Jesus am Rande der Gesellschaft
Predigt am 4. Februar 2007 zu Johannes 12,35-43
35 Jesus sprach: »Das Licht wird noch kurze Zeit unter euch sein. Geht euren Weg, solange es hell ist, damit die Dunkelheit euch nicht überfällt! Wer im Dunkeln geht, weiß nicht, wohin der Weg führt. 36a Haltet euch an das Licht, solange ihr es habt! Dann werdet ihr Menschen, die ganz vom Licht erfüllt sind.« Nachdem Jesus das gesagt hatte, ging er fort und verbarg sich vor ihnen.
37 Und obwohl er solche Zeichen vor ihren Augen tat, glaubten sie doch nicht an ihn, 38 damit erfüllt werde der Spruch des Propheten Jesaja, den er sagte (Jesaja 53,1): »Herr, wer glaubt unserm Predigen? Und wem ist der Arm des Herrn offenbart?« 39 Darum konnten sie nicht glauben, denn Jesaja hat wiederum gesagt (Jesaja 6,9-10): 40 »Er hat ihre Augen verblendet und ihr Herz verstockt, damit sie nicht etwa mit den Augen sehen und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren und ich ihnen helfe.« 41 Das hat Jesaja gesagt, weil er seine Herrlichkeit sah und redete von ihm. 42 Doch auch von den Oberen glaubten viele an ihn; aber um der Pharisäer willen bekannten sie es nicht, um nicht aus der Synagoge ausgestoßen zu werden. 43 Denn sie hatten lieber Ehre bei den Menschen als Ehre bei Gott.
Das ist der Rückblick des Johannes am Ende der öffentlichen Wirksamkeit Jesu: die Menschen blieben hin und her gerissen, und ihre Skepsis überwog am Ende doch:
Und Jesus geht weg aus der Öffentlichkeit und redet am Ende nur noch zu seinen Jüngern und bereitet sie vor auf die Zeit, wenn er nicht mehr unter ihnen sein wird.
Man kann sich lebhaft vorstellen, wie Johannes den Kopf schüttelt, als er das schreibt und denkt: das ist doch nicht zu glauben! Ein Wunder nach dem andern tut Jesus, zuletzt hat er Lazarus vom Tod erweckt, aber es bewegt sich nichts in den Köpfen, sie bleiben in dieser meckerigen Beobachterhaltung, wo sie an allem rumkritteln und tausend Wenn und Abers haben, aber sie schaffen es nicht, einen eindeutigen Glauben zu entwickeln. Und er erinnert sich an Jesaja, der sechshundert Jahre vorher schon so etwas beschrieben hat:
und er denkt: genau! Jesaja hat von Jesus geredet! Was Jesaja beschreibt, genau das findet sich auch in der Reaktion der Menschen auf Jesus wieder!
Aber die Frage bleibt: wie kommt es, dass Menschen sich nicht festlegen wollen und nicht an das glauben, was eigentlich offensichtlich ist? Und Johannes schreibt eine Erklärung hintendran, als Hinweis, wodurch so etwas kommt:
Darin stecken zwei Einsichten: einmal, das Problem war das Führungspersonal, die gesellschaftlichen Schlüsselpersonen. Die Leute hören auf die, und wenn die nicht mitziehen, dann trauen sich oft die kleinen Leute auch nicht, weil sie auf diese Meinungsmacher schauen und nicht gewohnt sind, auf ihre eigene Urteilskraft zu vertrauen. Diese gesellschaftlichen Schlüsselpersonen waren aber so eingebunden, dass sie sich fürchteten, ihrer Überzeugung Ausdruck zu verleihen. Ihr Problem waren nicht Glaubenszweifel, sondern sie wollten möglichst die Konsequenzen vermeiden, die eine eindeutige Stellungnahme zu Jesus haben konnte.
Das ist eine interessante Sicht auf das Thema Glaubenszweifel. Wir haben uns angewöhnt, die als eine interne Gewissensfrage von Menschen anzusehen, aber vielleicht haben Glaubenszweifel oft mehr damit zu tun, dass jemand nicht herauskommt aus den herrschenden Denkmustern seiner Zeit, und dass da in seinem deshalb Kopf Blockaden sind, weil er auf keinen Fall in Widerspruch kommen möchte zu dem, was »man« so denkt und sagt.
Es ist interessant, diese Geschichte zu vergleichen mit der Geschichte, die wir vorhin in der Lesung gehört haben (Matthäus 9,9-13). Da gibt es nicht dieses unentschlossene Abwarten, sondern als Jesus beim Zöllner Matthäus (im Markusevangelium heißt er Levi) zu Gast war, da strömten die Zöllnerkollegen nur so zusammen, um auch mit dabei zu sein.
Es ist für Jesus anscheinend leichter, die Menschen zu erreichen, die am Rande der Gesellschaft stehen, als die anderen, die fest eingebunden sind in die Organisationen der Gesellschaft. Die Zöllner standen draußen, sie gehörten weder zu den Juden noch zu den Römern, deshalb waren sie fähig zu allem Schlechten, aber auch fähig, sich Jesus anzuschließen und sich auf seine Lebensweise einzulassen.
Und so gründet Jesus seine Gemeinschaft am Rande der Gesellschaft oder außerhalb der Gesellschaft: unter den Zöllnern und Prostituierten und Armen, in Galiläa hinter den sieben Bergen, nicht in der Hauptstadt, und geografisch oft draußen in der freien Natur, wo es keinen Hausherrn gibt, der gegen seine Worte Einwände erheben könnte. Wenn man sich die Evangelien mal daraufhin ansieht, dann stößt man dauernd darauf, dass Jesus in der Wüste war oder in der Einöde oder irgendwo am Seeufer, wo niemand wohnte. Mit seinen Jüngern ist er oft im Boot unterwegs gewesen, wo ihnen nun wirklich keiner zuhören konnte, und seine letzten Worte hat er nur zu seinen Jüngern gesprochen – im Johannesevangelium sind das immerhin die Kapitel 13-16. Er hat seine Jünger bewusst herausgelöst aus ihren sozialen Bindungen, damit sie unabhängig wurden. Und dann erlebten sie eine Gemeinschaft, von der sie vorher nichts geahnt hatten.
Anscheinend kann die Gemeinschaft Jesu nur so existieren, dass sie sich ein Stück weit außerhalb der Gesellschaft ansiedelt. Nur da kann sie auf ihre eigene Weise leben, ohne dass gleich wieder jemand kommt und sagt: das ist doch nicht erlaubt, was ihr hier tut!
Das Interessante dabei ist: gerade diese Gemeinschaft, die sich am Rand der Gesellschaft ansiedelt, hat einen riesigen Einfluss auf die Gesellschaft ausgeübt, ja, auf die ganze Menschheit. Es geht also nicht um irgendwelche weltfernen Mönche in einem Wüstenkloster – die gab es auch damals schon – sondern um eine Gruppe, die sich bewusst außerhalb der gesellschaftlichen Muster bewegt, um auf diese Weise frei zu sein für den Einfluss Gottes. Und so kann sie der Gesellschaft Dinge sagen, die sonst niemand sagen kann.
Wenn wir von der Gemeinschaft Jesu sprechen, dann fällt uns bei diesem Wort »Gemeinschaft« zunächst ein sicherer, freundlicher, warmer Platz ein, wo wir von guten Menschen angenommen und versorgt werden. Und das alles hat es ja tatsächlich bei Jesus gegeben. Aber wir vergessen oft, dass diese Gemeinschaft nur entstehen konnte außerhalb der normalen gesellschaftlichen Situation. Jede Gesellschaft und jede Organisation hat ihre eigenen Denkmuster und Gebräuche, gegen die man nicht ankommt, und die verhindern oft gerade so eine Gemeinschaft, wie wir sie uns so sehr wünschen.
Wir werden deshalb diese Gemeinschaft nur bekommen, wenn wir Jesus folgen an die Ränder der Gesellschaft, dahin, wo niemand mehr ist, der sagt, wie man sich verhalten soll, was man tun und glauben darf und was nicht. So hat Jesus die Gruppe seiner Jünger aufgebaut, und sie haben die Kraft einer Gemeinschaft erlebt, die keiner vergisst, der das jemals auch nur in Ansätzen erlebt hat. Wenn wir im Neuen Testament lesen von der Gemeinschaft, die z.B. Paulus und seine Mitarbeiter verbunden hat, wo einer für den anderen sein Leben riskiert hat, und wo sie alle erschüttert und traurig waren, als sie erfuhren, dass Paulus der Gefangenschaft und wahrscheinlich dem Tod entgegengehen würde, das ist eine Art von Gemeinschaft, die sich nur entwickelt, wenn man gemeinsam in diesen Grenzsituationen lebt, außerhalb der normalen Art zu leben, als Gruppe von Menschen, die miteinander verbunden ist durch eine Mission, wie sie die anderen nicht kennen.
Ein bisschen davon erleben Menschen auch heute immer noch, wenn sie zu christlichen Kongressen fahren, zum Kirchentag, oder wenn sie auf dem Jakobsweg in Spanien pilgern, auf Seminaren weg von zu Hause oder, wenn es gut geht, auch auf Jugend- und Konfirmandenfreizeiten.
Überall diese Situation der Unabhängigkeit, wo die normalen Regeln ihre Kraft verlieren und wir offener dafür sind, auf Gott zu hören und neue Dinge zu denken. Und wenn man das gemeinsam macht, dann entsteht da Gemeinschaft von einer Art, die sonst nirgendwo zu finden und zu erleben ist. Aber man kann nicht beides haben, diese Gemeinschaft bekommen und im normalen Alltag verhaftet bleiben.
Diese Sondersituationen voller Unabhängigkeit und intensiven Erlebens, die gehen ja meistens über eine begrenzte zeitliche Dauer. Aber Jesus hat das als die Normalsituation für seine Leute vorgesehen. Die Gemeinschaft Jesu kommt nicht irgendwann wieder zurück in die Normalität, so nach dem Motto: irgendwann muss man ja wieder vernünftig werden, sondern für die Gemeinschaft Jesu ist es normal, so am Rande zu leben. Die Christen nach Jesus haben das drei Jahrhunderte durchgehalten und haben dabei ein atemberaubendes Wachstum erlebt. Ganz ähnlich die chinesische Christenheit: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die von 5 Millionen auf wahrscheinlich 70 oder 100 Millionen gewachsen, genau weiß man das nicht. Sie sind verfolgt und ausgegrenzt worden, sie leben im Verborgenen in einer immer noch ziemlich totalitären Gesellschaft, aber sie wachsen. Im Augenblick bereiten sie sich darauf vor, Missionare in die islamische Welt auszusenden, und sie sagen: wir haben den Kommunismus überlebt, wir haben gelernt, im gesellschaftlichen Niemandsland zu leben, wir werden uns auch in islamischen Gesellschaften zurechtfinden.
In der christlichen Gemeinde geht es um solche Grenzerfahrungen nicht irgendwo in der Fremde, sondern, was noch einmal schwieriger ist, mitten im Leben. Mitten im Leben soll es eine Gemeinschaft geben, die nicht nach den Regeln, die sonst gelten, funktioniert. Eine unabhängige Gemeinschaft, in der man auf Gott hören kann, auch gegen das, was sonst überall gilt.
Anders ist das nicht zu haben. Wenn wir noch einmal an die Jesajaworte denken, die Johannes zitiert, an denen hat mich immer irritiert, dass es so klingt, als ob Gott gar nicht wolle, dass die Menschen umkehren:
heißt es da. Inzwischen denke ich, dass es in gewissem Sinn wirklich so gemeint ist: Gott will nicht, dass Menschen, die voll im Mainstream stecken, ihn verstehen können. Das kann nicht gehen: einerseits denken wie alle und mit der großen Herde laufen, andererseits die Geheimnisse Gottes durchschauen und auch noch die Freude der Gemeinschaft am Rande ernten. Das passt nicht zusammen. Und es darf auch nicht zusammenpassen, weil die Christen sonst der Gesellschaft nicht mehr sagen könnten, was sie unbedingt hören muss. Wenn wir denken und leben wie alle, was haben wir dann noch Neues zu sagen? Wir können dann nicht mehr Licht der Welt und Salz der Erde sein.
Aber die Gesellschaft braucht dringend viele Menschen, die unabhängig sind von den kontrollierten Denk- und Verhaltensmustern. Ich möchte es kurz mit zwei Meldungen aus der vergangenen Woche illustrieren:
- die Uno hat eine neue Klimastudie herausgebracht, in der eigentlich nichts wirklich Neues drinsteht über den Klimawandel. Aber es ist jetzt ganz klar, dass wir auf eine epochale Erwärmung der Erde zugehen, die zu dramatischen Umweltschäden führen wird. Die Stürme und Katastrophen, die heißen Sommer und die warmen, regnerischen Winter, die wir jetzt erleben, die sind tatsächlich ein Vorgeschmack von dem, was kommen wird. Der Meeresspiegel wird steigen und die Wüsten werden wachsen. Und es gibt jetzt keinen vernünftigen Zweifel mehr daran, dass das von Menschen produziert ist durch den Ausstoß von Schadstoffen in die Atmosphäre.
- In derselben Woche verspricht unsere Bundeskanzlerin, dass sie mit aller Kraft kämpfen wird – etwa für das Abwenden dieser Katastrophe? Nein, sie wird dagegen kämpfen, dass die Europäische Union strengere Klimaschutzauflagen für Autos erlässt: Auf einem Kongress deutscher Industrieverbände in Berlin richtete Angela Merkel (CDU) am Dienstag deutliche Drohungen an Brüssel. Die Bundesregierung werde „verhindern, dass es eine generelle Reduktion gibt“, sagte sie. Merkel kündigte an, für dieses Anliegen „mit aller Härte“ zu kämpfen.
Damit bezieht die Kanzlerin und EU-Ratspräsidentin Position in einem Streit, der seit Tagen sowohl in Brüssel als auch im Bundeskabinett ausgetragen wird. EU-Umweltkommissar Stavros Dimas will die europäische Auto-Industrie mit gesetzlichen Vorgaben zwingen, den durchschnittlichen CO2-Ausstoß von Neuwagen bis zum Jahr 2012 auf 120 Gramm pro Kilometer zu senken. Derzeit liegt der Wert deutlich über der Obergrenze von 140 Gramm, zu deren Einhaltung sich die Branche bis zum Jahr 2008 verpflichtet hat.
(Frankfurter Rundschau vom 31.1.2007)
Dazu hören wir noch einmal Jesus:
Hoffnung ist nur jenseits dessen, was die gesellschaftlichen Schlüsselpersonen denken und propagieren. Wo sind die Menschen, die dauerhaft am Rande der Gesellschaft leben, auf Gott hören und frei sind von den Scheuklappen des Mainstream-Denkens? Sie sind überlebenswichtig für die ganze Menschheit.