Rhythmen des Lebens (1): Frühling
Predigt am 4. März 2007 mit Hohelied 2,11-13
Der Frühling bedeutet das Ende des langen, dunklen Winters. So lange hat das Leben unter einer kalten Decke stillgestanden. Und jetzt kommt es mit Macht heraus, als erstes die Schneeglöckchen, die schon mitten in der Kälte zu sehen sind.
Und dann liegt irgendwann die Erde nackt da, noch nicht grün, sondern noch ganz fahl, und wartet darauf, dass die Wärme auch wirklich das Leben aus dem Boden hervor lockt. Wir riechen die frische Luft, die ein bisschen milder geworden ist. Wir spüren die ersten Vorboten des Kommenden.
Die Sonne scheint länger, es wird abends nicht mehr so früh dunkel und morgens ist es beim Aufwachen schon wieder ein bisschen hell. Und alles hat den Zauber des Anfangs.
Es könnte allerdings sein, dass wir diese Beschreibung des Winters in Zukunft korrigieren müssen. Wir merken alle, dass die Winter keine richtigen Winter mehr sind, das klare, kalte Winterwetter wird immer weniger, und stattdessen wird aus dem Winter eines Art dauernder November mit trübem Wetter und viel Regen. Das spart uns zwar Heizkosten, aber es ist nicht wirklich besser. So eine graue, eintönige Jahreszeit kann viel mehr aufs Gemüt schlagen als knackige Kälte und klarer Himmel.
In Israel ist ja der Winter auch früher nie so kalt gewesen wie hier bei uns. Das liegt einfach viel südlicher, und dort in der Mittelmeerzone hat es schon immer den Winterregen gegeben.
Deshalb heißt es im Hohelied (2,11-13):
Mach schnell, mein Liebes! Komm heraus, geh mit! Der Winter ist vorbei mit seinem Regen. 12 Es grünt und blüht, so weit das Auge reicht. Im ganzen Land hört man die Vögel singen; nun ist die Zeit der Lieder wieder da! 13 Sieh doch: Die ersten Feigen werden reif; die Reben blühn, verströmen ihren Duft. Mach schnell, mein Liebes! Komm heraus, geh mit!
Frühling bedeutet Neuanfang. Das Wunder des neuen Lebens nach der langen Zeit der Stagnation. Und dieser Neuanfang berührt uns meistens ganz besonders. Wir müssen nur einen neugeborenen Menschen ansehen oder das junge Grün der Blätter, wenn sie noch nicht die Spuren eines langen, heißen und staubigen Sommers tragen.
Ich bin einmal genau an dem Tag, an dem sich die jungen Blätter wie auf Verabredung alle auf einmal ausrollten, durch ein Mittelgebirge gefahren, und obwohl das jetzt dreißig Jahre her ist, erinnere ich mich immer noch an dies zarte junge Grün. Ich weiß auch nicht, ob jemand mal statistisch untersucht hat, ob sich die Menschen wirklich so zahlreich im Mai verlieben, aber stimmungsmäßig passt das natürlich: das zarte junge Grün, die aufbrechenden Blüten und der Anfang der Liebe zwischen Menschen.
Die großen Taten Gottes geschehen ebenfalls im Frühling. Als er das Volk Israel aus Ägypten befreite, da tat er es im Frühling. Und im Frühling sollen sie auch die Erinnerung daran feiern, das Passahfest. Damals hat es die Wende gegeben von der Sklaverei zur Freiheit. Und viele Jahre später war es an so einem Passahfest, als Jesus vom Tod auferstand und mit einem frischen neuen Leben den Jüngern begegnete.
Die Auferstehung ist die schönste Frühlingsgeschichte. Als sie Jesus ins Grab legten, da war für seine Jünger und die ganze Welt Winter. Aber am dritten Tag kam der Frühling, und Jesus verließ sein Grab. Und er ging nicht zurück, er ließ den Winter für immer hinter sich. In der neuen Welt Gottes wird es keinen Winter mehr geben, sondern dort tragen die Bäume das ganze Jahr über Blüten und Früchte.
Es ist also kein Zufall, dass Ostern, das Fest der Auferstehung, im Frühling liegt. Da haben zwar Leute gesagt: er ist einfach ein Symbol für den Neuanfang im Frühling, aber es ist gerade umgekehrt: wir können diesen Neuanfang nur deshalb richtig feiern, weil wir wissen, dass es durch die Auferstehung einen Neuanfang ein für allemal gegeben hat. Wenn wir das nicht wüssten, dann könnten wir voll Resignation sagen: ja, natürlich kommt der Frühling, aber irgendwann ist auch wieder Winter, es ist ein ewiger Kreislauf, und wir kommen da nicht raus. Es gibt Weltanschauungen und Religionen, die haben so ein Weltbild, mit einem Fachausdruck: ein zyklisches Weltbild, nach dem sich nichts ändert und alles im Kreis läuft und sich nur wiederholt.
Aber die Auferstehung sagt uns, dass die Welt nicht in einem ewigen Kreislauf gefangen ist, sondern es gibt tatsächlich eine Tendenz, eine unumkehrbare Richtung auf die neue Welt hin. Und deshalb können wir uns wirklich am zarten Zauber des Neuanfangs freuen. Hermann Hesse hat ja geschrieben:
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Dieser Zauber in allen Anfängen ist in Wirklichkeit die Auferstehung Jesu. Sie ist das Geheimnis hinter der Freude, die mit Neuanfängen verbunden ist. Sie gibt uns das Vertrauen in den Anfang von neuen Wegen.
Wenn wir an die Szene am Anfang denken: der Kranke schwankt da hin und her zwischen diesem herrlichen Gefühl, das Klinikbett endlich hinter sich lassen zu können und der Sorge, ob er das schon schafft und ob die lange Zeit, in der er aus dem Verkehr gezogen war, ob die denn wirklich schon Vergangenheit ist. Aber letztlich überwiegt der Blick nach vorn.
Überlegen Sie mal, welche Neuanfänge und Aufbrüche man so erleben kann. Von den frisch Verliebten habe ich schon gesprochen. Oder wenn man umgezogen ist und an einem neuen Ort anfängt und alles mit großer Neugier anschaut – was einem da alles auffällt, was man später gar nicht mehr sieht.
Noch viel spürbarer ist dieser Zauber, wenn ein Mensch neu geboren ist und verwundert in die Welt schaut. Wenn man das miterlebt, wie sich von Tag zu Tag der Eindruck verstärkt, dass da in dem kleinen Kopf wirklich jemand ist, dass sich da hinter den Augen eine Person entfaltet und jeden Tag wächst, nicht nur äußerlich, sondern dass da auch eine Seele den Raum entdeckt, den sie einnehmen soll. Und das hilft den Eltern, den fehlenden Schlaf und die ständige Belastung zu ertragen.
Und dann eben diese Aufbrüche in die Freiheit, deren Urbild die Befreiung Israels aus Ägypten war. Der biblische Glaube ist voll solcher Aufbrüche. Von Abraham an bis hin zu Jesus, immer wieder heißt es: steh auf, lass alles hinter dir und komm mit in ein neues Land, zu einer neuen Aufgabe. Und selbst wenn wir eines Tages sterben ist das in christlicher Sicht ein Aufbruch in ein neues Land voller Verheißung.
Deswegen gedeiht das Christentum nicht recht, wenn es in starre Strukturen und feste Gebäude eingemauert wird. Wir sollen stattdessen offen sein für den Ruf Jesu, der uns vorangeht und immer wieder aufbricht in die nächste Stadt. Natürlich kann man auch nach solchen Aufbrüchen und dem entsprechenden Kick süchtig werden, so wie manche Leute sagen: »ich muss mich mal wieder verlieben, ich brauche das wieder«. Es geht nicht darum, das Gefühl des Aufbruchs immer wieder zu reproduzieren, nach dem Frühling gibt es ja noch drei andere Jahreszeiten, aber wir sollen bereit sein, dem Ruf Jesu zu folgen, wenn wir ihn hören. Und dann sollen wir eben auch den Zauber empfinden, der mit solchen Anfängen verbunden ist. Wenn man etwas Neues wagt, das ist auch immer mit so vielen Unsicherheiten und Ängsten verbunden, es ist alles viel gefährdeter als sonst, da brauchen wir diese gewisse Euphorie des Neuen dringend, um alle Energien zu mobilisieren. Sie ist sozusagen die Prämie für die Mutigen und der Trost für alle, die ohne ihren Willen in so einen Aufbruch hineingeraten sind.
Wenn wir uns dem Geist Gottes öffnen, dann lassen wir den Geist in unser Leben, der Jesus von den Toten auferweckt hat. Dann muss der Winter eines toten und erstarrten Lebens weichen. Im Palm 147 wird der Frühling zusammengebracht mit Gottes Wort, das die erstarrte Welt wieder in Bewegung bringt:
18 Wenn er ein Wort spricht, beginnt es zu tauen; sein Atem lässt die Bäche wieder fließen. 19 Seine Weisungen gibt er den Nachkommen Jakobs, Regeln für das Leben seines Volkes Israel.
Vielleicht kennen Sie ja auch aus Ihrem Leben Zeiten der Erstarrung, wo alles unbeweglich und tot zu sein schien. Wenn man völlig erschöpft ist, oder wenn man einen schlimmen Verlust erlebt hat, dann kann sich das Leben so anfühlen, als ob alles unter Eis und Schnee erstarrt ist. Und dann sehnt man sich danach, wie ein Bär in der Höhle einfach nur Winterschlaf zu halten. Und das kann auch sinnvoll sein, sich für eine Zeit zurückziehen und einfach nur zu warten, dass die Kräfte zurückkommen. Der Kranke in der Szene am Anfang hatte so eine Zeit hinter sich: aus dem Leben herausgerissen, in seiner Aktionsfähigkeit eingeschränkt, ohne Kraft und ohne Freude. Und auch wenn wir nicht daran schuld sind, dass einer im Krankenhaus liegt, es ist trotzdem eine Überwindung, da hinzugehen und diese winterliche Situation zu teilen, weil das ja einen selbst auch angreift. Aber nur so können wir auch die Freude miterleben, wenn der Winter endlich weichen muss und einer voll Freude und Staunen jedes bisschen neue Kraft begrüßt. Nur so können wir auch Vertrauen in Gott finden, wenn wir das wirklich miterleben, wie sein Wort die erstarrte Wirklichkeit in Bewegung bringt.
Die beste Hilfe in Winterzeiten des Lebens ist es, wenn man zu einer Gemeinschaft dazugehört, die aus dieser Kraft der Auferstehung lebt. Ich habe bisher nur selten erlebt, dass dann auf einen Schlag der Schnee und das Eis in einem Leben geschmolzen sind. Vielleicht kommt das ja noch. Aber was ich immer wieder erlebt habe, das ist, wie diese frühlingshafte Kraft der Auferstehung nach und nach Menschen aufgetaut und neu ins Leben gerufen hat. Der Frühling kommt ja auch selten auf einen Schlag. Man möchte glauben, dass der Winter hinter einem liegt, aber manchmal streckt er doch noch wieder seine eisigen Finger nach einem aus.
Aber weil Jesus auferstanden ist, deshalb wohnt in der Welt eine unbändige Tendenz hin zum Frühling, zum Neuanfang, zum Aufbruch. Also, auch in dieser Zeit, in der der trübe Winter immer noch so präsent zu sein scheint, achten Sie auf die ersten Blüten, auf das erste zarte Grün, auf die Knospen, die nur darauf warten, dass die Zeit zum Aufbrechen kommt und auf alle anderen Anzeichen des Lebens. Und verstehen Sie, dass diesen zarten Zeichen die Zukunft gehört. Kommt in den Frühling!