Selbst schuld! Oder?
Predigt am 22. Juli 2018 zu Johannes 9,1-7
1 Unterwegs sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. 2 Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst oder seine Eltern, sodass er blind geboren wurde? 3 Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden. 4 Wir müssen, solange es Tag ist, die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat; es kommt die Nacht, in der niemand mehr wirken kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. 6 Als er dies gesagt hatte, spuckte er auf die Erde; dann machte er mit dem Speichel einen Teig, strich ihn dem Blinden auf die Augen 7 und sagte zu ihm: Geh und wasch dich in dem Teich Schiloach! Das heißt übersetzt: der Gesandte. Der Mann ging fort und wusch sich. Und als er zurückkam, konnte er sehen.
Dass Jesus in die Welt gekommen ist, das ändert die Welt fundamental. Bis dahin hat man zur Orientierung nach hinten geschaut, und da eine Erklärung für Probleme gesucht. Jesus lenkt den Blick nach vorn, auf Gott, der in seine Schöpfung kommt und sie hell macht.
Ein Denkrahmen, mit dem man scheitern muss
Die Jünger sind noch im alten Denken verwurzelt: sie sehen einen Blinden und fragen: warum ist der blind? Es muss doch irgendeinen Grund haben? Irgendwer muss schuld daran sein! Aber in diesem Fall ist es schwierig, eine Antwort zu finden, denn der Mann ist von Geburt an blind, und man müsste schon abenteuerliche theologische Konstruktionen bemühen, um ihm irgendeine Schuld oder Mitschuld an seinem Schicksal zuzuschreiben. Deswegen kommen sie auf die Idee, die Schuld bei seinen Eltern zu suchen. Bloß das würde auch zu schwierigen Konsequenzen führen: wieso muss der Sohn die Fehler der Eltern ausbaden?
Wenn die Jünger Hindus oder Buddhisten gewesen wären, hätten sie jetzt sagen können, der Mann hatte eben ein schlechtes Karma, weil er in einem früheren Leben irgendwas angestellt hat. Der Karma-Gedanke ist ja mit der Vorstellung von der Wiedergeburt verbunden, nach dem man immer wieder neu geboren wird, vielleicht als König, vielleicht als Bettler, oder auch mal als Frosch, je nachdem, wie man sich in den früheren Leben benommen hat. Nach diesem denkerischen Konzept ist man immer selbst schuld, wenn einem was Schlimmes passiert, nach dem Motto: es wird schon einen Grund gehabt haben, wenn es dir schlecht geht! Weil die Jünger aber Juden sind, wissen sie, dass jeder Mensch einmalig ist. Niemand kann das, was er ist, beliebig wechseln wie ein Hemd. Der Gedanke einer Wiedergeburt, bei der uns auch noch die Taten aus früheren Leben verfolgen, führt erst recht in Probleme.
Also fragen sie lieber Jesus. Und mit seiner Antwort räumt Jesus gleich den ganzen Denkrahmen ab, in dem sich ihre Überlegungen bewegen. Denn unter der Überschrift »wer ist schuld?« gibt es keine Lösung, da verrennt man sich in lauter Widersprüche. Nein, sagt Jesus, weder der Blinde noch seine Eltern haben irgendetwas getan, für das die Blindheit jetzt die Strafe wäre. Diese ganze Fragerei nach hinten ist unfruchtbar und führt zu nichts. Selbst wenn man feststellen könnte, dass die Eltern irgendetwas falsch gemacht hätten, in der Schwangerschaft vielleicht, was würde das nützen?
Ein Denkmuster, das alles nur schlimmer macht
Man könnte sich dann damit beruhigen, dass es einen vernünftigen Grund für das Unglück anderer gibt, die Welt scheint wieder logisch und berechenbar zu sein, man muss selbst keine Angst haben, weil man ja garantiert nichts so Schlimmes gemacht hat wie die und sich deswegen sicher glaubt vor solchen Schicksalsschlägen. Die Frage danach, wer schuld ist, ist die Frage von neugierigen Beobachtern, aber den Betroffenen nützt sie überhaupt nichts. Im Gegenteil, bei so einer Sichtweise geht es einem nicht nur schlecht, man ist auch noch selbst schuld daran. Es gibt Erklärungen für Unglück, die einfach nur dazu dienen, dass wir beruhigt alles beim Alten lassen.
Deswegen ist der Karma-Gedanke, ob mit oder ohne Wiedergeburt, so entsolidarisierend: es hat alles schon seinen Grund, jeder ist selbst schuld, also geht es dich nichts an, was anderen passiert.
Keine Zeit für unnütze Spekulationen
Jesus, wie gesagt, räumt diese ganze Denke ab und eröffnet eine neue Blickrichtung nach vorn: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden. Jesus ersetzt den unfruchtbaren Blick nach hinten durch die ganz andere Perspektive nach vorn: an diesem Mann sollen die Werke Gottes deutlich werden. Und dann heilt er ihn. Über allem menschlichen Unglück und aller menschlichen Gebrochenheit steht die große Überschrift: Gott setzt seine Ehre darein, dass das wieder gut wird. Gott will keine Strafzettel verteilen, sondern die Welt neu machen. An Jesus ist das deutlich abzulesen.
Und dann sagt er weiter: Wir müssen, solange es Tag ist, die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat; es kommt die Nacht, in der niemand mehr wirken kann. Wir haben gar keine Zeit für Spekulationen über das Warum und Wieso, sagt Jesus. Wir sollen Gottes Werke tun, und dazu haben wir gerade genug Zeit. Irgendwann schließt sich das Fenster wieder, und diese Gelegenheit müssen wir beim Schopf packen und sie nicht mit Spekulationen vertrödeln, warum das alles so ist und wer Schuld hat.
Lösungen statt Schuldzuschreibungen
Als Gott die Welt aus dem Chaos schuf, da hat er auch nicht darüber nachgedacht, wer das Chaos angerichtet hat und wer schuld daran ist, sondern er hat gesagt: es werde Licht! Und es ward Licht. Und jetzt kommt Jesus in die Welt, in die schon wieder Chaos und die Zerstörung eingebrochen sind, zB in Form von Krankheit und Blindheit, aber auch in Form von Entsolidarisierung und Hartherzigkeit, und in Form von Beschuldigung und Streit, und er sagt: ich bin jetzt das Licht für all das. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. So wie Gott am Anfang Licht ins Chaos gebracht hat, so bringe ich Licht in dieses ganze menschliche Chaos, das sich in Gottes Schöpfung ausgebreitet hat, und für die Frage, wer schuld daran ist, habe ich keine Zeit. Ich bin kein interessierter Zuschauer, sondern ich bin unten auf dem Platz und ändere die Regeln.
Aber interessanter Weise spricht er nicht nur von sich selbst, sondern wenn er sagt »Wir müssen, … die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat«, dann schließt er seine Jünger mit ein. Wir haben das vorhin schon in der Lesung (Matthäus 5,13-16) gehört, wie Jesus auch über seine Jünger sagt: ihr seid das Licht der Welt! Auch seine Jünger gehören zu denen, die »die Werke Gottes tun« sollen. Auch die sollen Gottes Herrlichkeit mitten im menschlichen Kuddelmuddel aufleuchten lassen. Deswegen ist es so wichtig, dass Jesus sie von ihren unfruchtbaren Schuldtheorien wegholt, die sie davon abhalten, ihren Job zu machen.
Nun schaffen wir es in der Regel nicht häufig, blinde Menschen wunderbar zu heilen. Aus irgendeinem Grund ist das meistens nur im Umfeld Jesu passiert. Aber alles medizinische Engagement, das sich auf die Heilung von Krankheiten richtet, das passt wunderbar zu dieser Überzeugung Jesu, dass wir nach vorne schauen sollen, zu Gottes großen Möglichkeiten. Und wenn Menschen dazu beitragen, dass Blinde oder andere Menschen mit Handicap nicht bettelnd an der Straße sitzen müssen, sondern dass die Gemeinschaft sich um sie kümmert und ihnen das Leben so leicht macht, wie es nur geht, dann leuchtet auch darin das Licht Gottes auf. Und Menschen, die etwas Schweres erlebt haben, und Unglück in der Familie oder eine eigene Krankheit, die engagieren sich danach nicht selten an einer Stelle, wo sie etwas zur Heilung der Welt beitragen können, oft ganz instinktiv, weil sie merken, dass ihnen das gut tut.
Nach vorne statt nach hinten schauen
Jesus untergräbt die fatalistische, rückwärtsgewandte Haltung, aus der nie etwas Gutes kommt. Nur damit ich nicht falsch verstanden werde: natürlich ist es manchmal sinnvoll die Ursache von Problemen zu such und zu analysieren. Nur wenn man weiß, wie Krankheiten entstehen, kann man sie vermeiden. Aber dann steht diese Ursachenforschung im Dienst der Veränderung und Heilung, sie ist nicht dazu da, dass man sich zurücklehnt und sagt: das ist die gerechte Strafe, alles in Ordnung!
Es ist interessant, dass genau dieser Vers – dass wir wirken müssen, so lange es Tag ist – der Wahlspruch von Gerhard Lukas Meyer war, dem Vater der Ilseder Hütte, der maßgeblich dazu beigetragen hat, dass hier bei uns zeitweise das modernste Stahlwerk Deutschlands stand. Gerhard Lukas Meyer hat so um 1860 herum die Leitung der Ilseder Hütte übernommen, als sie gerade in Konkurs gegangen war. Der vorige Leiter war aus Verzweiflung darüber und wohl auch aus Scham in den Tod gegangen.
Gerhard Lukas Meyer hat aber nicht lange Schuldige gesucht oder Gründe gesucht, warum es so kommen musste, sondern er hat einen neuen Anfang gemacht und auf den Trümmern eines bankrotten Hüttenwerks eine blühende Industrie errichtet. Und wenn man seinen Leitspruch kennt, dann weiß man, dass er diese positive Grundhaltung des Nach-vorn-Schauens aus der Bibel gehabt hat, von Jesus. Die Ausstrahlung dieses Wortes reicht ganz konkret bis hierher in die Geschichte unseres Ortes. Aber damit ist sie noch lange nicht zu Ende.
Unfruchtbare Fragen
Jesus befreit Menschen aus der unseligen Bindung an Vergangenes. Wir kennen doch diese Fragen auch: warum passiert mir das? Habe ich irgendwas falsch gemacht? Womit habe ich das verdient? Warum muss mir immer so etwas passieren? Hätte ich es doch nur anders gemacht! Darauf gibt es keine Antworten, noch nicht einmal die Antwort: das ist eine Gelegenheit, damit Gott seine Größe und Güte beweisen kann ist richtig. Gott macht nicht Menschen erst krank oder unglücklich oder schuldig, damit er sie dann zu seinem höheren Ruhm heilen kann.
Die Frage selbst ist falsch. Sie ist unfruchtbar, überflüssig und unnütz. Das Unglück ist einfach da, und Gott bringt Licht hinein. Gott schafft Neues. Gott macht einen neuen Anfang. Darauf sollen wir unsere Aufmerksamkeit richten. Dahinein sollen wir unsere Zeit und unsere Gedanken und unser Engagement investieren. Wir sollen mitten in dieser zerrütteten Welt die Werke Gottes wirken: Barmherzigkeit, Heilung, Freundlichkeit, Solidarität, Gerechtigkeit, Durchblick und Klarheit, Frieden, Vertrauen, Zuversicht.
Gelegenheiten ergreifen
Damit haben wir genug zu tun. Wir wissen ja nicht, wie lange wir Gelegenheit dazu haben. Jesus wusste sehr gut, dass seine Zeit begrenzt war. Auch für uns schließt sich irgendwann das Fenster der Gelegenheit. Mit Sicherheit wenn wir tot sind, aber auch schon vorher kann sich so vieles ändern. Leben ist in vielerlei Hinsicht begrenzt. Die politischen Verhältnisse können sich ändern, unsere Gesundheit kann einen Knick bekommen, die Konjunktur kann einbrechen, die Menschen können sich verhärten, alles ist dauernd in Bewegung.
Grübeln hat keinen Zweck. Es verführt uns zu einer fatalistischen Haltung. Gott ist ganz anders. An ihm sollen wir uns orientieren, damit wir seine Werke tun können.