Jeremia – das Herz einer biblischen Schlüsselperson
Predigt am 11. März 2007 zu Jeremia 20,7-13
Heute hören wir auf einen Abschnitt aus dem Buch Jeremia. Jeremia ist ein Prophet aus dem Alten Testament. Er war einer, der mitten unter Anfeindungen die Wahrheit Gottes aussprach. Über Jahre kündigte er an, dass Gott Unrecht und Gewalt bestrafen würde, und die Leute lachten ihn aus. Aber dann kamen die Babylonier, zerstörten Jerusalem und verschleppten das Volk in ein fremdes Land. Als sie sich dort wiederfanden – demoralisiert, machtlos, auf dem Abfallhaufen der Geschichte -, da dämmerte es ihnen: Jeremia hat Recht gehabt. Der hat klarer gesehen als wir alle. Aber da war Jeremia schon tot.
Doch dann geschah etwas, was in der Weltgeschichte wohl ziemlich selten ist: ein ganzes Volk sah ein, dass sie auf falschen Wegen gegangen waren, sie bereuten und kehrten um. Bald darauf ließ Gott sie wieder in ihr Land zurückkehren. Und sie sammelten die Worte Jeremias, weil sie wussten: der hat wirklich Recht gehabt. Wir wollen von jetzt ab auf seine Worte hören. Und so ist das Buch Jeremia in die Bibel gekommen.
Etwas ganz ähnliches ist bei uns nach dem zweiten Weltkrieg passiert: da hat man auf die Leute gehört, die schon früh vor den Nazis gewarnt haben. Und so verdanken wir z.B. unser Grundgesetz solchen Leuten, die im Widerstand gegen Hitler verstanden haben, wie wichtig die Freiheit und die Menschenrechte sind.
Das klingt jetzt alles ein bisschen nach »Ende gut, alles gut«. Und man kann sagen, Gott hat diese schlimme Zeit der Verschleppung und Gefangenschaft benutzt, um seinem Volk ganz entscheidende Einsichten zu geben. Aber aus der Sicht Jeremias sah das noch einmal anders aus. Jeremia hat einen Preis bezahlen müssen. Er ist über Jahre angefeindet und verspottet worden, und er hat es nicht mehr erlebt, dass die Leute ihm schließlich Recht gaben.
Nach außen sah es so aus, als ob er unbeugsam wäre, ein Mann mit unheimlichen Nehmerqualitäten, den nichts von seinem Weg abbringen konnte. Aber in ihm drin sah es in manchen Zeiten ganz anders aus. Und davon spricht der heutige Predigttext – er ist von Jeremia selbst. Und er fängt damit an, dass Jeremia sagt: ich komme mir vor wie eine junge Frau, die sich unüberlegt mit einem Mann eingelassen hat und jetzt die Folgen tragen muss:
7 Du hast mich verführt, Herr, und ich habe mich verführen lassen; du hast mich gepackt und mir Gewalt angetan. Nun spotten sie immerzu über mich, alle lachen mich aus. 8 Denn sooft ich in deinem Auftrag rede, muss ich Unrecht anprangern. »Verbrechen!«, muss ich rufen, »Unterdrückung!« Und das bringt mir nichts als Spott und Hohn ein, Tag für Tag. 9 Aber wenn ich mir sage: »Ich will nicht mehr an Gott denken und nicht mehr in seinem Auftrag reden«, dann brennt dein Wort in meinem Innern wie ein Feuer. Ich nehme meine ganze Kraft zusammen, um es zurückzuhalten – ich kann es nicht. 10 Viele höre ich tuscheln, sie nennen mich schon »Schrecken überall«. Die einen fordern: »Verklagt ihn!« Die anderen sagen: »Ja, wir wollen ihn anzeigen!« Sogar meine besten Freunde warten darauf, dass ich mir eine Blöße gebe. »Vielleicht bringen wir ihn dazu, dass er etwas Unvorsichtiges sagt«, flüstern sie, »dann können wir uns an ihm rächen!« 11 Doch du, Herr, stehst mir bei, du bist mein mächtiger Beschützer! Deshalb kommen meine Verfolger zu Fall, sie richten nichts aus. Ihre Pläne misslingen und sie müssen sich auslachen lassen. Diese Schande bleibt für immer an ihnen hängen.
Das ist das Innenleben eines Mannes, der mit seinen Worten die Geschichte des Volkes Israel entscheidend beeinflusst hat – und damit auch den ganzen Lauf der Weltgeschichte. Wäre er eingeknickt, dann hätte sein Volk nicht später sagen können: ja, der hat Recht gehabt. Und dann wäre es vielleicht einfach untergegangen. Jeremia hat entscheidend dafür gesorgt, dass unter den Menschen ein entscheidender Gedanke möglich wurde: dass Umkehr auch rein äußerlich Rettung bringt.
Dieser Mann erlebte seine Aufgabe aber als eine endlose, lebenslange Bedrängnis. Es gab diese Momente, da hätte er Gott seinen Auftrag am liebsten vor die Füße geworfen und gesagt: »such dir einen anderen dafür! Warum muss ich denn wegen dir dauernd in Konflikte geraten? Warum muss ich mich immer wieder unbeliebt machen? Warum muss ich immer wieder ‚Unrecht!‘ rufen und Unterdrückung anprangern?«.
Jeremia hatte keine Glaubenszweifel oder so etwas, sondern er hatte Probleme mit der extremen Minderheitsposition, in die er durch Gott geriet. Die Leute lachten ihn nicht nur aus oder beschimpften ihn, sie brachten ihn mehr als einmal in Lebensgefahr. Sie versuchten ihm irgendetwas anzuhängen, wofür er bestraft werden konnte. Hätte es damals schon Kommunisten gegeben, sie hätten ihn als Kommunist beschimpft. Hätte man damals schon Angst vor Bombenlegern gehabt, dann hätten sie von ihm gesagt, er wäre ein Terrorist. Jeremia musste jedes seiner Worte auf die Goldwaage legen. Das muss eine wahnsinnige Anspannung gewesen sein.
Und es gab dann die Augenblick, wo Jeremia das einfach nur los sein wollte. Da hätte er am liebsten einfach aufgehört. Aber jedes Mal, wenn er sich das vornahm, dann, so sagt er, »brennt dein Wort, Gott, in meinem Innern wie Feuer«. Ja, er kam sich vor wie eine junge Frau, die sich in einen Mann verliebt hat, der ihr nur Unglück bringt, aber sie kommt nicht von ihm los.
Erinnert Sie das Ganze an jemand anders? Richtig, diese Minderheitsposition, in die ist auch Jesus geraten. Auch seine Worte wurden dauernd darauf getestet, was man ihm anhängen könnte. Und er ist auch am Ende verspottet und beschimpft worden, als er am Kreuz hing. Auch er musste diesem enormen Druck standhalten. Auch er hat zum Schluss nicht verstanden, wieso das alles sein musste. Jeremia ist sein Vorgänger gewesen, und Jesus konnte seinen Weg bis zum Ende gehen, weil da Jeremia vor ihm gewesen war und er von ihm schon wusste, dass es für einen Menschen Gottes in Ordnung geht, wenn er unter Druck gerät. Wenn Jesus davon redete, dass die Propheten verfolgt werden, dann hatte Jeremia in seinen Gedanken bestimmt einen Ehrenplatz.
Und es ist tatsächlich so, dass Gott seine Pläne ganz oft nur dadurch verwirklichen kann, dass er Menschen in eine Minderheitsposition bringt, wo sie zuerst einmal ganz allein sind, beschimpft und verspottet werden.
Als im 17. Jahrhundert in England die ersten Menschen auf den Gedanken kamen, dass Sklaverei unmenschlich sei und verboten werden sollte, da war das für ihre Zeitgenossen ein merkwürdiger Gedanke. Sklaverei hatte es schon immer gegeben, was war denn so schlimm daran? Granville Sharp, ein fähiger Anwalt und begabter Flötenspieler, kam 1765 irgendwie dazu, einen jungen afrikanischen Sklaven vor Gericht zu vertreten. Der war von seinem Besitzer beinahe totgeschlagen worden, und Sharps Bruder, ein Arzt, hatte ihn behandelt. Als er wieder gesund war, spürte sein Besitzer ihn auf und wollte ihn nach Westindien verkaufen. Dagegen klagte der Sklave, und Granville Sharp vertrat ihn vor Gericht. Das war für ihn die entscheidende Begegnung: er konnte sich nicht damit abfinden, dass ein Mensch, den er kannte und schätzte, wie ein Gegenstand verkauft werden sollte. Von nun an kämpfte Sharp gegen die Sklaverei. 1772 erreichte er ein Gerichtsurteil, das die Sklaverei in England abschaffte.
Aber inzwischen ging es ihm um mehr: die Abschaffung der Sklaverei überhaupt, auch auf den Zuckerrohrplantagen in Amerika. Das brachte ihn in Konflikt mit mächtigen Interessenverbänden. Die Zuckerindustrie sah ihre Geschäfte bedroht, wenn Sklaverei ungesetzlich wäre.
Sharp dagegen tat sich mit den Quäkern zusammen, einer kleinen, radikalen christlichen Gruppe. Das war 1783 und ein entscheidender Schritt. Die Quäker waren gewohnt, eine Minderheit zu sein. Überall entstanden jetzt im Umfeld der Quäker Anti-Sklaverei-Gruppen. Sie organisierten Zucker-Boykottaktionen. Die Zuckerwirtschaft machte Gegenpropaganda. U.a. behaupteten sie, es wäre schädlich für die Zähne, wenn man keinen Zucker mehr essen würde!
Aber Stück für Stück veränderte sich die öffentliche Meinung. 1807 wurde der Handel mit Sklaven im ganzen britischen Weltreich verboten, und 1833 wurde die Sklaverei überhaupt. Und alles hatte damit begonnen, dass Granville Sharp einem Gespür für Menschlichkeit gefolgt war und gegen die allgemeine Meinung seiner Zeit diesen jungen Schwarzen vor Gericht verteidigt und so seine eigene Berufung entdeckt hatte.
Aber die Geschichte geht noch weiter. In Amerika dauerte der Kampf gegen die Sklaverei viel länger, und auch dort waren vor allem die Quäker beteiligt. Sie organisierten Fluchtmöglichkeiten für Sklaven und nahmen es in Kauf, dafür bestraft zu werden. Einer der Aktivisten aus dieser Bewegung heiratete eine junge Frau aus New York, Elisabeth Cady. Sie lernte durch ihn diese Bewegung kennen, und in dieser Zeit reifte in ihr die Idee, dass es Gleichberechtigung auch für Frauen geben sollte. 1848 veranstaltete sie mit einigen anderen den ersten Kongress für Frauenrechte. Sie forderten das Wahlrecht für Frauen. Später schrieb sie: »Wenn ich auch nur eine leise Ahnung gehabt hätte, was das für Folgen haben sollte, dann hätte ich wahrscheinlich nicht den Mut gehabt, das zu riskieren.« In der ganzen amerikanischen Presse wurde die neue Bewegung lächerlich gemacht. Elisabeth Cady Stanton bekam den Sturm voll ins Gesicht. Aber sie war sich sicher, dass sie richtig lag. Im Rückblick schrieb sie: »Es war, als ob alle wichtigen Erfahrungen meines Lebens sich verschworen hätten, um mich zu einem Schritt nach vorn zu drängen.« Auch hier wieder dieses Gefühl, das schon Jeremia kannte: ich kann doch gar nicht anders, ich muss das tun, und wenn ich auf noch so viel Widerstand stoße.
In dieser schwierigen Lage fand auch sie Hilfe bei den Quäkern und dem Anti-Sklaverei-Netzwerk. Wieder waren da Menschen, die von ihrer Tradition her gewohnt waren, in der Minderheit zu sein und sich nicht an der allgemeinen Meinung, sondern an Gott zu orientieren. Dass ein englischer Anwalt sich 1765 für einen schwarzen Sklaven einsetzte, das hatte nun ein Jahrhundert später entscheidende Folgen für die Situation der Frauen zuerst in Amerika und später in der ganzen Welt. Wenn Gott dich heute dazu bringt, einen Stein ins Wasser zu werfen: du kannst nicht wissen, bis wohin die Wellen noch gehen werden.
Wenn man erstmal aufmerksam geworden ist, dann merkt man, wie ganz viele dieser Freiheitsbewegungen unterirdische Verbindungen haben und sich gegenseitig inspirieren. Die eine Bewegung macht es der nächsten leichter.
Und wenn man genau hinschaut, dann stehen am Anfang fast immer christliche Einflüsse und Netzwerke, oft am Rande der offiziellen Kirchen. Ich denke, dass Jeremia heute das alles sieht und sich daran freut und versteht, warum Gott ihn damals in diese Minderheitenposition brachte, die für ihn mit so viel Qual verbunden war. Er war nicht der erste, dem es so ging, aber er ist eine äußerst wichtige Schlüsselfigur. Ohne sein Durchhalten wäre sein Volk nicht durchgebrochen zu einem neuen Verständnis von Gottes Willen, es wäre mit einer Religion nach dem Muster »Gott-ist-auf-unserer-Seite-und-deshalb-sind-wir-die-Größten« einfach untergegangen. Ohne das Studium von Jeremias Schriften hätte Jesus seine Rolle wahrscheinlich nicht verstehen können. Paulus beschreibt seine eigene Berufung unter Rückgriff auf Jeremia.
So viel tut Gott durch einen Menschen, der innerlich oft so zerrissen und unglücklich war, der zu seinen Lebzeiten von seinem Volk nie akzeptiert worden ist. So viel vertraut Gott einem Menschen an, obwohl er innerlich überhaupt kein strahlender Held ist.
Wenn Jesus davon spricht, dass er von Gott alle Macht in dieser Welt bekommen hat, dann ist das völlig real gemeint. Wir hören das nur oft mit etwas ungläubigen Ohren, weil wir vergessen haben, wie diese Macht aussieht. Es ist Macht, die sich in Menschen entfaltet, die am Rande stehen, abseits des gesellschaftlichen Mainstreams, oft allein und verspottet oder verleumdet, Menschen, die manchmal wie Jesus keinen Platz haben, wo sie ihr Haupt hinlegen können, und die sich nicht auf die allgemeinen Überzeugungen stützen können. Aber diese Armut ist gerade die Stärke, weil man so auf die Kraft von jenseits der Welt angewiesen bleibt.
Und die Gesellschaft lebt davon, dass es solche Bewegungen gibt. Die Gesellschaft würde sich selbst zerstören ohne Menschen wie Jeremia und Granville Sharp und Elisabeth Cady Stanton und all die anderen. In ihnen allen spiegelt sich etwas wider von Jesus, der in der Mitte der Zeit gekommen ist.
Es geht im Evangelium nicht um ein nettes Hobby oder eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung für die Zeit, wenn man mal pensioniert ist, sondern um eine Entscheidung, die zu einem kommt und das eigene Leben und die Welt nicht so lässt, wie sie sind.