz zurückgedrängt auf den Kern, das Wesentliche. Anscheinend waren die Johannesleute noch weit stärker unter Druck als die Christen sowieso schon. Missionarisch zu sein, oder große Außenwirkung zu erzielen, das ist in seiner Situation gar keine realistische Perspektive. Die sind froh, wenn sie überhaupt als Gruppe einigermaßen überleben. Und ihre einzige Chance ist dieser Geist der Treue und Beständigkeit, der Geist, der die göttliche Wahrheit in die Gemeinschaft bringt und ihr damit ein Widerstandspotential gibt, für das die Pilatus-Ordnung blind ist, weil sie es weder begreift noch für möglich hält. Johannes nennt das oft »Liebe«, aber er meint damit gar nicht die ganzen Emotionen, die für uns in diesem Wort mitschwingen. Bei Johannes bringt Jesus »Liebe« ganz oft mit dem Halten der Gebote zusammen. Es geht nicht darum, welche Gefühle die christlichen Brüder und Schwestern einander entgegenbringen, sondern ob sie bereit sind, einander die Füße zu waschen, füreinander da zu sein, ihre Lebensenergie mit den anderen zu teilen und aneinander festzuhalten. Deswegen ist für uns heute das Wort »Solidarität« die treffendere Übersetzung für das, was Johannes mit dem Wort »Liebe« meint.
Bisher hat Jesus für diesen Zusammenhalt unter seinen Leuten gesorgt. Aber Jesus wird am nächsten Tag sterben, und dann wird die Pilatus-Ordnung natürlich davon ausgehen, dass er ein für allemal erledigt ist. Aber Jesus wird Gott bitten, seinen Leuten einen anderen Helfer zu geben, der in Zukunft sein Werk unter ihnen fortsetzt. Pilatus legt den Fall Jesus ad acta, aber in Wirklichkeit geht es jetzt erst richtig los. Auch wenn die Gruppen, für die Johannes schreibt, ums Überleben kämpfen müssen: in ihnen lebt der Funke einer neuen Welt, die Revolution des Reiches Gottes, und dieser Funke hat das Potential, alles vom Kopf auf die Füße zu stellen und die Welt zurückzuholen in den Gehorsam zu Gott.
Schutz gegen den falschen Glanz
Vielleicht merken Sie, wie weit weg das ist von dem, was Menschen sich landläufig unter Kirchen und Christlichkeit vorstellen. Die einen sagen: ich bin ein anständiger Mensch, weil ich noch keinen umgebracht habe, und deswegen auch ein Christ. Die anderen sagen: ich habe mich immer an die zehn Gebote gehalten! Und dann gibt es noch die Kirche als gesellschaftliche Großorganisation, die Angst bekommt, wenn die Zahlen nach unten gehen und die sich gar nicht vorstellen kann, wie Christentum denn funktionieren kann ohne teuren Verwaltungsapparat, ohne Sitzungen, ohne regelmäßige Einnahmen, und ohne möglichst häufige Präsenz in den Medien.
Solche Vorstellungen sind ziemlich weit weg von dem Bild, das Johannes beschreibt: eine Gemeinschaft von Menschen, wo keiner Macht hat, anderen Lebensenergie zu rauben, wo man aber seine Lebenskraft freiwillig mit anderen teilt. Eine Gruppe von Menschen, die inspiriert ist von dem Bild eines alternativen Miteinanders, das Jesus ihnen hinterlassen hat. Eine Gruppe, die nicht durch die gemeinsame Kultur oder die gesellschaftliche Stellung definiert wird, weder durch Nationalität noch durch Bildung, sondern durch die gemeinsame Hoffnung auf die Treue Gottes, der an seiner Schöpfung und an seinem Volk festhält. Eine Zone der Unabhängigkeit, wo man immun wird gegen die imperiale Propaganda, wo man sich nicht beeindrucken lässt vom falschen Glanz, der von der Ausbeutung fremder Lebenskraft zehrt.
Die Welt braucht inspiriertes Leben
Weltweit betrachtet sind wir hier Menschen auf der Sonnenseite der Welt, auch wenn wir persönlich jeder sein Päckchen zu tragen haben. Aber kaum jemand sonst lebt so sicher wie wir, so geschützt gegen alle möglichen Gefahren. Wir sind alle in Versuchung, uns an eine imperiale Lebensweise zu gewöhnen, die nur auf Kosten anderer möglich ist, auf Kosten der Schöpfung und auf Kosten der Zukunft. Wir sind alle in Versuchung, uns vom imperialen Glanz beeindrucken zu lassen, vom Stil und von der Haltung, denen scheinbar alle nacheifern.
Wir werden uns dem nur dann wirklich entziehen können, wenn wir in solchen inspirierten Gemeinschaften verankert sind wie denen, für die Johannes schreibt. Selbst die muss er immer wieder erinnern an den unglamourösen Jesus, der anderen die stinkenden, verdreckten Füße gewaschen hat. Aber dort, sagt Johannes, ist Gott zu finden, nur dort.
Wir wissen alle nicht, wie die Zukunft aussieht. Aber wir machen uns berechtigte Sorgen. Unsere Welt braucht es dringend, dass es überall solche inspirierten Gemeinschaften gibt, die sich dem Sog von Macht und Glanz entziehen. Aber zuerst brauchen wir selbst es, dass wir das wahre Leben kennen, das in solchen Gemeinschaften zu finden ist. Wir wollen doch nicht so verschlossen und ahnungslos werden wie Pilatus und all die anderen, die nicht über den Tellerrand der imperialen Weltordnung hinaussehen können.