Zustände, die Opfer fordern
Predigt am 18. März 2018 zu Johannes 11,47-53
47 Da beriefen die Hohepriester und die Pharisäer eine Versammlung des Hohen Rates ein. Sie sagten: Was sollen wir tun? Dieser Mensch tut viele Zeichen. 48 Wenn wir ihn gewähren lassen, werden alle an ihn glauben. Dann werden die Römer kommen und uns die heilige Stätte und das Volk nehmen.
49 Einer von ihnen, Kajaphas, der Hohepriester jenes Jahres, sagte zu ihnen: Ihr versteht nichts. 50 Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.
51 Das sagte er nicht aus sich selbst; sondern weil er der Hohepriester jenes Jahres war, sagte er aus prophetischer Eingebung, dass Jesus für das Volk sterben werde. 52 Aber er sollte nicht nur für das Volk sterben, sondern auch, um die versprengten Kinder Gottes wieder zu sammeln. 53 Von diesem Tag an waren sie entschlossen, ihn zu töten.
Hier schauen wir hinein in den inneren Zirkel der Macht und können der Meinungsbildung kurz vor dem Beschluss zur Beseitigung Jesu zuschauen. Irgendwer aus dieser Gruppe hat sich später nicht an seine Schweigeverpflichtung gehalten und den Jüngern Jesu erzählt, welche Überlegungen und Diskussionen in den herrschenden Kreisen diesem Beschluss vorangingen.
Vielleicht war es Nikodemus, der heimlich zu Jesus kam, um mit ihm zu diskutieren; vielleicht Joseph von Arimathia, der später sein eigenes Grab zur Bestattung von Jesus zur Verfügung stellte. Vielleicht war es auch Gamaliel, der große Rabbi, der später seinem Schüler Paulus davon erzählt haben könnte. Jesus hatte viele Sympathisanten auch in den höchsten Kreisen. Das sind ja nicht alles skrupellose Machtmenschen gewesen, sondern es gab Leute dabei, die es ehrlich meinten mit ihrem Glauben an Gott und ihrem Wunsch, etwas für ihr Volk zu erreichen.
Man kann vermuten, dass manchen sogar die skrupellosen Machtmenschen wie Kaiphas höchst unsympathisch waren. Sonst müsste Kaiphas sich nicht so ins Zeug legen und seine Vorstandskollegen zusammenfalten nach dem Motto: ihr ahnungslosen Idealisten, ihr bildet euch ein, ihr könntet in dieser schmutzigen Welt saubere Hände behalten! Was glaubt ihr denn, wie ich mich all die Jahre oben gehalten habe? Ihr könnt mir dankbar sein, dass ich immer für euch den Bluthund gemacht habe. Ihr konntet euch doch bloß als Gutmenschen fühlen, weil Leute wie ich im Hintergrund die Dreckarbeit erledigt haben.
Machtmensch Kaiphas
Bis heute, nach 2000 Jahren, spürt man in den Worten, die Johannes da überliefert, immer noch die Wut des Machtmenschen Kaiphas auf diese ahnungslosen Kleingeister, die ihm mit ihrer Unentschlossenheit und ihren moralischen Skrupeln das Leben schwer machen, statt einfach zu sehen, was jetzt getan werden muss. Kaum gibt es mal Probleme, schon haben die die Hose voll und gackern durcheinander wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen. Da muss man einfach mal mit der Faust auf den Tisch hauen und an die Realität erinnern!
Gleichzeitig gestaltet Johannes die Schilderung der Diskussion so, dass deutlich wird: alle im Gremium werden nicht einfach von der verantwortungsvollen Sorge um das Schicksal des Volkes umgetrieben, sondern viel mehr noch von der Sorge um ihre Position.
Und die war ja nicht unberechtigt. Die Römer herrschten gerne indirekt durch die örtlichen Führungsfiguren, aber wenn die nicht für Ruhe sorgten, dann konnten sie auch sehr schnell weg vom Fenster sein. Und da erscheint einer wie Jesus als Gefahr, weil er die Machtbalance aus dem Gleichgewicht bringt. Die Mitglieder des Hohen Rats haben sich ja nicht auf subtile theologische Diskussionen eingelassen; sie haben überhaupt nicht damit gerechnet, dass hier ein Faktor ins Spiel kommen könnte, der die normalen Regeln der Macht unterläuft. Aus ihrer Sicht war die Gleichung einfach: Jesus bedeutet Unruhe im Volk, das bedeutet die konkrete Gefahr einer römischen militärischen Intervention, und die wiederum bedeutet ein Blutbad und Machtverlust für sie selbst, vielleicht sogar Schlimmeres. Die Macht ist nicht tolerant, auch nicht gegenüber ihren Dienern, wenn sie versagen.
Bauchschmerzen oder Gründe?
Das wissen alle in dem Gremium, und Kaiphas zählt ihnen nur ein und eins zusammen, wenn er sagt: Jesus muss weg. Moralische Zweifel sind Luxus, Schwäche und Zögern sind feige und tödlich, also reißt euch zusammen. Es ist doch besser, wir opfern den einen, als wir provozieren ein Massaker und die eigene Absetzung.
Dem können sich auch die Wohlmeinenden im Gremium nicht entziehen. Vielleicht haben sie Bauchschmerzen dabei, aber sie haben keine Argumente, mit denen sie Kaiphas entgegentreten könnten, sie haben nichts in der Hand, womit sie die Stimmung irgendwie drehen könnten.
Und wir, aus der Distanz von 2000 Jahren, mit dem Wissen darum, wie es weitergegangen ist, hätten wir bessere Argumente, um den Kaiphassen dieser Welt entgegenzutreten, den Wortführern der Realpolitik? Es geht jetzt nicht darum, dass die in der Regel auch sehr robust und einschüchternd auftreten. Es geht um echte Argumente. Was hätten Nikodemus, Gamaliel und all die ungenannten Jesus-Sympathisanten in dem Gremium denn dem Kaiphas entgegenhalten können?
Die Machtlogik funktioniert nicht
Das stärkste Argument wäre mindestens im Rückblick: die Methode Kaiphas hat nicht funktioniert. 35 Jahre später kam es doch zum jüdischen Krieg, und genau das, was Kaiphas befürchtete, ist eingetreten. Der Tempel wurde zerstört, das Volk niedergemetzelt und vertrieben, die Machteliten kamen um. All diese Machtspiele, die Kaiphas souverän zu beherrschen scheint, die gehen irgendwann mal schief. Man kann den Tiger eine ganze Zeit reiten, aber irgendwann wird man doch gefressen. Manchmal haben die Diktatoren Glück und erleben das nicht mehr, manche sterben tatsächlich im Bett wie Stalin, aber die Widersprüche, die sie gewaltsam gebändigt haben, melden sich dann nach ihrem Tod zurück.
Gerade die Praktiker der Macht, die sich etwas darauf einbilden, Realisten zu sein, gerade die machen sich was vor. Sie halten die Konflikte für einige Zeit trickreich unter Kontrolle, aber irgendwann kommen die Widersprüche um so heftiger zurück. Die Welt ist nun mal so eingerichtet, dass sie mit Gerechtigkeit funktioniert, und wenn Leute das dauernd außer Acht lassen, dann geht das irgendwann schief. Wenn man die gerechte innere Logik der Welt ignoriert, wenn man Menschen immer wieder mit Füßen tritt, richtet man große Zerstörung an. Das trifft zuerst die anderen, aber am Ende richtet es sich auch gegen einen selbst.
Opfer für die Stabilität
Die Logik der Machtmenschen fordert immer neue Opfer. Immer wieder muss einer geopfert werden, damit die anderen weitermachen können wie gehabt. Manchmal muss nur einer sterben, manchmal müssen ganze Völker verschwinden, manchmal müssen Menschen »nur« »den Gürtel enger schnallen«, damit alles stabil bleibt. Aber es ist nicht Gott, der diese Opfer fordert. Es sind Menschen, die das für andere beschließen. Kaiphas spricht das offen aus. Johannes beschreibt das mit Ironie: Kaiphas als Hoher Priester hatte den Job, die Wahrheit auszusprechen, und das hat er tatsächlich getan. Er und seine Gesinnungsgenossen sind es, die andere opfern und das als das kleinere Übel verkaufen.
Deshalb konnte Kaiphas Jesus nur als Bedrohung und Feind sehen. Er konnte nicht sehen, dass Jesus neue Spielregeln brachte. Auch ganz realpolitisch hätte Jesu Weg weniger Opfer gekostet. Hätten die führenden Schichten auf Jesus gehört, dann hätten sie an der Solidarität in ihrer Gesellschaft gearbeitet, sie hätten auf Ausgrenzungen verzichtet, sie hätten die Ungleichheit in der Gesellschaft verringert, und sie hätten genau auf die Energie der Liebe gesetzt, die sie an Jesus so fürchteten. Sie hätten die Grenzen ihres Volkes geöffnet und das Imperium von Innen überwunden, wie das später die Christen getan haben.
Nicht Gott fordert Opfer
Aber die Kaiphasse, die sich in ihrem Denkrahmen schlafwandlerisch zurecht finden, sind blind für Gottes unberechenbares Wirken in seiner Welt. So sind sie verantwortlich für all die Opfer, die am Wegrand der Menschheit verreckt sind. Man weiß nicht, ob es Blindheit oder Berechnung ist, aber unterm Strich tun sie alles, um eine Alternative zu ihrer Logik zu zerstören. Und sie versuchen, alle anderen von ihrer Weltsicht zu überzeugen und sie da hineinzuziehen. Die Dampfwalze Kaiphas bringt auch die Jesus-Sympathisanten im Hohen Rat mindestens zum Schweigen.
Und am Ende sieht es auch noch so aus, als ob Gott es wäre, der Opfer fordern würde, Gott oder die Sachzwänge oder der Welthandel oder wer auch immer. In Wirklichkeit ist es der Kaiphas-Glaube, der die Welt so gefährlich macht, und auch Jesus ist ihm zum Opfer gefallen.
Ein Weg, der dem Opfern ein Ende setzt
Aber an dieser Stelle merkt man, wie Johannes die Opferlogik des Kaiphas gegen den Strich bürstet. Ja, sagt er, Jesus hat tatsächlich durch sein Opfer die Menschen gerettet. Die Kaiphas-Logik und der Weg Jesu, die sind wie zwei Züge, die aufeinander zurasen. In jeder Passionszeit können wir das wieder nachvollziehen, wie es zu einer Kollision mit Ansage kommt zwischen den beiden Logiken, und Jesus stirbt an diesem Zusammenstoß. Aber das ist das einzige Opfer, durch das etwas besser geworden ist. Denn Jesus stirbt zwar an der Verbohrtheit der Kaiphasse dieser Welt, aber damit sind sie enttarnt. Wer Augen hat zu sehen, für den ist ihre Logik nicht mehr einsichtig. Die Jesus-Sympathisanten haben ihr jetzt etwas entgegenzusetzen: der Kaiphas-Weg funktioniert nicht, sondern fordert immer nur neue Opfer. Jesu Weg der Liebe dagegen ist selbst am Tod nicht gescheitert.
Menschen können so zusammenleben, dass nicht immer wieder jemand geopfert werden muss. Für so ein Leben ist die Welt eigentlich eingerichtet. Und man kann damit sogar jetzt schon im Angesicht der Kaiphasse und Imperatoren und Machtmenschen anfangen. Sogar jetzt schon kann man die nationalen und kulturellen und Klassengrenzen überwinden und mit den Menschen guten Willens überall auf der Welt zusammengehören. Überall gibt es die versprengten Kinder Gottes, aber durch Jesus haben sie jetzt ein Zentrum, sie haben ein gemeinsames Ziel, sie haben eine starke Grundlage.
Sie müssen sich nicht länger von sogenannten Realisten als Traumtänzer und Idealisten vorführen lassen. Die Jesusleute wissen viel besser, wie die Welt wirklich funktioniert. Sie haben keinen Anteil mehr an der Kaiphas-Welt und ihrer Logik. Und dadurch werden sie am Ende in den Spuren Jesu diese Welt überwinden, die immer neue Opfer fordert, um bleiben zu können, wie sie ist.