950 Jahre Groß Ilsede
Predigt zum Ortsjubiläum am 4. Mai 2003 mit Johannes 10,11-16
11 »Ich bin der gute Hirt. Ein guter Hirt ist bereit, für seine Schafe zu sterben. 12 Einer, dem die Schafe nicht selbst gehören, ist kein richtiger Hirt. Darum läßt er sie im Stich, wenn er den Wolf kommen sieht, und läuft davon. Dann stürzt sich der Wolf auf die Schafe und jagt die Herde auseinander. 13 Wer die Schafe nur gegen Lohn hütet, läuft davon; denn die Schafe sind ihm gleichgültig.
14 Ich bin der gute Hirt. Ich kenne meine Schafe, und sie kennen mich, 15 so wie der Vater mich kennt und ich ihn kenne. Ich bin bereit, für sie zu sterben.
16 Ich habe noch andere Schafe, die nicht zu diesem Schafstall gehören; auch die muss ich herbeibringen. Sie werden auf meine Stimme hören, und alle werden in einer Herde unter einem Hirten vereint sein.“
Ob man aus der Geschichte Groß Ilsedes ein Musical machen könnte? Ein Musical kommt nicht mit Fakten allein aus. Es legt den Schwerpunkt auf Geschichten von Menschen und auf das, was sie erleben. Und das ist es natürlich auch, was uns interessiert: die innere Geschichte der Menschen, was sie bewegt hat, was ihr Herz gesagt hat.
Geschichte hat ja wirklich eine äußere und eine innere Seite, und ich möchte dem an drei Epochen aus der Geschichte unseres Ortes nachgehen. Da ist einmal die Zeit der ersten Erwähnung: vor 950 Jahren wurde ein Adliger geächtet und verlor seine Güter, und die gab der Kaiser Heinrich III. an die Kirche von Hildesheim weiter. Und man hat das damals aufgeschrieben, und da findet sich zum ersten Mal der Name Ilsede. Nicht selbstverständlich in einer Zeit, wo auch von den hohen Adligen nur wenige lesen und schreiben konnten.
Was ist die innere Geschichte, die dazugehört? Über Timo wissen wir sonst gar nichts. War er ein guter Herr, oder waren die Ilseder froh, dass sie ihn los waren? Was geschah mit ihm, wohin ist er geflohen, wann ist er gestorben? Das liegt im Dunkel.
Aber über den Kaiser, Heinrich III., wissen wir mehr. Dass er Groß Ilsede und andere Orte der Kirche schenkte, passt zu seinem Engagement für eine starke, reformierte Kirche. In den Klöstern war eine Reformbewegung entstanden, die die Kirche erneuern wollte. Von dieser Bewegung war der Kaiser beeindruckt. Eine ihrer Forderungen war der Gottesfrieden: an allen Feiertagen war es den Adligen streng verboten, Kämpfe auszutragen. Wer dagegen verstieß, wurde bestraft. Diese Friedenspflicht wurde dann ausgedient auf die Zeit von Mittwochabend bis Montag früh. Nur noch Montag, Dienstag und Mittwoch durften die Ritter sich die Köpfe einschlagen; eine Art Dreitagewoche für adlige Hitzköpfe. Vielleicht hat ja auch Timo den Montagmorgen nicht abwarten können und sich schon am Sonntag mit einem anderen Ritter geschlagen.
Jedenfalls stellte sich der Kaiser hinter dieser Reform und trat mit Überzeugung für einen allgemeinen Landfrieden ein. Er sorgte dafür, dass Vertreter der Reformbewegung als Päpste eingesetzt wurden. Und auch an der Urkunde, mit der Ilsede verschenkt wird, da merkt man, wie sehr bei diesem Kaiser die Sorge um das Reich und sein christliches Engagement verbunden sind. Da wird auch etwas von seiner inneren Geschichte sichtbar. Er wollte die Kirche als stabilisierenden Faktor für das Reich, und er wollte, dass von einer starken Kirche etwas ausstrahlt an Frieden und Kultur. Und er wollte selbst mit Gott in Frieden leben und auch seinem Land dazu helfen. Knapp zwei Jahre später ist er dann gestorben, mit 39 Jahren. Damals wurden die Menschen selten alt, auch die Mächtigen und Reichen nicht.
Seine Vision von einer starken Kirche, die das Reich stabilisiert, hat politisch nicht funktioniert. Kulturell hat das schon etwas bedeutet, weil das Wissen der Zeit damals in Kirchen und Klöstern weitergegeben wurde.
Hier in Groß Ilsede herrschten bald die Ritter von Ilsede. Aus ihrer Zeit stammen unser Abendmahlskelch und der Teller, die bis heute in Gebrauch sind. Das ist schon etwas Besonderes, wenn man daran denkt, wie viele Generationen damit Abendmahl gefeiert haben. Wir kennen sie fast alle nicht mehr, wir wissen nicht, was sie sich gedacht haben.
Aber wir haben vorhin im Evangelium vom guten Hirten Jesus Christus gehört, der seine Schafe alle mit Namen kennt. All diese unzähligen, die Generation auf Generation gefolgt sind: er kennt sie, und zwar auch mit ihrer inneren Geschichte, mit dem, was sie gewünscht und gehofft haben, aber auch, wenn sie gar nichts gehofft und erwartet haben.
Wenn wir weiter nach dem nächsten Wendepunkt für Groß Ilsede schauen, von dem wir wissen, dann kommen wir zum Dreißigjährigen Krieg. Wie fast überall in Deutschland hat der auch bei uns ganz viel kaputtgemacht. Plündernde und mordende Soldaten waren eine Landplage, und Groß Ilsede musste mehrfach hohe Summen bezahlen, um sich vor so einer Heimsuchung zu schützen. Diese Schläge hat unser Ort lange nicht verkraftet. Die Soldaten gingen, der Frieden kam, aber die Schulden, die man machen musste, um sich von der Plünderung freizukaufen, die blieben.
Der Neuanfang war mühsam und kümmerlich. Aber schon kurz nach dem Krieg entstand das Altarbild, das bis heute hier in der Kirche hängt. Anton Schulz und Hans Lüttering haben es damals, 1653, also vor 350 Jahren gestiftet. Wahrscheinlich war die Kirche ganz leergeräumt und ausgeraubt, und die beiden wollten das ändern. Wenige Jahre nach dem Krieg waren es erst, aber die beiden wollten, dass die Kirche ihres Ortes wieder schön wurde.
Was bedeutet so eine Zeit voll Unsicherheit und Angst für die innere Geschichte von Menschen? Nach allem, was wir heute wissen über die Reaktion von Menschen auf solche Ereignisse, müssen sie damals nachhaltig verstört gewesen sein. Solche Erlebnisse gehen nicht einfach weg. Die werden auch noch irgendwie weitergegeben an die nächsten Generationen.
Haben sie damals hier in der Kirche Trost gefunden, Befreiung von den schrecklichen Bildern und Albträume, die sie verfolgt haben müssen? Was hat es ihnen bedeutet, Abendmahl zu feiern, mit demselben Kelch und dem Teller, den wir heute immer noch benutzen? Ist da einer gewesen, der ihnen so vom guten Hirten Jesus Christus erzählt hat, dass sie verstanden haben: ja, der schaut auch auf mich, der kennt mich mit meinem Namen, aber auch mit meinen Albträumen, mit meiner Angst? Hat es da Menschen gegeben, die sich beschützt und geborgen gefühlt haben, wenn sie gebetet haben? Ich glaube ja. Gebetet haben sie, das tun Menschen in schwierigen Zeiten, und dann antwortet tatsächlich der gute Hirte Jesus Christus. Aber keine Überlieferung haben wir aus dieser Zeit. Nur dieses Altarbild, und vielleicht ist es ja eine Reaktion auf solche Erfahrungen gewesen, ein Ausdruck des Dankes, dass die beiden so kurz nach Kriegsende ihrer Kirche dieses Bild geschenkt haben.
Wir machen wieder einen Sprung – ins 19. Jahrhundert. Die Welt ist inzwischen moderner geworden, die Technik hat enorme Fortschritte gemacht, aber Groß Ilsede ist immer noch ein kleines Dorf. Da hat ein Bankier aus Celle, Carl Hostmann, eine Vision. Er stellt sich vor, dass hier in diesem reinen Agrargebiet eine Hüttenindustrie entsteht. Er untersucht die Erzvorkommen, er hofft sogar, dass es hier auch Kohle gibt, er sucht Leute, die bereit sind, Geld in seine Vision zu investieren. Er bekommt eine vorläufige Konzession, er kauft Grundstücke, beginnt zu bauen. Europa ist immer noch ein Kontinent, der für Visionen gut ist. Das ist zwar jetzt eine andere Vision als die vom frommen Kaiser Heinrich III., Gott kommt da nicht mehr vor, aber es ist schon enorm, wie sich einer das vorstellen kann, ein Hüttenwerk, das das Gesicht unserer Gegend für anderthalb Jahrhunderte nachhaltig prägen wird. Vorher dünn besiedeltes Ackerland, aber dann Arbeitsplätze und Heimat für Tausende, die zum Teil von weit herkommen, um hier ihren Lebensunterhalt verdienen.
Aber mitten in der Verwirklichung dieser Vision wird Hostmann von der rauen Wirklichkeit eingeholt. Es wird ruchbar, dass es hier gar keine Kohle gibt. Und dazu kommt eine schwere Wirtschaftskrise. Die Geldgeber ziehen sich zurück. Hostmann muss Konkurs anmelden. Etwas später nimmt er sich das Leben. Andere führen sein Werk fort, und seine Vision wird am Ende doch Wirklichkeit.
So weit die äußere Geschichte. Welche innere Geschichte gehört dazu? Europa ist der Kontinent für Visionen. Das liegt an unserm christlichen Erbe. Der Glaube hat Menschen stark gemacht, er hat ihnen geholfen, die Initiative zu ergreifen, er hat sie gelehrt, nicht nur von dem zu leben, was man sehen kann, sondern sich auf das Unsichtbare zu verlassen, auf das, was es noch gar nicht gibt. Das ist die Grundstruktur des Glaubens, wie sie in der Bibel, im Hebräerbrief beschrieben wird: »Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.« Das funktioniert sogar noch, wenn Menschen gar nicht mehr so vom Glauben her denken wie Kaiser Heinrich.
Aber wenn sie dann in Schwierigkeiten kommen oder scheitern, dann ist zu wenig von dem Vertrauen auf den guten Hirten da, manchmal nicht genug, um so ein Scheitern zu überleben. Das Vertrauen auf das Unsichtbare hat kein richtiges Fundament mehr. Trotzdem, was wäre aus unserer Region geworden, wenn da nicht so eine schillernde Persönlichkeit wie Hostmann gewesen wäre?
Damals ist der Weg unseres Ortes tiefgreifend verändert worden. Was im Kopf und in der Fantasie eines Menschen begonnen hat, das hat dem Ort und der ganzen Region ein neues Gesicht gegeben. Das Reale und Prägende waren die Träume und Visionen, das Unsichtbare. Das Unsichtbare hat die Wirklichkeit gestaltet. Menschen wurden angezogen und qualifiziert, zuletzt noch viele, die am Ende des verlorenen Krieges geflohen sind, sie haben viele Berufe gelernt, die es hier vorher noch nie gegeben hat. Menschen haben Dinge getan, an die bei ihrer Geburt noch niemand gedacht hat.
Ich weiß nicht, ob wir in einer Zeit leben, die eines Tages einmal bei solch einem Jubiläumsrückblick erwähnt werden muss. Im Grunde geht es auch für uns wieder um eine Vision, die für neue Generationen eine Grundlage schafft. Es geht, jetzt nach dem Ende der Hütte bei uns, wieder um etwas Unsichtbares, das die Zukunft prägt. Und es geht um die Geschichte von Menschen, die dadurch hoffentlich zum Guten beeinflusst wird.
Denn in dieser ganzen Zeit hat ja der Gute Hirte Jesus Christus die Menschen gekannt, mit ihrer äußeren und ihrer inneren Geschichte, er hat ihnen ins Herz gesehen, all denen, von denen wir heute noch Namen kennen, und all den vielen, von denen wir gar nichts mehr wissen. Alle, die da mit gearbeitet und mitgelitten haben, die es gut gemacht haben und die dem Bösen Raum gegeben haben, sie alle mit ihren Träumen und ihren Schicksalen. Sie sind bei ihm nicht vergessen. Er hat mit ihnen eine Geschichte begonnen, sie haben ihn mehr oder weniger oder gar nicht verstanden, und sie werden alle noch einmal vor ihn treten, und er wird den richtigen Kommentar zu ihrem Leben sprechen. Das wird sich einmal herausstellen als die geheime Geschichte unserer ganzen Welt, wie Menschen Gott wahrgenommen und wie sie auf ihn reagiert haben. Da werden wir neben denen stehen, die vor 950 Jahren hier gelebt haben, und im Guten und im Bösen werden wir gar nicht so weit auseinander sein.