Abgefressene Wiesen oder neue Wege
Predigt am 14. April 2002 zu Hebräer 15,20-21
20 Der Gott des Friedens, der den großen Hirten seiner Schafe, unseren Herrn Jesus Christus, von den Toten auferweckt hat, aufgrund seines Blutes, mit dem er den neuen, ewigen Bund besiegelt hat, 21 — dieser Gott möge euch fähig machen, all das Gute zu tun, das nach seinem Willen durch euch geschehen soll. Durch Jesus Christus möge er in unserem Leben das bewirken, woran er Freude hat. Ihm gebührt die Ehre für immer und ewig! Amen.
Das Bild vom Hirten, das heute in den Sonntagstexten immer wieder vorkommt, ist überhaupt nicht idyllisch gemeint. Es gibt ja diese Redeweise von den Christen als den Schäfchen, die von einem milden Seelsorger auf der Weide betreut werden. Die sind so sanft, dass sie niemandem etwas tun, und der Hirte ist eigentlich auch vor allem mit Streicheln beschäftigt, wenn er nicht sich nicht gerade ein krankes Schaf auf den Rücken lädt, um es dann mit unendlicher Geduld wieder aufzupäppeln.
Dagegen steht, dass das Urbild des biblischen Hirten der König David ist, der ja im jugendlichen Alter als Hirt gearbeitet hat. Aber von dem heißt es, dass er sich damals schon mit Löwen und Bären angelegt habe, als gute Vorübung, um später den Riesen Goliath fertigzumachen. Und im Altertum bezeichneten sich die Könige als Hirten ihrer Völker, und die waren genauso wenig sanft wie David. In der Bibel gibt es keine romantischen Hirtenszenen, da bedeutet Hirtesein: Verantwortung tragen und nötigenfalls kämpfen. Hirte zu sein, ist ein hartes Geschäft, man braucht Mut und Klugheit dazu, mit Gefühlsduselei wegen der niedlich Lämmchen hat das wenig zu tun.
Auch dass Jesus sich als guten Hirten bezeichnet ist leider oft Anlass zu ziemlichem Kitsch gewesen. Ich habe in Polen mal so ein schrecklich kitschiges Jesusbild mit langen Haaren und sanftem Lämmlein im Hintergrund gesehen, das war so scheußlich, dass es schon fast wieder schön war. Ich habe es mir dann gekauft, aber meine Frau war froh, als es eines Tages endlich hinüber war.
Im Gegensatz dazu steht hier, dass Gott den großen Hirten Jesus auferweckt hat, damit wir in die Lage versetzt werden, seinen Willen zu tun. Das ist der Sinn davon, dass Jesus wieder zu uns gesandt wurde: Gott will, dass er uns weiter so betreut, wie es Jesus schon vor seinem Tod mit seinen Jüngern gemacht hat. Er hat sie geformt durch seine Gegenwart und seine Worte.
An dieser Stelle verändert Jesus das alte Bild vom Hirten. Natürlich verteidigt Jesus seine Leute, so wie David Löwen und Bären angegriffen hat, wenn sie seine Herde bedrohten. Er kämpft für sie und stirbt im Kampf für sie am Kreuz. Das hätte kein anderer gekonnt. Aber Jesus hat auch immer daran gearbeitet, dass seine Jünger keine dummen Schafe bleiben, sondern er wollte, dass sie das alles verstehen und Gottes Willen kennen. Das ist unser bester Schutz und unsere beste Verteidigung: Gottes Willen richtig gut zu kennen.
Hier im Hebräerbrief wird das dann zu Ende gedacht, dass die Schafe nicht mehr dumm rumstehen und zugucken, wie Hirte und Löwe miteinander kämpfen, und vielleicht schließen sie noch Wetten ab, wer gewinnt, sondern jetzt sollen sie dabei sein. Da kommt das Bild vom Hirten und seiner Herde an seine Grenze. Denn man kann sich ja nur schwer vorstellen, wie ein Hirte seinen Schafen beibringt, in seinem Auftrag den Wolf in die Flucht zu jagen und nach seinen Anweisungen selbst den Weg zu finden. Aber genau darum geht es hier. Übrigens ist der Grund dafür nicht, dass der Hirte faul ist, Jesus hat ja gezeigt, dass er seine Herde unter Einsatz seines Lebens schützt.
Aus dem Hirten, der für seine Schafe kämpft, dem König, der sein Volk verteidigt, ist jemand geworden, der seine Jünger dazu bringt, Gottes Willen zu kennen und zu tun. Sie sollen selbst eintreten in den Kampf, den Jesus für sie führt. Sie sollen nicht länger Schafe bleiben, die sich passiv gefallen lassen, was der Hirte für sie tut.
Der entscheidende Schritt dazu ist die Erkenntnis des Willens Gottes. Das ist ja gerade das Revolutionäre, was sich mit den Jüngern Jesu in der Welt ausbreitet, dass Menschen den Willen Gottes kennen. Sicherlich nicht immer, und nicht immer richtig, sonst müsste darum nicht gebetet werden, aber grundsätzlich ist es jetzt möglich, den Willen Gottes zu kennen. Jesus will, dass wir da sicher sind. Er sagt: meine Schafe hören meine Stimme — das war vorhin im Evangelium. Und die Stimme Jesu spricht den Willen Gottes aus.
Mit seinem Wort bringt der gute Hirte seine Herde in Bewegung, damit sie ihm folgt. Und wenn man im Bild des Hirten bleiben will, dann muss man sagen: er führt sie auf neue Wege. Wir sollen nicht ewig auf alten, abgegrasten Grünflächen im Kreis herumlaufen, sondern zu frischen grünen Wiesen aufbrechen.
Wir wünschen uns das nicht unbedingt. Wir würden lieber bei den bequemen alten Wegen bleiben. Wir möchten lieber ein Leben, das überschaubar ist, wo die Risiken begrenzt sind und von der Versicherung abgedeckt.
Ich glaube aber, dass Gott in uns einen intensiven, abenteuerlustigen Glauben wecken will, damit wir noch viel tiefer mit ihm verbunden sind. Natürlich spricht Gott auch durch ein gutes Buch oder eine tolle Predigt zu uns, aber Gott benutzt vor allem die Herausforderungen des Lebens, um unsere Kenntnis von ihm zu stärken.
Sind es denn nicht gerade die Situationen, in denen wir mit Furcht und Zittern zu ihm gekommen sind und seinen Rat und seine Hilfe unbedingt brauchten, sind das nicht die Momente, wo wir wirklich etwas über ihn gelernt haben? Und wenn das bisher nur einmal im Leben war, war das nicht ein Moment, der sich heraushebt aus vielen gleichförmigen Tagen? Und wenn einer das nie erlebt hat, ist es dann ein Wunder, wenn für ihn Glaube und Gott wie eine langweilige Sache aussehen?
Vielleicht liegt das schon lange zurück, dass Sie so etwas erlebt haben. Die Zeit, in der Sie genau geachtet haben auf die Stimme des guten Hirten, die Zeit, wo er Sie überrascht hat mit dem Neuen, das er immer wieder für Sie hatte, wo Sie vorangegangen sind, ohne zu fragen, was das kosten würde an Aufregung oder Bequemlichkeit. Oder Sie haben das vielleicht noch nie erlebt.
In jedem Fall ist es Zeit, das neu zu erleben. Und es gibt eigentlich wenige Dinge, die auf uns so anziehend wirken wie der Gedanke, voranzukommen. Wir pflanzen Gärten an, wir freuen uns, wenn dann im Frühling die ersten Krokusse kommen, wir schauen Jahr für Jahr zu, wie die Bäume, die wir mal gepflanzt haben, größer werden, und manchmal sehen wir alte Fotos an und sagen: so klein waren die mal!
Und wir schauen uns alte Fotos von Kindern an und staunen, wie groß die inzwischen geworden sind, und was sie alles können! Oder denken Sie an die Freude eines Jugendlichen, der endlich den Führerschein hat! Gestern noch war er Fußgänger oder Beifahrer, heute ist er eine Gefahr für alle anderen Verkehrsteilnehmer. Wie wunderbar — er entwickelt sich weiter!
Auf der anderen Seite gibt es wenige Dinge, die trauriger sind als Stagnation. Denken Sie an eine Ehe, die einmal mit Hoffnungen und Träumen begonnen hat und sich dann auf einem Level eingependelt hat, wo die Gefühle verblasst sind und die Dinge sich eingefahren haben, wo zwei Menschen sich damit abgefunden haben, dass die Möglichkeiten ausgereizt sind und nichts Neues mehr dazukommt.
Oder stellen Sie sich jemandem vor, der seine Abende vor dem Fernseher verbringt. Er hatte einmal große Pläne und Gedanken für sein Leben, aber auf halbem Weg ist er stehen geblieben, und die großen Träume sind schon fast vergessen. Irgendwann ist der Brennstoff ausgegangen.
So sehen die alten abgegrasten Wiesen aus. Und eigentlich wissen wir, dass das nicht das Leben ist, für das wir mal geschaffen worden sind. Stagnation führt zu dem Gefühl, dass wir eigentlich gar nicht unser richtiges Leben leben. Sie führt zur Langeweile und Lustlosigkeit. Zu verqueren Verhaltensmustern, die nie aufgedeckt und korrigiert werden. Zu Fähigkeiten und Begabungen, die nicht weiterentwickelt werden. Wochen werden zu Monaten, Monate zu Jahren, und eines Tages schaust du zurück auf
- ein Leben voller intensiver, lebensverändernder Gespräche, die du nie geführt hast;
- ein Leben voller mutiger Gebete — die du nie ausgesprochen hast;
- ein Leben mit Abenteuern — vor denen du immer zurückgeschreckt bist;
- Opfer — die du nie gebracht hast.
- Kostbare, interessante Menschen — die du nur an der Oberfläche kennengelernt hast.
Und du sitzst da und siehst zu, wie das Leben abläuft, und deine Seele ist fast verdorrt, und du begreifst, dass es da draußen eine Welt gibt voller großartiger Herausforderungen und verzweifelter Nöte und einen Gott, der dich zu etwas viel Größerem berufen hatte.
Das ist es, wovor uns der Gute Hirte Jesus Christus schützen will. Deswegen ruft er uns und bringt unser Leben manchmal auch in Unordnung und legt uns Steine in den Weg, weil wir die Person werden sollen, zu der wir berufen sind. Deswegen erzählt der Hebräerbrief ein ganzes langes Kapitel hindurch von Menschen des Alten Testaments, die aufgebrochen sind im Glauben an Gott und gegen alle Widerstände ihren Weg gegangen sind zum Segen für sich und andere.
Und deswegen endet der Hebräerbrief mit dem Gebet darum, dass dieser Prozess, durch den Gott uns immer weiter hineinzieht in seinen Willen, dass der ohne Bremse weitergehen möge. Da wird noch einmal das Ziel zusammengefasst, um das es geht: Menschen, die mit Gott zusammenarbeiten und ihre Berufung leben, zu der er sie geschaffen hat. Menschen, durch die die Kraft der Auferstehung Jesu weiter die Welt bewegt. Dass das passiert, darum muss man beten. Immer wieder wird in den neutestamentlichen Briefen darum gebetet, dass wir in Übereinstimmung kommen mit dem Willen Gottes.
Wir haben durch Jesus ja Zugang zum Willen Gottes — aber ob das dann auch passiert, dass dieser Zugang aktuell wird und wir von Gottes Geist durchdrungen werden, das entscheidet sich jedesmal wieder neu. Das hat man nicht in der Tasche. Wenn man denkt, man wüsste es nun endlich, dann kommt Gottes Ruf und Herausforderung wieder ganz anders auf einen zu. Wir verstehen das zwar im Laufe der Zeit hoffentlich etwas besser, aber wir haben den ganzen Prozess nicht in der Hand.
Deshalb die vertrauensvolle Bitte an Gott, er möge das vorantreiben. Er soll wissen, das er dazu unsere Zustimmung hat. In der Ewigkeit werden wir noch viel deutlicher sehen, wie er die ganze Zeit darauf hingearbeitet hat, dass wir nicht vorbeileben an unserer Berufung.