Sich unterwegs nicht den Mut nehmen lassen!
Predigt am 15. September 2002 zu Hebräer 10,32-39
Wir haben vorhin als Lesung die Geschichte von Petrus gehört, der auf dem Wasser geht (Matthäus 14,22-33). Und da ist natürlich der spannendste Augenblick dieser Moment, als Petrus sich ein Herz fasst, ein Bein über die Bordwand schwingt und merkt, dass das Wasser tatsächlich Balken hat. Das ist der große und entscheidende Schritt.
Aber danach gibt es eine Szene, die mindestens so wichtig und auch ziemlich dramatisch ist: als Petrus vom Weg abkommt, weil er sein Ziel – nämlich Jesus – aus den Augen verloren und stattdessen zwischendurch die Wellen angeschaut hat. Auf einmal dachte er: halt, so hatte ich mir das nicht vorgestellt! Ich habe erwartet, dass ich nun einen gebahnten Weg vorfinde, und stattdessen machen diese Wellen aus der Nähe einen noch schlimmeren Eindruck als vom Boot aus. Und er sank.
Ich hätte ja vermutet: wenn man schon auf dem Wasser geht, dann ist es einem egal, ob die Wellen flach oder steil sind. Aber offensichtlich ist es nicht egal. Auch jemand, der das Unmögliche tut und über das Wasser läuft, lässt sich trotzdem von einem Sturm irritieren.
Und wenn man nun bedenkt, dass die Geschichte vom wasserwandelnden Petrus ein Bild ist für das Wagnis des Glaubens, was bedeutet es dann, dass Petrus nach dem mutigen Glaubensschritt am Anfang erst so richtig ins Schleudern kam? Er musste aus dem Boot steigen, um seine Erfahrungen mit dem Wasser zu machen. Insofern war dieser Schritt über die Bordwand tatsächlich wichtig. Aber als er dachte: nun habe ich es geschafft, da gingen die Probleme erst richtig los.
Die Entscheidung zum Glauben ist nicht eine Entscheidung dafür, dass Jesus einem von nun an die Probleme abnimmt und man nur noch auf den Himmel warten muss, sondern es ist die Entscheidung dafür, sich mit Jesus in den dicksten Sturm hinein zu wagen, um genau dort zu erfahren, dass Jesus zugreift und uns nicht versinken lässt.
Es gibt einen Brief im Neuen Testament, der sich genau diesem Thema der Bewährung des Glaubens immer und immer wieder widmet. Das ist der Hebräerbrief. Der ist gerichtet an eine Gemeinde, wo die Leute sagen: ach, es ist nicht mehr so wie früher, irgendwie war es wohl doch nicht der große Wurf, lasst es uns lieber ruhig angehen, irgendwie ist die Luft raus.
Sozusagen eine Gemeinde, die angefangen hat, auf dem Wasser zu gehen und dann sagt: ach, im Boot war es eigentlich doch auch ganz schön, lasst uns wieder dahin zurückgehen, irgendwann ist es genug, jetzt muss doch mal die Rente kommen!
Und diese Gemeinde erinnert der Hebräerbrief zuerst an die Anfangszeiten, als sie wesentlich engagierter an die Sache herangingen. Und dann versucht er deutlich zu machen, woher dieses Abschlaffen eigentlich kommt, und wie man sich dagegen zur Wehr setzen kann:
32 Erinnert euch doch an die Zeiten, als ihr gerade mit dem göttlichen Licht erleuchtet worden wart und dann sogleich einen harten, leidvollen Kampf durchstehen musstet! 33 Die einen wurden öffentlich beleidigt und misshandelt, die andern standen denen treu zur Seite, die dies ertragen mussten. 34 Ihr habt mit den Gefangenen gelitten, und wenn euch euer Eigentum weggenommen wurde, habt ihr das mit Freude ertragen; denn ihr wusstet, dass ihr einen viel besseren Besitz habt, der euch nicht genommen werden kann.
35 Werft nur jetzt eure Zuversicht nicht weg, die doch so reich belohnt werden soll! 36 Ihr braucht Kraft zum Durchhalten, damit ihr weiterhin tut, was Gott von euch will, und so auch bekommt, was er versprochen hat. 37 Es heißt ja in den Heiligen Schriften:
»Noch eine kurze, ganz kurze Zeit, dann kommt der, den Gott angekündigt hat. Er wird sich nicht verspäten. 38 Wer mir im Glauben vertraut und das Rechte tut, wird durch sein Vertrauen am Leben bleiben. Wer aber mutlos aufgibt, mit dem will ich nichts zu tun haben.«
39 Wir gehören doch nicht zu den Menschen, die den Mut verlieren und deshalb zugrunde gehen! Vielmehr gehören wir zu denen, die Gott im Glauben vertrauen und das Leben gewinnen.
Liebe Freunde, es gibt die dramatischen Zeiten, wo die Wellen hochgehen, und man denkt da später dran zurück und sagt: ja, das waren noch Zeiten! So erinnert sich vielleicht ein Ehepaar an die Zeit, als das Geld knapp war und sie trotzdem mit einem klapprigen Auto spontan über die Alpen gefahren sind, und sie denken: wie wir das damals geschafft haben! wir müssen verrückt gewesen sein!
Aber es gibt auch die anderen Zeiten, die viel weniger dramatisch sind, aber nicht weniger wichtig, die Zeiten, wo man nicht ein großes Abenteuer bestehen muss, sondern wo jeden Tag eine neue mittlere Katastrophe zu bewältigen ist und einem der Wind ins Gesicht bläst, wo man mürbe wird, weil man keine schnelle Lösung sieht, und wo es trotzdem darum geht, im normalen Alltag das zu leben, was einem in den Spitzenzeiten ganz klar war.
So folgt etwa auf das tief aufwühlende Erlebnis einer Geburt dann die Zeit mit den vielen vollen Windeln und den nächtlichen Zahnschmerzen, später die Elternabende und die Hausaufgaben und die kleinen und großen Auseinandersetzungen, wo es immer wieder darum geht: werden wir das Leben auch so leben, wie wir es uns vorgenommen haben?
Und so hat auch diese Gemeinde, an die der Hebräerbrief schreibt, am Anfang eine große Zeit gehabt, wo sie verfolgt wurde, als es ihnen nichts ausmachte, dass sie überall verleumdet wurden und dass sie eine Menge Geld verloren hatten, wahrscheinlich durch staatliche Strafen. Einige haben sogar das Gefängnis von innen kennengelernt, und die anderen sind mutig da hineingegangen, um sie zu besuchen. Und sie haben sich gesagt: wir sind frei, auch wenn wir hinter Gefängnismauern sitzen, denn wir haben Jesus, und den kann uns keiner nehmen. Und sie haben gemerkt: ja, es geht. Jesus hilft uns. Das Wasser hat Balken.
Wie lange kann man so etwas durchhalten? Wie lange dauert es, bis man sich nach ein bisschen Normalität sehnt? Bis man beschließt: wir wollen die Leute doch nicht provozieren, wir wollen doch ein bisschen Ruhe in die ganze Geschichte hineinbringen, das normale Leben fordert doch irgendwann auch wieder sein Recht!
Und am Ende hat der ganze Kleinkrieg einen zermürbt und einem die Courage zerstört, nicht weil er so brutal war, sondern weil er so zäh war und überhaupt nicht aufhören wollte. Und noch viel mehr gilt das ja für uns heute, wo wir als Christen sehr selten solche dramatischen Auseinandersetzungen auf Leben und Tod erleben, aber es gibt ein zähes Ringen und einen zähen Kampf, authentisch am Weg Jesu zu bleiben und sich nicht zerstreuen zu lassen und sich nicht davon abbringen zu lassen.
Deshalb schreibt der Hebräerbrief: ihr sollt Geduld lernen! Und mit Geduld ist noch etwas anders gemeint als das, was Patienten manchmal im Wartezimmer brauchen, so eine dicke Haut, die es einem ermöglicht, seine Zeit ungerührt abzuwarten. Biblische Geduld ist aktiver gemeint, sie bedeutet: dranbleiben, nicht aufgeben, Kurs halten, auch wenn der Sturm einfach nicht aufhören will.
Biblische Geduld ist der Weg, wie wir dafür sorgen, dass sich die Verheißungen realisieren, die Gott uns macht. Fast alle Verheißungen Gottes treffen später ein, als Menschen sie sich gewünscht haben. Das beste Beispiel ist Abraham: Jahrzehnte musste er warten auf den Nachkommen, den Gott ihm ganz am Anfang versprochen hatte. Und es sah aus, als ob es niemals eintreffen werde. Oder natürlich die Jahrhunderte des Wartens auf den versprochenen Retter, bis dann Jesus kam. Immer wieder lange Wartezeiten, und die Menschen fragten sich: warum dauert es so lange? Das ist ein Muster im Handeln Gottes: er verspricht etwas, aber dann geht Zeit ins Land. Und in dieser Zeit will er uns verändern. Er könnte mit den Menschen, denen er die Verheißung gemacht hat, sie gar nicht durchführen. Es muss erst Zeit vergehen, bis die Verheißung sich ihre eigenen Voraussetzungen geschaffen hat. Aber das geht nur, wenn die Menschen dranbleiben und Geduld lernen.
Und in dieser Zeit, in der wir uns nicht selten fragen: wie lange soll das dauern? Und ist der Weg denn richtig? Und sollte ich nicht doch lieber etwas anderes versuchen – da formt Gott aus uns die Menschen, die zu seiner Verheißung passen. Er macht aus uns Menschen, die sich klar sind, dass er das Wichtigste ist. Er macht aus uns Menschen, die immer und immer wieder vor der Entscheidung gestanden haben, ob sie es mit ihm halten sollten oder den vermeintlich leichteren Weg einer Abkürzung nehmen würden. Er macht aus uns Menschen, die immer und immer wieder in Gefahr waren, den falschen Weg einzuschlagen und es manchmal auch getan haben, die aber am Ende von keinem Winkelzug des Feindes mehr überrascht werden.
Vor allem aber haben wir dann hoffentlich gelernt, jedes neue Problem, das uns wegbringen will von Gott, als einen Anlass zu sehen, nun erst recht mit ihm einen Schritt voranzugehen. Denn es ist ja so: jedes Mal, wenn wir unter Druck geraten und sich in unserem Leben ein großes oder kleines Problem breit macht, dann haben wir einerseits die Möglichkeit, das Ganze hinhaltend zu behandeln, die Sache irgendwie zu flicken, zu verhindern, dass es zu einer großen Katastrophe wird. Und dann macht es sich schleichend breit in unserem Leben, und wir merken gar nicht, wieviel Kraft wir im Laufe der Zeit dafür brauchen, um dieses Problemfeld unter Kontrolle zu halten. So wie die Widerstandskraft unseres Körpers entscheidend geschwächt werden kann durch eine versteckte Entzündung, die zwar akut keine großen Probleme bereitet, aber im Hintergrund als eine schleichende Vergiftung das Immunsystem immer wieder unter Druck setzt.
Andererseits gibt es aber auch die Möglichkeit, sich diesem Problem zu stellen, den Stier an den Hörnern zu packen und mit Gottes Hilfe eine Lösung zu finden. Und jedes Mal, wenn wir uns so einer Angst erregenden Situation gestellt haben, und jedesmal, wenn wir so eine schleichende Lebensvergiftung identifiziert und bereinigt haben, dann werden wir ein unvergleichliches Gefühl der Befriedigung, der Befreiung und der Freude empfinden. Wenn wir das überfällige Gespräch geführt oder die längst fällige Entscheidung endlich getroffen haben, wenn wir die Sache in die Hand genommen und die Initiative ergriffen haben, wenn wir unsere Trägheit überwunden und unsere falsche Reaktion vermieden haben, jedesmal sind wir ein Stückchen stärker geworden. Angst und Unsicherheit haben sich zurückgezogen und stattdessen kommen innere Stärke und Entschlussfreudigkeit dazu.
Das ist der Weg, wie wir auch in der Zeit der Geduld und des Wartens Freude erleben, und Freude hält einen davon ab, müde zu werden und in Trott zu versinken. Deswegen heißt es im Hebräerbrief so dringend: werft eure Zuversicht nicht weg, gebt sie nicht auf, denn sie wird belohnt werden. Gott hat keine Freude an denen, die irgendwann auf dem Weg aufgeben.
Es ist in Ordnung, wenn die Verheißung Gottes auf sich warten lässt und der große Durchbruch nicht in Sicht ist. Das ist auch in der Bibel oft so. Aber wenn sich auch im Kleinen nichts bewegt und du nicht erlebst, wie Gott diese Zeit für dich nutzt, wenn du merkst, wie deine Energie langsam runterfährt, dann sollte die Alarmglocke klingeln. Wenn es schon lange nicht mehr dieses Erlebnis des Überwindens und der Freude gibt, dann solltest du Ausschau halten nach den verborgenen Infektionsquellen, die deine Kraft vermindern und dir schleichend den Mut nehmen. Wenn du das Gefühl hast, dass du langsam nach unten sinkst, wie Petrus auf den Wellen, dann solltest du in Betracht ziehen, dass der Blick auf das bedrohliche Chaos um dich herum dir mehr Energie abzieht, als du dir bisher eingestanden hast.
Aber eine Besserung kommt nicht irgendwann von selbst. Und es ist Zeit, dass du nach Jesus rufst, damit sich da etwas ändert.
Man kann zugrunde gehen, weil einem der Mut abhanden gekommen ist. Aber wir gehören doch zu denen, die glauben, die mutig sind und das Leben gewinnen.