Nicht schön der Reihe nach, sondern kompliziert
Predigt am 8. Oktober 2017 zu Jesaja 49,1-6
1 Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Der HERR hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. 2 Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt. 3 Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will.
4 Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Doch mein Recht ist bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott.
5 Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde – und ich bin vor dem HERRN wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –, 6 er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.
Immer wieder gibt es in der Bibel Botschaften, die uns helfen sollen, etwas vom ganzen Plan Gottes mit seiner Welt zu verstehen, und dies ist eine davon. Sie sollen uns Orientierung geben, wenn wir in schwierigem Gelände unterwegs sind. Und hier bekommt jemand zu hören: auch wenn du den Eindruck hast, dass du nicht vorankommst und deine Kraft vergeblich vergeudest, hab keine Sorge, du bist noch auf dem richtigen Weg! Ich, Gott, habe die Übersicht. Es ist alles ok. Und ich sage dir jetzt deinen nächsten Auftrag.
Der das zu hören bekommt ist der geheimnisvolle »Knecht Gottes«, der im Buch Jesaja immer wieder auftaucht. Einige glauben, es sei der Prophet selber, einige glauben, damit sei das ganze Volk Israel gemeint. Ich denke, dass es ursprünglich um einen Einzelnen geht, der in Israel Gottes Ansprechpartner war, aber der »Knecht Gottes« steht dann für die von Gott beauftragten Menschen zu allen Zeiten, egal, wer nun ursprünglich einmal gemeint war.
Der Auftrag des Gottesknechts
Und natürlich passt dieses Bild ausgezeichnet auf Jesus, der Jahrhunderte später lebte. Gott bleibt über die Jahrhunderte derselbe, und deswegen erleben Menschen mit ihm auch immer wieder ähnliche Dinge. Jesus ist das Urbild des von Gott beauftragten Menschen, und er hat seine eigene Sendung im Licht der Gottesknechtsworte Jesajas zu verstehen gelernt.
Ursprünglich hatte der Knecht Gottes den Auftrag empfangen, Israel, das Volk Gottes, wieder herzustellen. Israel war damals in der babylonischen Gefangenschaft, sie hatten ihr Land verloren, sie lebten unter der Herrschaft einer fremden Großmacht und waren an ihrem Auftrag irre geworden: was konnte man von ihnen noch erwarten?
Und der Auftrag des Knechtes war: richte Israel wieder auf, stelle es wieder her, so dass es seine Mission erfüllen kann! Aber mit diesem Auftrag ist er gescheitert. Er hat sich abgemüht, er hat versucht, die Menschen aufzurütteln, er hat versucht, ihnen wieder Vertrauen in ihre Berufung einzuflößen, aber alles war vergeblich.
Gut ausgerüstet …
Und dabei hat Gott ihn doch dafür ausgerüstet: mit einer scharfen Zunge, und damit ist etwas anderes gemeint als die spitze Zunge, mit der einer über die Schwächen des anderen herzieht. Gemeint ist, dass Gott den Knecht mit der Gabe ausgestattet hat, die Wahrheit überzeugend auszusprechen. Im richtigen Moment kamen ihm die richtigen Worte. Gottes Leute arbeiten und kämpfen mit Worten. Sie vergießen kein Blut, aber sie sind deshalb nicht machtlos. Das Wort ist eine mächtige Waffe.
Und so war der Knecht Gottes einer von den scharfen Pfeilen, die Gott im Köcher hatte. Und Gott hat seine Hand über ihn gehalten, er hat ihn beschützt, und der Knecht Gottes brauchte das, weil er oft in Gefahr war.
… aber erfolglos
Aber er hat im Volk Gottes kein Gehör gefunden. Trotz aller Mühe hat er nichts bewirkt. Das ist deprimierend, auch wenn für ihn selbst gesorgt ist. Er war sicher, dass Gott ihn für seine Mühe belohnen wird. Er hat sein Bestes gegeben. Es war nicht seine Schuld, wenn das keinen Erfolg hatte.
Aber es deprimiert ihn trotzdem, dass er seinen Auftrag nicht erfüllen konnte. Warum sind Gottes Menschen immer wieder so schwer von Begriff, so träge, so leicht aus der Bahn zu bringen? Warum sehen sie nicht, was für die Propheten ganz klar ist? Warum stößt selbst Jesus immer wieder auf Unverständnis und Widerstand, warum verstehen ihn auch seine eigenen Jünger so oft nicht? Warum schafft es die Kirche so selten, eine deutlich erkennbare Alternative zu sein, so dass Menschen wenigstens dort sehen können, wie die neue Welt Gottes funktioniert und wie sie sich anfühlt?
Unreformierbares Gottesvolk
Immer wieder gibt es im Volk Gottes Erneuerungsbewegungen, Erweckungsbewegungen, raus aus dem satten Einerlei, zurück zum Anfang, als man den Auftrag noch deutlich vor Augen hatte. Immer wieder bricht im Volk Gottes etwas auf, wenn einer kommt und Worte ausspricht, die bewegen. Immer wenn das passiert ist, dann hat das die Welt verändert. Die Reformation, an die wir in diesem Jahr dauernd erinnert werden, ist ein herausragendes Beispiel dafür. Aber anscheinend ist es viel leichter, Playmobil-Lutherfiguren unters Volk zu bringen und touristische Angebote zu vermarkten, als echte Erneuerung zu bewirken.
Offensichtlich ist das Volk Gottes immer wieder in Gefahr, müde zu werden, aber nicht nur müde, sondern auch träge, unbeweglich, ohne Begeisterung, seine Mission zu erfüllen, und voll geheimem Widerstand gegen Gott. Es reicht ihm, Volk Gottes zu sein und sich damit zu beruhigen, es will gar nicht erneuert werden, es will nicht in Bewegung gesetzt werden, um seinen Auftrag zu erfüllen. Der Knecht war wie einer, der mühsam einen schweren Wagen bergauf schieben muss, und davon ist er müde geworden.
Gott weitet den Auftrag aus
Das ist nicht nur eine Krise im Leben des Propheten. Das scheint auch eine Krise im Plan Gottes zu sein. Gott hatte den Propheten schon im Mutterleib berufen, vor seiner Geburt, als er noch gar nichts tun oder entscheiden konnte. Viele von den großen Beauftragten Gottes haben das so erlebt: es war nicht meine Entscheidung, sondern Gott hat sich für mich entschieden, er hat mich berufen und seine Hand auf mich gelegt, bevor ich davon wusste. Paulus und Jeremia kannten das auch. Es war Gottes Plan, in den ich hineingeraten bin, sagen sie. Und ist dieser Plan jetzt in der Krise, weil das Gottesvolk nicht mitspielt?
Aber Gott schaltet jetzt nicht auf Plan B um, sondern er enthüllt wieder ein Stück mehr von seinem ursprünglichen Plan. Der Widerstand überrascht ihn überhaupt nicht. Als Antwort darauf weitet er den Auftrag des Knechtes aus: jetzt gehören auch die anderen Völker zu seiner Zielgruppe, und er soll Wirkungen und Ausstrahlungen haben »bis an die Enden der Erde«.
Es wird unübersichtlich
Liebe Freunde, dies ist ein entscheidender Moment. Gott rennt nicht ewig gegen verschlossene Türen in seinem Volk an, sondern er erweitert den Horizont. Wir kennen das ja auch aus der Geschichte der Christenheit: obwohl Jesus nur eine Minderheit in Israel gewinnen konnte, sind seine Jünger doch schon über die Grenzen Israels hinaus gegangen zu den anderen Völkern.
Gottes Weg geht anscheinend nicht Stück für Stück vom Kleinen zum Großen, das wäre schön klar und strukturiert, sondern es wird immer unübersichtlicher.
Wir würden das auch am liebsten so klar haben: erst fängst du selbst an zu glauben, dann überzeugst du deine Familie, dann erneuert sich deine Gemeinde, das strahlt in den Ort aus, dann wird irgendwann das ganze Land erreicht, und am Ende die ganze Welt. Schön säuberlich vom Kleinen zum Großen. Funktioniert das? Nein. Meistens scheitert das schon an der eigenen Familie. Und dass sich ein ganzes Land zu Gott bekehrt, das kommt diesseits des Himmels sowieso nicht vor.
Nicht schön der Reihe nach
Vielleicht kriegst du die Menschen mit List oder Gewalt dazu, dass sie fast alle zu einer Kirche gehören und ihre Kinder taufen lassen, vielleicht gehen sie sogar sonntags alle zum Gottesdienst, wenn der soziale Druck groß ist. In manchen Zeiten war das ja auch in unserem Land so. Aber sobald der Druck wegfällt, dann funktioniert das nicht mehr und es zeigt sich, wie wenig echte christliche Substanz in Wirklichkeit da gewesen ist. Diese Salamitaktik – ein Mensch nach dem anderen, eine Familie nach der anderen, ein Haus nach dem anderen, ein Land nach dem anderen – das ist nicht Gottes Weg. Das passt zu unserer groben Denkart, aber nicht zu Gott.
Gott wartet nicht ab, bis die Sachen ganz klar sind und ganze Familien oder Länder richtig zu ihm gefunden haben. Er wartet noch nicht mal ab, bis ein Mensch anz ordentlich und richtig von Jesus durchdrungen ist, sondern er schickt ihn schon vorher los, und er wird dann unterwegs lernen, on the job. Manchmal geht das gut und manchmal nicht, aber Gott macht es eben auf komplexe Weise: die eine Aufgabe bleibt unvollendet, und der Auftrag wird ausgeweitet.
Das kennen wir: Paulus hat Gemeinden gegründet und ist weitergezogen, obwohl die Gemeinden noch längst nicht gefestigt waren, und ihre Umgebung war auch noch nicht erreicht. Menschen haben vielen anderen das Evangelium gebracht, obwohl ihre eigene Familie skeptisch blieb bis zuletzt. Menschen haben an einer Stelle klaren Durchblick und anderswo tappen sie im Dunkeln. Die Fronten sind viel unübersichtlicher, als wir es uns vorstellen können.
Alles gleichzeitig
Gott kann uns die Einzelheiten seines Plans vermutlich nicht erklären. Er hat viel mehr Figuren auf dem Brett, als wir uns vorstellen können. Er sieht Verbindungen und Zusammenhänge um so viele Ecken herum, dass uns schwindelig würde, wenn wir die alle durchschauen wollten. Wir sehen immer nur einen kleinen Ausschnitt, und auch den nicht besonders gut.
Jesus hat für seine Leute in der Welt das Bild vom Sauerteig benutzt. Wenn Sauerteig in einen Haufen Mehl verknetet ist, dann gibt es auch nicht klar abgegrenzte saure und süße Bereiche. Dann ist der ganze Teig am Arbeiten. So ist Gott gleichzeitig in der ganzen Welt am Werk, und fertig wird er überall erst, wenn die Welt erneuert wird und das neue Jerusalem vom Himmel auf die Erde kommt.
Die ganze Schöpfung miteinander
Gott hat von Anfang an die ganze Schöpfung im Blick. Und die wird nur als Ganze zu Gott zurückkehren, nicht der Reihe nach Stück für Stück. Nicht als Einzelmenschen, erst recht nicht als Seelen, sondern die ganze Schöpfung miteinander. Es bleibt unübersichtlich. Und nicht überall, wo »Volk Gottes«, »Israel« oder »Kirche« draufsteht, ist Gott auch schon besonders weit gekommen.
Aber an vielen Orten gibt es die Nachfolger des Knechtes Gottes, die sich abmühen und manchmal das Gefühl haben, einen tonnenschweren Wagen bergan schieben zu müssen. Ihnen sagt Gott: bleib dran! Deine Arbeit ist nicht vergeblich, auch wenn es dir manchmal so vorkommt. Ich halte dich, ich schütze dich, ich werde dir den Lohn für deine Mühe geben, und es ist nicht vergeblich, was du tust. Hauptsache, du bist mit Kraft und Konzentration bei deinem Auftrag. Das Ganze ist meine Sache, und ich habe die Übersicht. Hauptsache, das Zentrum deines Sinnens und Trachtens war das Gottes Reich. Erst am Ende wirst du sehen, wie es alles zusammengehangen hat, und ob es klein oder groß war, was du beigetragen hast.