Die königliche Aufgabe
Predigt am 26. Dezember 2011 (Weihnachten II) zu Jesaja 11,1-9
1 Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. 2 Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. 3 Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, 4 sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. 5 Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. 6 Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. 7 Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. 8 Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. 9 Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.
In diesen Verse zeichnet Jesaja das Bild eines gerechten Königs, durch den das Land gedeiht und selbst in der Tierwelt Frieden herrscht. Die zentrale Aufgabe dieses Königs ist Gerechtigkeit. Und das bedeutet vor allem: dafür sorgen, dass Arme zu ihrem Recht kommen. Das ist die zentrale Aufgabe dessen, der die Macht im Land hat: dafür sorgen, dass keiner unter die Räder kommt, und denen zu ihrem Recht verhelfen, die von Stärkeren an die Seite gedrängt werden.
Der König war damals die oberste Berufungsinstanz, an die man sich wenden konnte, wenn man in Schwierigkeiten war. Man kann das gut an der Geschichte des salomonischen Urteils beobachten: zwei Frauen streiten sich darum, wem ein Kind gehört, beide beanspruchen es, und nun wenden sie sich an den König, damit er eine Entscheidung herbeiführt. Das heißt, auch in solchen Alltags- und Familienangelegenheiten konnte der König angerufen werden. Und der musste dann in dem Gewirr von Interessen eine sinnvolle Lösung finden, damit das Leben weitergehen kann.
Berühmt ist die Weisheit Salomos, der als Lösung vorschlug, man möge ihm ein Schwert bringen, damit das Kind in zwei Teile geteilt würde und jede Frau ein halbes Kind bekommt. Und als dann eine der Frauen lieber ganz auf das Kind verzichtet als das Kind töten zu lassen, da erkennt Salomo in ihr die wahre Mutter und spricht ihr das Kind zu.
Das ist Königsweisheit: den Menschen auch in verwickelten Verhältnissen gerecht zu werden, so dass den Unschuldigen zum Recht verholfen wird und die Rücksichtslosen es sich zweimal überlegen, ob sie andere um ihr Recht bringen wollen.
Dazu muss der König hinter die Oberfläche schauen und sich ein eigenes Urteil bilden. Er darf nicht für bare Münze nehmen, was ihm die Leute erzählen, sondern er muss es bewerten und gewichten.
Und das heißt, hier nützt es gar nichts, zu wissen was Sitte und Brauch ist, sondern hier muss einer eine höchstpersönliche Entscheidung treffen. Wir können uns gar nicht vorstellen, was für eine einmalige Aufgabe das war in einer Zeit, wo die meisten Menschen sich ganz selbstverständlich daran orientierten, was »man« tut und was nicht. Wir stehen heute vor einem Haufen Entscheidungssituationen und müssen immer wieder neu herausfinden, was für unsere ganz individuelle Situation richtig ist. Damals war das viel übersichtlicher. In einer traditionell geprägten Gesellschaft waren eigentlich fast alle Entscheidungen vorgegeben, deine Rolle war klar definiert, und wenn du aus der Reihe tanztest, bekamst du Ärger. Für alle offenen Fragen, die dann noch blieben, hatte man die Ältesten des Stammes, den Priester am Tempel und den König.
Deswegen ist der König so wichtig: der entscheidet die Fragen, die überbleiben, wenn die normalen Antworten von Sitte und Brauch das Problem nicht gelöst haben. Der König steht also an der Stelle in der Gesellschaft, wo Spielraum ist, wo echte Entscheidungen gefällt werden. Wenn der es gut macht, dann geht die ganze Gesellschaft in eine gute Richtung. Wenn der aber dumm oder korrupt ist, dann schadet das allen. Nur die Rücksichtslosen und Starken auf allen Ebenen freuen sich, die Mafiabosse, Baulöwen und Abzocker jeder Art, weil ihnen niemand mehr in den Weg tritt.
Und Jesaja beschreibt hier die Hoffnung, dass es einmal einen einen König geben wird, der von Gott inspiriert ist und mit göttlicher Weisheit all die menschlichen Irrungen und Wirrungen entwirren kann, und zwar deshalb, weil es ihm tatsächlich vor allem darum geht, mit Gott in Übereinstimmung zu leben.
Das heißt, Jesaja schaut vor allem auf die persönlichen Qualitäten des Königs, nicht so sehr auf seine institutionelle Macht. Er wird den Bösen mit dem Stab seines Mundes besiegen und mit dem Hauch seiner Lippen töten, heißt es. Das bedeutet die Entscheidung fällt nicht durch Machtmittel, sondern durch Worte, durch die Wahrheit.
Das klingt jetzt vielleicht etwas blauäugig, aber das wünschen wir uns eigentlich ja bis heute von Politikern, dass sie Autorität nicht nur durch ihr Amt und ihre Macht haben, sondern dass sie eine Klarheit und Integrität aufbringen, die ihnen auch ganz persönlich Autorität gibt. Und genauso wünschen wir uns das von Chefs und Lehrern und Leitern jeder Art, dass sie eine menschliche Qualität mitbringen, die möglichst überzeugend ist, und dann brauchen sie ihre Macht gar nicht mehr immer, um Entscheidungen durchzusetzen.
Und nun muss man ja solche alttestamentlichen Verheißungen immer lesen mit Blick auf Jesus. Die Propheten haben vieles nur von fern und in Bildern gesehen, Jesaja hat sich wahrscheinlich selbst gar nicht genau vorstellen können, wie so ein gerechter und weiser König aussehen würde. Aber wenn man Jesus dazu nimmt, dann bekommt das Ganze viel klarere Konturen.
Denn genau so hat das ja Jesus gemacht: er hat nie irgendeine formelle Machtposition bekleidet, kein Amt ausgeübt, keine Armee kommandiert, und trotzdem war sein Einfluss auf das Land und die Menschen unglaublich groß. Gerade weil er so überzeugend die Wahrheit ausgesprochen hat, sind die Menschen von überall her gekommen, um ihn zu hören. Wenn man es mit einem kitschigen Begriff sagen will: er war der König der Herzen. Jesus regiert das Land nicht von oben her, sondern quasi von der Seite, indem er die Wahrheit ausspricht. Und die Wahrheit bewegt Menschen, tatsächlich, sie weckt das Beste in den Menschen. Allen negativen Prognosen zum Trotz reagieren die Menschen auf die Wahrheit, wenn sie ihnen klar und umgesetzt in ein Leben begegnet. Wie oft haben wir das im letzten Jahr und auch schon in den Jahren und Jahrzehnten davor erlebt, dass Menschen mit großem Mut für die Wahrheit auf die Straße gegangen sind und gegen Wahlfälschungen demonstriert haben oder gegen die Korruption der Machthaber. Sogar wenn solche Bewegungen am Ende zerstritten oder korrumpiert enden und die Menschen enttäuschen, man sieht an ihnen, wie groß die Sehnsucht nach Wahrheit und Gerechtigkeit ist, und wie Menschen bereit sind, sich dafür einzusetzen.
Jesus, der in seinen Worten und in seinem Leben die Wahrheit verkörperte, der trifft kurz vor seinem Tod auf seinen wahren Gegner, nämlich Pilatus, den Vertreter des römischen Imperiums, und was fragt ihn der? Genau: »Was ist schon Wahrheit?« Pilatus, der Mann des Apparats, der kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass es so etwas wie Wahrheit gibt – in seinem Kopf geht es nur um militärische Macht, um Legionen und Schwerter und Vorschriften. Er hat sich nie vorstellen können, dass mit dem ganzen Gerede von Wahrheit und Gerechtigkeit etwas anzufangen wäre. Dieses Gedöns interessiert doch nur ein paar verrückte Spinner. Er versteht nicht, dass er hier einer Art der Machtausübung begegnet, die ihm überlegen ist.
Denn Pilatus hat Jesus wohl kreuzigen können, aber er konnte nicht verhindern, dass die Jesusbewegung einen Siegeszug durch das ganze Imperium antrat. 300 Jahre später gab das Imperium seine Versuche auf, diese Bewegung auf die brutale Art auszuradieren, weil es einfach nicht funktionierte.
Das heißt, was Jesaja zu seiner Zeit nur in Bildern vom zentralen Königtum beschreiben konnte, das entpuppt sich bei Jesus und seinen Nachfolgern als eine ganz dezentrale und neue Art der Ausübung von Macht. Leiten durch Wahrheit, leiten nicht von einer zentralen Stelle aus, sondern durch viele Menschen, die vom Heiligen Geist bewegt sind. Jesus lebt durch den Heiligen Geist in seinen Nachfolgern, und die durchdringen die Gesellschaft wie Sauerteig das Mehl. So kommt Jesus überall hin. Das kommt dem letzten Vers in unserem Jesaja-Abschnitt schon ziemlich nahe: das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt. Die Weisheit und Gerechtigkeit ist nicht mehr nur an einer Stelle in der Gesellschaft konzentriert, nämlich beim König, sondern sie breitet sich durch das ganze Land aus.
In den alten Zeiten war der König derjenige, der den Entscheidungsspielraum hatte, und alle anderen waren darauf angewiesen, dass er es gut machte. In der Christenheit kam dann zuerst die Vorstellung auf, dass jeder Anteil hat an dieser Aufgabe. Jesus ist König, Priester und Prophet zugleich, er ist es auf eine bisher ungeahnte Weise, und in all diesen Rollen sollen ihm die Christen nachfolgen. Das hat zur Folge gehabt, dass tatsächlich das Machtgefälle in den Gesellschaften immer flacher geworden ist, weil die Kompetenz der Menschen gewachsen ist. Auf dem Boden des christlichen Abendlandes hat es einen enormen Kompetenzschub für die einzelen Menschen gegeben, weil hier die Pilatus-Macht relativiert wird und die Einelnen mehr Spielraum bekommen, um ihre Fähigkeiten in Freiheit zu entwickeln. Immer weniger können Regierungen an den Menschen vorbei entscheiden, sie müssen sich schon was einfallen lassen, um ihre Leute hinter sich zu kriegen.
Und nun ist es die Aufgabe der Christen, auch weiterhin in den Gesellschaften durch die Wahrheit Einfluss auszuüben. Dass die Kirchen lange ein enges Bündnis mit der Macht eingegangen sind, hat der Sache Jesu sehr geschadet, gerade in unserem Land. Dadurch haben sich die Unterschiede zwischen der institutionellen Macht und der Macht der Wahrheit ganz schrecklich verwischt. Die Leute können sich Macht nur noch als politische Macht vorstellen, als Pilatus-Macht. Und wenn einer tatsächlich mal durch seine Integrität und Klarheit überzeugt (was leider selten genug vorkommt), dann warten alle nur auf die Enthüllung, dass auch der irgendwann mal getrickst und geschummelt hat.
Aber es ist gut, dass viele Menschen inzwischen ein Gespür für Echtheit bekommen haben und sich nicht so leicht täuschen lassen. Wir wollen wir doch auch gar keinen manipulativen Einfluss in der Gesellschaft ausüben. Aber wenn wir zukunftsfähige Lösungen zeigen können für die Probleme, an denen die ganze Gesellschaft leidet, dann werden wir tatsächlich Autorität haben, und zwar eine verdiente.
Es gibt so viele Probleme, an die im Augenblick niemand rangeht. Ich mag das gar nicht alles aufzählen. Unsere ganzen Lebensgrundlagen stehen doch im Augenblick auf dem Spiel. Wir werden schon bald sehr deutlich an unsere Grenzen stoßen. Wie werden wir in Zukunft zusammen leben, mit vielen unterschiedlichen Kulturen, mit einem Klima, das immer mehr aus dem Ruder läuft, mit Kranken- und Rentenversicherungen, die immer weniger Schutz bieten, mit einem Staat, der kaputtgespart wird, mit allen möglichen Verschiebungen und Erschütterungen, die wir heute noch kaum ahnen können? Wer sich dafür etwas Tragfähiges einfallen lässt (und es dann natürlich auch umsetzt!), der wird unsere Gesellschaft in die Zukunft leiten. Das ist die wirkliche königliche Aufgabe. Und das Gute ist, dass das heute jeder kann. Man muss sich dazu mit ein paar anderen zusammenschließen, aber man braucht dazu gar nicht mehr viel Geld oder Macht. Viel wichtiger sind gute Gedanken, Weisheit, Gerechtigkeit, Integrität, Mut und der Glaube an die eigene Berufung. Jeder kann damit beginnen. Lebenswerte Zukunft wird nicht von Mafiabossen und Lobbyisten gebaut, sondern von Menschen wie du und ich, die in der Wahrheit verankert sind.
Ich finde das kommt dem alten Bild von Jesaja schon ziemlich nahe, und es ist die konsequente Fortsetzung des Weges, den Jesus und die ersten Christen eingeschlagen haben.