Gott kommt, stärker denn je
Predigt am 29. November 2015 (1. Advent) zu Jeremia 23,5-8
5 Seht, es kommen Tage – Spruch des Herrn -, da werde ich für David einen gerechten Spross erwecken. Er wird als König herrschen und weise handeln, für Recht und Gerechtigkeit wird er sorgen im Land. 6 In seinen Tagen wird Juda gerettet werden, Israel kann in Sicherheit wohnen. Man wird ihm den Namen geben: Der Herr ist unsere Gerechtigkeit.
7 Darum seht, es werden Tage kommen – Spruch des Herrn -, da sagt man nicht mehr: So wahr der Herr lebt, der die Söhne Israels aus Ägypten heraufgeführt hat!, 8 sondern: So wahr der Herr lebt, der das Geschlecht des Hauses Israel aus dem Nordland und aus allen Ländern, in die er sie verstoßen hatte, heraufgeführt und zurückgebracht hat. Dann werden sie wieder in ihrem Heimatland wohnen.
In der Vorstellung vieler Menschen hat Religion etwas mit der Vergangenheit zu tun: Alte, heilige Texte in einer leicht altertümlichen Sprache; alte Ordnungen, von denen man nicht so recht weiß, ob sie in unseren modernen Zeiten noch greifen; Geschichten von früher, die ziemlich sagenhaft klingen.
Schwerpunkt auf der Zukunft
Auch Jeremia, der Prophet, redet von Geschichten, die damals schon ziemlich lange zurücklagen – der König David, die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei –, aber Jeremia nimmt in der Vergangenheit nur Anlauf, sein eigentliches Interesse liegt in der Zukunft, und er sagt: was unser Volk in der Vergangenheit mit Gott erlebt hat, die alten Geschichten aus der Vergangenheit, das ist noch gar nichts im Vergleich zu dem, was auf uns wartet! Ihr werdet noch ganz andere Dinge erleben. Was wir noch erleben werden, das stellt die großen Geschichten aus unserer Tradition weit in den Schatten!
Auch die alten Geschichten waren schon heftig
Wenn man die alten Geschichten hört, dann sind die eigentlich schon ziemlich heftig: Geschichten davon, wie Gott die Welt erschüttert und ungeahnte Bewegung anstößt. In einer Welt voller Sklaverei befreit er sein Volk, das zu Billiglöhnen die Dreckarbeit für die ägyptische Hochkultur machen musste. Alle anderen Völker hatten Könige, die sich als Garanten einer göttlichen Ordnung präsentierten, als Abkömmlinge von Geschlechtern, in deren Adern göttliches Blut fließt, und sie nahmen das Recht zu herrschen als ihr selbstverständliches Erbe in Anspruch. In Israel dagegen wählt sich Gott einen Hirtenjungen als König aus, nämlich David, ausgerechnet den jüngsten von 12 Brüdern, einfach, weil er auf das Herz eines Menschen achtet und nicht auf seine Herkunft oder seine Muskeln. Und wenn Gott nicht auf Herkunft und ehrwürdige Ordnungen achtet, das ermutigt dann auch die Menschen, darauf zu schauen, ob denn ein König seine Sache gut macht, oder ob er nur zu seinem eigenen Vergnügen auf dem Thron sitzt.
Also, in den alten Geschichten, jedenfalls in denen aus der Bibel, steckt schon ziemlicher Sprengstoff. Gott ist gekommen, immer wieder hat er die Welt erschüttert und das Unterste nach oben gekehrt. Aber, sagt Jeremia, das hat gerade erst angefangen, und es zieht immer weitere Kreise. Es wird einen richtig guten König geben, und mit dem kommt noch nicht mal der gute König David mit. Es wird noch einmal eine weltweite Befreiung geben, und gegenüber der wird die alte Geschichte von der Befreiung aus Ägypten klein und mickerig dastehen.
Der Hintergrund ist, dass der nördliche Teil Israels im Jahr 722 vor Christus von den Assyrern überfallen und verwüstet worden ist. Sie verschleppten 10 der 12 Stämme Israels in den Norden, und die sind seit dieser Zeit verschollen, ihrer Identität beraubt, zerstreut unter die Völker des assyrischen Reiches. Wenn Gott die wieder zurück bringen soll, dann ist das eine noch sehr viel schwerere Aufgabe, als Israel aus Ägypten zu befreien. Wenn Gott das hinkriegen will, dann muss er im Grunde die ganze Welt befrieden und die Geschichte noch mal neu schreiben, denn nur so könnte er alle 12 Stämme Israels wiederherstellen. Aber genau das wird er tun, sagt Jeremia.
Doppelte Blickrichtung im Advent
Die großen Taten Gottes in der Vergangenheit sind also »nur« ein Vorgeschmack dessen, was er noch tun wird. Die Art von Gottes Handeln bleibt gleich, aber die Reichweite wird immer mehr zunehmen. Gott ist schon immer angekommen unter uns, und das hat eine Welt voller Ungerechtigkeit und Unterdrückung in ihren Grundfesten erschüttert. Aber in der Zukunft wird er noch ganz anders kommen, stärker und tiefgreifender denn je.
Das ist die doppelte Blickrichtung im Advent: wir schauen zurück und sehen, wie Gott schon immer die Welt bewegt hat. Und wir schauen nach vorn und erwarten, dass er die ganze Welt mit seiner Herrlichkeit erfüllt und sein Friedensreich aufrichtet, in dem alle Tränen abgewischt werden und der Schmerz und das Leid der Vergangenheit noch einmal hervorgeholt und geheilt werden.
Aufbruch nach vorn
Deswegen geht es im biblischen Glauben nicht um die Rückkehr zu einer heiligen Ursprungs-Ordnung, sondern es ist ein Aufbruch nach vorne, einer Welt entgegen, von der wir noch gar nicht wissen, wie sie aussehen wird. So wie die Bibel mit dem Paradies beginnt, aber das Ziel der Geschichte ist nicht die Rückkehr in den Garten Eden, sondern das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, lässt uns Ausschau halten nach der Stadt Gottes, nach dem neuen Jerusalem, zu der auch ein Garten und Bäume des Lebens gehören, aber es wird eine Verbindung von Schöpfung und menschlicher Arbeit sein, eine Synthese von Natur und Kultur, die die Herrlichkeit des Paradieses weit in den Schatten stellen wird.
Und selbst bei Jesus finden wir den Gedanken, dass seine Nachfolger in der Kraft des Heiligen Geistes noch größere Werke tun werden als er getan hat (Johannes 14,12). Jesus ist zweifellos das authentische Bild Gottes unter uns, das kann niemand mehr übertreffen, aber sein Einfluss auf den Lauf der Welt, die Veränderungen, die durch ihn gekommen sind, das alles hat immer weiter zugenommen. Gott transformiert schon jetzt die Schöpfung in die neue Stadt. Und was wir inzwischen an Kultur und Wissen und Technik und vielem anderen gelernt haben, das gehört dazu, das sind Bausteine der neuen Welt.
Gott als Störfaktor
Gleichzeitig versucht das Chaos in der Welt, all dies Gute zu kontaminieren. All die Segnungen in Mittel der Zerstörung zu verwandeln. Und dabei ist es leider durchaus nicht erfolglos. Es gibt Kampf darum. Die Welt wehrt sich, sie versucht Gott draußen zu halten, sie sagt: bleib weg und lass uns allein unsere Angelegenheiten regeln. Hör auf, alles durcheinander zu bringen!
Aber Gott kommt immer wieder neu, immer heftiger klopft er ans Tor der Welt, von allen Seiten umgibt er uns – und für die Einen ist das ein Trost und für die anderen ist das eine schreckliche Vorstellung.
Und durch alle menschliche Verwirrung und Bosheit hindurch verfolgt Gott weiter sein Ziel: Gerechtigkeit und Frieden. Menschen sollen sicher wohnen können. Menschen sollen gut regiert werden, so dass man sich freuen kann über den König (oder wer immer seine Funktion ausübt). Und auch alles, was uns bedroht und Angst macht, ist nicht stärker als Gott. Alle Umwälzungen und Erschütterungen sind eher ein Hinweis darauf, dass Gott am Werk ist, dass er nicht aufgibt, dass er für uns immer wieder neue Chancen und Möglichkeiten schafft. Gott kommt – das ist die wichtigste Kraft in der Welt, die zentrale Tatsache, und man kann die Welt nicht verstehen, wenn man das übersieht. Alle Erschütterungen in der Welt haben damit zu tun, dass Menschen Ihn abwehren wollen, dass sie Seiner Liebe und Fürsorge misstrauen, dass sie sich sperren und sich gegen Ihn behaupten wollen.
Ein König, der seinen Namen (nicht) verdient
Deshalb ist der Name des neuen Königs »Der Herr ist unsere Gerechtigkeit«. Zur Zeit Jeremias lebte ein König mit dem Namen Zedekia, und dieser Name bedeutet genau das: der Herr ist unsere Gerechtigkeit. Aber dieser Zedekia war schwach und wankelmütig, mal gerecht und mal nicht, er hatte keinen inneren Kompass und orientierte sich in seiner Politik an den Meinungsumfragen und der Stimmung im Lande, und so führte er sein Land in die Katastrophe.
Und Jeremia sagt: eines Tages wird es einen echten Zedekia geben, einen König, der auf das Werk Gottes vertraut und dann nicht so hin und her gerissen ist, jemanden mit einem inneren Kompass, der auf ganz andere Weise herrscht, mit der Wahrheit Gottes im Rücken. Und als Jesus dann kam, da wurde es sichtbar, wie man Menschen leiten kann ohne all die Unterdrückungsinstrumente, die in der Menschheitsgeschichte entwickelt worden sind, um Menschen zu bezwingen und zu manipulieren. Jesus war sozusagen der König der Herzen, der kein Amt brauchte, um Menschen zu leiten.
Wenn Jesus kommt, dann verändert sich der Inhalt des Wortes »Herrschen«. Dann verliert es sein gewalttätiges Aroma, und wir verstehen, dass Menschen am besten so regiert werden, dass das Gute in ihnen hervorgelockt wird und sie auf Gottes Wirken vertrauen, der seine Welt liebt und ihr in guten wie in bösen Tagen die Treue hält.