Gottes Volk wird neu erschaffen
Predigt am 28. Mai 2023 (Pfingsten I) zu Hesekiel 37,1-14
37,1 Ich spürte, wie der HERR seine Hand auf mich legte. Er führte mich im Geist durch die Luft und setzte mich mitten in der Ebene nieder. Der ganze Boden war mit Totengebeinen bedeckt.
2 Der HERR führte mich überall herum und zeigte mir die Gebeine. Es waren unzählige, und sie waren völlig ausgetrocknet. 3 Dann fragte er mich: »Du Mensch, können diese Knochen wieder zu lebenden Menschen werden?« Ich antwortete: »HERR, das weißt nur du!«
4 Und er fuhr fort: »Rede als Prophet zu diesen Gebeinen! Ruf ihnen zu: ‚Ihr vertrockneten Knochen, hört das Wort des HERRN! 5 So spricht der Herr, der mächtige Gott, zu euch: Gebt acht, ich bringe Lebensgeist in euch, und ihr werdet wieder lebendig!6 Ich lasse Sehnen und Fleisch auf euch wachsen und überziehe euch mit Haut. Und dann hauche ich euch meinen Lebensgeist ein, damit wieder Leben in euch kommt. Ihr sollt erkennen, dass ich der HERR bin!’«
7 Ich tat, was der HERR mir befohlen hatte. Während ich noch redete, hörte ich es rauschen. Die Knochen rückten zueinander, so wie sie zusammengehörten. 8 Ich sah, wie Sehnen und Fleisch darauf wuchsen und sich eine Haut bildete. Aber es war noch kein Lebensgeist in ihnen.
9 Da sagte der HERR zu mir: »Du Mensch, sprich als Prophet zum Lebensgeist, sag zu ihm: ‚So spricht der Herr, der mächtige Gott: Komm aus allen vier Himmelsrichtungen und hauche diese Toten an, damit wieder Leben in sie kommt!’«
10 Ich tat, was der HERR mir befohlen hatte. Da kam der Lebensgeist in sie, und sie wurden lebendig und standen auf. Es war eine riesige Menschenmenge.
11 Dann sagte der HERR zu mir: »Du Mensch, diese Totengebeine sind das Volk Israel. Du hörst doch, wie sie sagen: ‚Unsere Gebeine sind vertrocknet, unsere Hoffnung ist dahin; wir haben keine Zukunft mehr!‘ 12 Darum rede als Prophet zu ihnen und sage: ‚So spricht der Herr, der mächtige Gott: Gebt acht, ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, heraus; ich führe euch heim ins Land Israel. 13 Ihr werdet erkennen, dass ich der HERR bin, wenn ich das tue – wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus ihnen heraushole. 14 Ich gebe meinen Geist in euch, damit wieder Leben in euch kommt, und bringe euch in euer Land zurück. Ihr sollt erkennen, dass ich das angekündigt habe und dass ich tue, was ich sage, ich, der HERR.’«
Der Prophet Hesekiel lebte in den Jahren vor und nach der endgültigen Zerstörung Jerusalems. Er war selbst davon betroffen, als 597 ein großer Teil der Oberschicht nach Babylon verschleppt wurde. Da haben sie sich noch Hoffnungen gemacht, dass es irgendwie wieder gut werden könnte. Vielleicht würde Gott ihnen doch noch helfen. Aber 10 Jahre später wurde Jerusalem endgültig erobert und völlig zerstört; insbesondere den Tempel gab es danach nicht mehr. Danach wurden auch große Teile der gewöhnlichen Bevölkerung in langen Kolonnen nach Babylon verschleppt. Jerusalem und das Königreich Juda hatten aufgehört zu existieren. Damit gab es nichts mehr, woran man noch irgendeine Hoffnung festmachen konnte. Und in der Vision Hesekiels wird die Selbsteinschätzung der Menschen zitiert:
‚Unsere Gebeine sind vertrocknet, unsere Hoffnung ist dahin; wir haben keine Zukunft mehr!‘
Diese Vision hat Hesekiel dort in Babylon, im Exil. Er sieht eine große Ebene voll mit Menschenknochen, vielleicht denkt er ja an das Schlachtfeld rund um Jerusalem, und Gott sagt ihm: das ist ein Bild für eure Situation. Es gibt noch Überreste von dem, was ihr früher mal wart, aber in denen ist kein Leben mehr drin. Das sind noch nicht mal mehr Leichen, sondern es sind nur noch vertrocknete Knochen da: ein Zerfall, der nicht mehr rückgängig zu machen ist.
Gottes Volk: am Ende
Das ist die Lage, und so sieht Gott sein Volk: die einzelnen Menschen mögen noch leben, aber das Volk als Ganzes ist tot, an sein Ende gekommen, es gibt nichts mehr, worauf man seine Hoffnung setzen könnte.
Immer wieder kommt Gottes Volk auf Erden in solche Situationen: es ist zu Ende, es geht nicht mehr weiter. Nichts, woran man noch anknüpfen könnte. Das war 70 nach Christus wieder so, als das wiederaufgebaute Jerusalem ein weiteres Mal vernichtet wurde. Und lasst uns ehrlich sein: wir steuern gerade hier in Europa auf eine ähnliche Situation zu, wo unsere Art des Christseins an ihr Ende kommt. Dass seit letztem Jahr noch nicht mal mehr 50 % der Bevölkerung bei uns irgendeiner Kirche angehören, ist nur ein äußeres Zeichen dafür. Wenn man hinter die Fassade schaut, dann merkt man vor allem, dass schon lange die christliche Substanz bei uns erbärmlich dünn geworden ist. Die Gebäude stehen noch, die Organisation arbeitet noch, wenn auch mühsam, aber die Lebenskraft dahinter schwindet.
Wir sind vielleicht noch in der Situation, wo es ein paar Reste gibt, an denen man Hoffnung festmachen kann. Wir sind noch nicht ganz so weit, dass wir schon sagen müssten: ‚Unsere Gebeine sind vertrocknet, unsere Hoffnung ist dahin; wir haben keine Zukunft mehr!‘ Aber wir sind auf dem Weg dorthin.
Strohhalm-Hoffnungen
Ich habe zur Vorbereitung auf die Predigt heute eine 65 Jahre alte Auslegung dieses Textes gelesen [für Fachleute: GPM 14, S. 148, von Walther Zimmerli]. Damals waren fast alle hier bei uns noch Kirchenmitglieder. Aber damals schon hat jemand hellsichtig von der großen geistlichen Armut geschrieben, die zu Resignation und Lähmung führen kann. So etwas fängt im Verborgenen an und man kann lange die Augen davor verschließen, aber irgendwann ist es auch äußerlich nicht mehr zu übersehen.
Aber so wie die Menschen sich nach der ersten Wegführung nach Babylon an jeden Strohhalm geklammert haben, so gibt es auch für uns immer noch diese kleinen Punkte, an denen sich Hoffnungen festmachen, dass es doch irgendwie noch weitergehen könnte. Hier ein Rest gut funktionierender Kirchlichkeit, dort ein hoffnungsvolles Experiment mit modernen Gottesdienstformen, ein neues Konzept, das jetzt auch das Internet nutzt, und immer noch eine ganze Menge Gutwillige, die den Laden mit viel Einsatz am Laufen halten. Man kann, wenn man will, die Hoffnung hegen, dass wir es irgendwie doch noch hinkriegen und es irgendwie wieder gut wird.
Aber wenn man in die Geschichte des Volkes Gottes schaut, dann sieht man, dass das nicht funktioniert. Erneuerung kommt nicht dadurch, dass sich alle noch mal am Riemen reißen und die Zähne zusammenbeißen und versuchen, den alten Kahn wieder auf Kurs zu bringen. Erneuerung kommt durch Katastrophen hindurch, und noch nicht mal die Katastrophen können wir planen.
Gott setzt reale Neuanfänge
Damals in Babylon kam die Erneuerung des Volkes erst nach vielen Jahren, als sie nach dem Schock der Zerstörung noch einmal zurückschauten und auf die Worte der vergessenen Warner wie Jeremia stießen. Die hatten die Katastrophe kommen sehen, aber nur sehr wenige hatten auf sie gehört. Aber da in ihrer babylonischen Depression entfalteten die vergessenen Worte die Kraft, die einen Neuanfang ermöglichte.
Oder wenn wir auf Jesus schauen: als er am Kreuz starb, dachten alle, das wäre das Ende für seine Bewegung. Aber dann holte Gott ihn nach dieser Katastrophe von den Toten zurück, und als die Apostel es verstanden hatten und verkündeten: er ist auferstanden! Da ging es erst richtig los mit einem neuen, weltweiten Gottesvolk. Äußerlich gesehen war es ganz anders als zu Hesekiels Zeiten, aber auch da wieder eine Erneuerung, die auf tiefste Hoffnungslosigkeit folgte.
Oder 1500 Jahre weiter, als Martin Luther die Kirche erneuerte, da hatte es schon ein Jahrhundert lang immer neue Reformversuche gegeben. Aber die waren alle gescheitert an der kirchlichen Bürokratie und am kirchlichen Machtapparat. Und dann kommt einer wie Luther und macht nichts anderes, als irgendwo in der Provinz gemeinsam mit seinen Studenten neu auf die Bibel zu hören. Jahrelang hat er daran gearbeitet, das Wort Gottes aus der Gefangenschaft zu befreien, und auf einmal wird es tatsächlich wieder lebendig. Und als es öffentlich wird, da erschüttert es die Welt und eine Kirche, die nur noch um ihren Selbsterhalt kreiste.
Äußerlich gesehen drei völlig andere Szenarien, aber es geht immer darum, dass Gottes lebendiges Wort neu entdeckt und ausgesprochen wird. Und das öffnet dann die Tür für den lebendigen Geist Gottes, der Menschen die Augen öffnet und in Bewegung bringt. Wie es eben schon bei Hesekiel vorhergesagt war in diesem prophetischen Bild von den toten Knochen, in die der Geist Gottes kommt und sie zu neuem Leben erweckt.
Wenn das Wort sich aus seinen Gefängnissen befreit
Erneuerung des Volkes Gottes geschieht nicht durch Reförmchen und Erneuerungsprozesse. Erneuerung ist nicht planbar oder steuerbar. Erneuerung kommt, wenn man es nicht erwarten würde. Erneuerung des Volkes Gottes kommt, wenn Sein Wort zu neuem Leben erwacht; wenn es sich befreit aus den frommen oder liberalen Formeln, die die Menschen abschirmen von der echten Begegnung mit dem lebendigen Wort.
Die Vision, die Hesekiel gezeigt wird, ist das Bild einer Neuschöpfung. Es erinnert an die Schöpfungsgeschichte, wo Gott auch erst den materiellen menschlichen Körper vorbereitet und dann seinen Lebensatem hineinbläst. In der Vision macht er die Körper nicht neu aus Lehm wie bei der ersten Schöpfung – die toten Knochen gibt es ja noch. Aber das Entscheidende ist der Geist des Lebens, der zur toten Materie dazukommt.
Der Geist Gottes ist das Wunder des Lebens, das wir nicht kontrollieren können und über das wir nicht verfügen. Seit Jahrzehnten gibt es immer wieder Ankündigungen, dass die Wissenschaft in Kürze das Geheimnis des Lebens entschlüsseln würde, aber bisher ist es immer bei der Ankündigung geblieben.
Und diese Vision des Hesekiel sagt: ja, es gibt Zukunft, aber es ist eine Zukunft, die so geheimnisvoll und unplanbar ist wie das Leben selbst. Der Prophet wird ja extra gefragt: Glaubst du, dass aus diesen Knochen noch einmal etwas werden kann? Und die einzig mögliche Antwort eines Menschen wäre natürlich: Nein, diese Gebeine können nur verrotten und vergehen. Aber der Prophet antwortet anders. Er sagt: Herr, das weißt nur du! Und daran merken wir, dass er noch eine Hoffnung hat, die Hoffnung, dass Gott neues Leben aus dem Tod schafft.
Aber das ist nicht die Hoffnung, mit irgendwelchen Tricks den Status Quo zu verlängern, sondern die Hoffnung, dass Gott einen echten Neuanfang schafft. Vorher kommt immer das Sterben des Alten, und das ist beunruhigend, das macht Angst, das kann als Katastrophe kommen wie damals die Vernichtung Jerusalems.
Auf das Richtige hoffen – aktiv
Auch bei uns spitzt sich ja die Lage zu. Wir alle spüren es doch, auch wenn nicht jeder das wahrhaben will. Immer deutlicher werden die Zeichen, dass es nicht mehr einfach so weitergehen wird wie bisher. Vielleicht muss ja erst unsere ganze Zivilisation dieses Schicksal Jerusalems erleiden, von dessen Mauern kein Stein auf dem anderen geblieben ist? Vielleicht müssen erst all die Mauern des Fortschritts einstürzen, mit denen Menschen sich so lange gegen Gott abgeschottet haben? Muss es erst solche Ebenen voller Totengebeine geben, bevor Menschen auf das Wort Gottes hören und ihre Hoffnung auf seinen Geist setzen?
Die Hoffnung von Gott her ist keine billige Hoffnung nach dem Motto: es wird schon nicht so schlimm werden. Doch, es ist schon manchmal schlimm geworden, und es gibt keinen Grund, weshalb gerade wir davor sicher sein sollten. Die Hoffnung ist, dass Gottes Geist neu freigesetzt wird und einen Neuanfang schafft. Wie das dann genau aussieht, kann man vorher nicht wissen, nicht planen und nicht steuern.
Aber was wir jetzt tun können, ist: mit Gottes Wort arbeiten, darauf hören, es hin und her wenden, damit sich aus den verstaubten Formeln neu das lebendige Wort erhebt. Und dieses Wort wird dem Geist die Tür öffnen und dann können Dinge passieren, von denen niemand etwas geahnt hat. Das neue Erwachen von Gottes Geist ist die Hoffnung für die Zukunft der Menschheit.
Bis dahin müssen wir unsere Aufgaben so gut und so redlich erfüllen, wie es nur geht. Überall, wo wir dem Leben dienen können und dem Chaos widerstehen, da sollen wir es auch tun, und wir sollen es so gut wie möglich tun. Aber die Hoffnung ruht auf dem Geist Gottes, wenn er neu freigesetzt wird und die Menschen ergreift. Dann wird alles möglich.