Der Glanz der Solidarität
Predigt am 29. September 2024 (Erntedankfest) zu Jesaja 58,6b-11
Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! 7 Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. 9 Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, 10 sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. 11 Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.
Die Welt ist dafür geschaffen, dass Menschen sich gegenseitig beistehen. Die Welt belohnt Freundlichkeit, Güte und Solidarität. Und sie macht das, weil sie von einem freundlichen Gott ins Leben gerufen worden ist, der in seinem Innern voller Liebe ist.
Die verborgene Voraussetzung
Das ist die Voraussetzung im Hintergrund, wenn der Prophet Jesaja sagt: gib Menschen frei, steh Hungrigen bei, gib Heimatlosen ein Dach über dem Kopf! Dann wird dir selbst geholfen, Gott wird dir beistehen und auch für dich sorgen. Viel später hat Jesus das noch mal aufgenommen und gesagt: wie Gott Urteil im endgültigen Gericht über dich aussehen wird, das hängt davon ab, ob du dich um Gefangene, Hungrige, Flüchtlinge, Obdachlose oder Kranke gekümmert hast.
Jesaja und Jesus sagen beide, dass diese Aufforderung zur Barmherzigkeit nicht künstlich an die Welt herangetragen wird. Das sind nicht irgendwelche Idealisten, die weltfremde Forderungen aufstellen würden, die völlig unrealistisch sind. Sondern sie sagen: genau so funktioniert die Welt, mit Liebe, Solidarität und Barmherzigkeit. Trotz aller gegenteiliger Erfahrungen: so ist die Welt gedacht, und dass wir es auch anders erleben, das hängt damit zusammen, dass Menschen ihre Mitmenschen und Mitgeschöpfe falsch und schlecht behandeln. Wer liebt, ist trotz allem Realist; wer dagegen glaubt, die Welt wäre ein Dschungel, in dem man gegen alle anderen kämpfen müsste, der hat keine Ahnung vom Leben und trägt so dazu bei, dass es für alle schwerer wird.
Einfache Regeln, aktuelle Fragen
Der größte Teil dieses Abschnittes beschäftigt sich gar nicht so sehr mit der Frage, was man tun soll. Das ist schnell gesagt: Teile mit den Hungrigen, gib Leuten ein Dach über dem Kopf, die keins haben, sorge dafür, dass Menschen anständige Kleidung haben. Hör auf, Menschen in Abhängigkeit zu halten, befreie sie stattdessen. Und rede nicht abfällig über sie, verleumde nicht diejenigen, die in Not sind. Ganz einfache Regeln, die auch nach 2500 Jahren einfach zu verstehen sind.
Aber Kraft entfalten tun sie nur, wenn man glaubt, dass genug für alle da ist. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass meistens vom Mangel her gedacht wird? Dauernd sagt irgendwer: wir müssen sparen, wir können es uns nicht leisten, großzügig zu sein, wir sind überfordert. Aber bei Jesaja heißt es: wenn Menschen in Not dein Herz finden, dann wirst du wie eine sprudelnde Quelle sein, die immer genug Wasser hat. Das sagt einer in einem Land, wo Wasser knapp war und man es meistens aus Brunnen holen musste, die nicht selten versiegten. Aber Gottes Fülle ist nicht knapp und spärlich, und wenn du seinen Segen weitergibst, wirst du auch Fülle und Glanz erleben.
Zu danken für die Güter des Lebens, das bedeutet nicht nur: wir schauen auf die Dinge die wir haben und danken dafür. Das ist wichtig und das tun leider längst nicht alle. Aber wir sollen auch in unserem Essen und Trinken, in der Heimat, die wir haben und in den Menschen, die zu unserem Leben gehören, Gott erkennen, den Urheber all dieser Segnungen. Und wir sagen Ja dazu, dass er eine gute Welt geschaffen hat, in der Lebensraum für alle ist, und in der alle ein gutes Leben führen können, wenn wir füreinander sind und nicht gegeneinander.
Liebe Freunde, das ist der Kern der Fragen, um die bei uns dauernd gestritten wird: Ist es richtig, gut zu sein, zu helfen, Zuflucht zu bieten, Menschen aufzunehmen, die aus zerstörten oder schlecht regierten Ländern zu uns kommen? Und ist es richtig, zu Menschen in Not in unserem Land großzügig zu sein, oder sollte man lieber am Bürgergeld sparen, oder an der Kindergrundsicherung, weil wir ja alle so schrecklich arm sind, dass wir und das nicht leisten können? An diesem Punkt ist die Bibel ganz eindeutig, überall sagt sie: ein freundliches Herz wird Gottes Segen empfangen. Freundlichkeit und Solidarität tun dir selbst gut.
Wie es wieder bergauf geht
Die Leute, zu denen Jesaja und auch Jesus sprachen, waren ja alles andere als reich. Als unser Textabschnitt entstanden ist, da war Israel ein armes, zerstörtes Land, ungefähr so wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele Menschen hausten zwischen Trümmern, der Wiederaufbau kam nur im Schneckentempo voran, und viele hatten selbst nicht genug zu essen und anzuziehen. Einem anderen einen Mantel zu geben, das konnte bedeuten, dass er einem selbst fehlte. Und in diesem prophetischen Impuls geht es um den Weg, wie es besser werden kann: helft denen, die es brauchen, das vertreibt die dunkle Wolke, unter der ihr lebt! Seid solidarisch, dann geht es wieder bergauf!
Jesaja behauptet nicht, dass das ein einfacher Weg wäre. Aber er sagt: es ist der gesegnete Weg. Es wird dir gut gehen, wenn du ihn einschlägst. Du wirst Gottes Hilfe und seine Nähe deutlich spüren. Und über deinem Leben wird Glanz liegen.
Unsere moderne Wissenschaft kann ja heute viele Zusammenhänge untersuchen, und inzwischen hat man auch erforscht, wie es um die Zufriedenheit in einer Gesellschaften steht. Und da hat man herausgefunden, was wir eigentlich auch so wissen können: es geht uns nicht einfach dann gut, wenn uns alle Probleme abgenommen werden und unser Auto das dickste und teuerste in der Straße ist. Entscheidend sind unsere Beziehungen und der Rahmen, in dem wir unser Leben sehen. In einer Gesellschaft mit großer Ungleichheit und Ungerechtigkeit leiden alle, auch die da oben an der Spitze der Gesellschaftspyramide. Denn wenn sich im Leben Verdrossenheit ausbreitet, wenn Hoffnung selten ist und alle ihre Sorgen irgendwie zudröhnen, dann kann keiner mehr richtig Zufriedenheit oder Freude empfinden bei dem, was man hat, egal, ob es viel ist oder wenig.
Glanz über der Welt
Und Jesaja spricht hier von etwas, was über Zufriedenheit noch hinausgeht. Er spricht von dem Glanz, der über einem Leben liegen kann: dein Licht wird hervorbrechen, Gott wird vor dir und hinter dir gehen. Du wirst wie ein wunderbarer Garten sein. Natürlich sind das alles Bilder, aber ich glaube, wir verstehen, was gemeint ist: da strahlt ein Leben etwas aus, da passiert etwas Gutes und Schönes, da kommt das Leben zum Blühen und auch die Menschen blühen so auf, wie man es von ihnen nicht erwartet hätte.
Ich meine mit Glanz nicht Menschen, die dauernd in den Medien auftauchen, die Reichen und Schönen. Sondern wo etwas sichtbar wird von unserer eigentlichen Bestimmung zu Solidarität und Freude. Das können ganz unscheinbare Dinge sein, aber ihre besondere Art vergisst man nicht.
Ich denke z.B. an einen Kollegen, der ein ganzes Stück älter ist als ich und als Junge noch die Nachkriegszeit miterlebt hat auf einem Bauernhof, wo nach Kriegsende alle möglichen Leute am Tisch saßen, die Krieg und Vertreibung irgendwie dorthin gebracht hatten. Und wenn dann diese Leute aus aller Herren Länder dort am Tisch saßen, dann sprach seine Großmutter das Tischgebet, und es hat für alle gereicht, und irgendwie muss ein Glanz drauf gelegen haben, jedenfalls hat das wohl auch dazu beigetragen, dass der Junge von damals später Pastor geworden ist.
Oder denken Sie an die ganzen Überschwemmungen und andere Klimakatastrophen, die es in den letzten Jahren bei uns gegeben hat. Was geschieht, wenn Menschen so etwas erleben müssen? Sitzen die dann fassungslos rum? Vielleicht einen kurzen Moment, aber dann fangen sie an, einander zu helfen, und viele andere kommen auch dazu und helfen, und auf einmal kommt das Beste in den Menschen ans Tageslicht. Da fragt dann keiner, was er zurückbekommt, sondern alle packen miteinander an, und sogar über solch einer Situation kann Glanz liegen.
Und die Frage ist ja: müssen wir dafür eigentlich immer auf Kriege und Katastrophen warten? Können wir nicht auch im Normalbetrieb so solidarisch leben, wie Jesaja das schreibt? Die Gemeinden, die Jesus dann angeschoben hat, die waren dann tatsächlich Gruppen, die aus dem Reichtum Gottes gelebt haben, ihn weitergegeben haben, und wo das Leben aufgeblüht ist.
Unsere Welt ist dafür geschaffen, das sich über ihr ein Glanz entfaltet, dass sie Schönheit ausstrahlt, dass sie Freude erfüllt ist, und manchmal passiert das gerade da, wo die äußeren Bedingungen kümmerlich und karg sind. Wir sollen Not nicht idealisieren, sie ist nicht romantisch, aber manchmal entfaltet sich der Glanz gerade in einem Moment, wo es vorne und hinten klemmt. Das ist nicht garantiert, das kann man nicht planen oder erzwingen, aber zur Realität unserer Welt gehört eben auch die überraschende Fülle Gottes, die manchmal auch an ganz unwahrscheinlichen Orten sichtbar wird. Wir wissen ja nicht, was noch im Zuge des Klimawandels auf uns zukommt an Engpässen und Gefahren. Das werden wir auf die Dauer auch von Europa nicht fernhalten können. Und deshalb sollten wir rechtzeitig Solidarität einüben. Wir werden sie brauchen.
Nicht messbar, aber wirksam
Die Welt ist nicht nur plumpe Materie, sondern sie hat immer auch eine verborgene Seite. Sie ist mit Bedeutung erfüllt, Segensströme fließen durch sie hindurch, und wenn es gut geht, dann wird das auch an vielen Punkten sichtbar und in vielen Augenblicken spürbar. Und das gibt uns eine Energie, Zuversicht, Begeisterung, Kraft und Mut. Glanz. Das Verborgene wird für einen Moment sichtbar, wir können dabei sein, aber wir können es nicht festhalten und speichern. Aber davon leben wir so sehr wie von Brot und Kalorien. Und wenn es fehlt, dann funktioniert auch das rein Materielle nicht mehr lange.
Jesaja sagt: wenn jeder festhält, was er hat, wenn jeder auf sich schaut und nicht teilen mag, dann verliert ihr genau diesen Glanz, des Segen, den Gott auf euer Leben legt. Dann wird alles mühsam und umständlich. Dann gibt es Formulare und Vorschriften ohne Ende, aber die können nicht Gerechtigkeit und Segen erzwingen, sondern sie machen das Leben nur noch mühsamer. Alle sind verdrossen und nörgeln, auch wenn sie eigentlich genug zum Leben haben.
Vortrupp des Lebens
Deswegen: wenn ihr möchtet, dass es aufwärts geht, wenn Zuversicht einkehren soll, wenn Glanz über dem Leben liegen soll, dann seid solidarisch. Übt euch darin zu teilen. Blendet die Menschen nicht aus, die es schwer haben, nicht in der Nachbarschaft und nicht an den Außengrenzen Europas. Eine Gesellschaft, die mit aller Kraft Not bekämpft, die das, was sie hat, dankbar aus Gottes Hand entgegen nimmt, die großzügig teilt und sich auch einschränkt, wenn es nötig wird; eine Gesellschaft, in der die Lasten gleichmäßig geteilt und von allen mitgetragen werden, das ist eine Gesellschaft, die sich keine Sorgen um die Zukunft machen muss. In so einer Gesellschaft lebt man gerne.
Und Jesus setzt dann später dazu: auch wenn ihr in einer Gesellschaft lebt, die das ganz anders macht, dann könnt ihr als meine Jünger trotzdem so leben. Es wäre gut, wenn alle das tun, aber ihr seid in jedem Fall der Vortrupp des Lebens. An euch soll sichtbar werden, dass die Welt von Liebe zusammengehalten wird. Auch wenn alle anderen glauben, dass sie die Ellbogen ausfahren müssten, dann seid wenigstens ihr Realisten und lebt als versöhnte Leute, bis alle den Glanz entdecken, der – jetzt noch verborgen – über der Welt liegt.