Die Zeit des Seitenwechsels
Predigt am 2. Dezember 2001 (1. Advent) zu Hebräer 10,19-25
19 Liebe Brüder und Schwestern!
Wir haben also freien Zutritt zum Allerheiligsten! Jesus hat sein Blut geopfert 20 und uns den Weg durch den Vorhang hindurch frei gemacht, diesen neuen Weg, der zum Leben führt. Der »Vorhang« aber, das ist er selbst, so wie er in einem irdischen Leib gelebt hat. 21 Wir haben also einen ganz unvergleichlichen Obersten Priester, der über das Haus Gottes gesetzt ist.
22 Darum wollen wir
- vor Gott hintreten mit offenem Herzen und in festem Glauben; unser Gewissen wurde ja von aller Schuld gereinigt und unser Leib in reinem Wasser gewaschen.
- 23 Wir wollen an der Hoffnung festhalten, zu der wir uns bekennen, und wollen nicht schwanken; denn Gott, der die Zusagen gegeben hat, steht zu seinem Wort.
- 24 Und wir wollen aufeinander acht geben und uns gegenseitig zur Liebe und zu guten Taten anspornen. 25 Einige haben sich angewöhnt, den Gemeindeversammlungen fernzubleiben. Das ist nicht gut; vielmehr sollt ihr einander Mut machen. Und das um so mehr, als ihr doch merken müsst, dass der Tag näher rückt, an dem der Herr kommt!
Im Tempel von Jerusalem, als er noch nicht zerstört war, gab es das Allerheiligste, einen großen dunklen Raum, den nur ein einziges Mal im Jahr der Hohepriester betrat. Schon in den vorderen Teil des Heiligtums ging nur einmal am Tag ein Priester, um dort kostbares Räucherwerk zu verbrennen, jeden Tag ein anderer. Mancher Priester machte das nur ein einziges Mal in seinem Leben. Aber durch den Vorhang durfte er nicht treten, den Vorhang, der den hinteren Teil des Heiligtums, das Allerheiligste, noch einmal abteilte.
Und wenn dann einmal im Jahr der Hohepriester dort im Allerheiligsten ein Opfer brachte für die Sünden des ganzen Volkes, dann durfte er das nur nach komplizierten Vorbereitungen. Aber dann brachte er das Blut der Opfertiere und schüttete es dort im Allerheiligsten aus.
Das ganze zeigt an: zwischen dem Heiligen Gott und uns ist ein Abstand; da ist ein himmelweiter Unterschied, und ein Kontakt zwischen ihm und uns ist eine schwierige Sache. Wir sind einfach zu weit weg von Gottes Wegen. Unser Leben ist so sehr von Unrecht geprägt, von unberechtigtem Misstrauen, von Ausbeutung im Großen und im Kleinen. Das passt nicht zusammen mit Gottes Art, und deshalb braucht man den riesigen Tempel mit seinen Zeremonien und Priesterhierarchien, den Tempel mit dem mächtigen Vorhang, der den Bereich der Menschen von dem Bereich Gottes trennt, damit wenigstens hin und wieder einmal ein vorsichtiger Kontakt zustande kommen kann, und auch der ist immer noch sehr formell.
Irgendwie ist das für uns eine ganz fremde Welt: Tempel, Opfer, Zeremonien. Wir denken da an Priester, die sich von einfältigen Gläubigen für irgendeinen Hokuspokus gut bezahlen lassen. Aber für die Menschen damals hatte das Bedeutung. Es war so wichtig, dass sie auch korrupte Priester und die ganze Geschäftemacherei in Kauf nahmen, weil es ihnen um die Sache dahinter ging. Sie wussten besser als wir, dass die Welt von Gott geschaffen ist und von Gottes Segen lebt. Und wie wichtig es ist, dass die Beziehung zu Gott gepflegt wird und der Weg zu ihm offen bleibt.
Wir sind so geschaffen, dass wir uns irgendwie immer auf Gott beziehen, dass wir ohne ihn nicht sein können. Das ist wie mit allen unterdrückten Trieben und anderen seelischen Impulsen: wir können sie noch so sehr leugnen und verdrängen, irgendwie melden sie sich doch wieder, aber dann manchmal eher wunderlich oder sogar destruktiv. Auch in der Seele geht keine Energie verloren. Die Energie unseres Herzens, mit der wir Gott suchen, die kann zwar irregeführt und umgelenkt werden, aber wir können sie nicht ausschalten.
Die Menschen früherer Zeiten wussten das besser als wir heute, und deswegen haben sie Tempel gebaut und sich Religionen ausgedacht, um dieser seelischen Energie, mit der wir Gott suchen, eine Gestalt zu geben, einen äußerlichen Ausdruck. Alle Kräfte unserer Seele wollen sich äußerlich verwirklichen, in irgendeiner Form, und wenn sie das nicht tun können, dann richten sie in unserem Innern etwas an, weil sie einfach keine Ruhe geben können.
Und den Tempelkult in Jerusalem, den haben sich noch nicht mal Menschen ausgedacht, sondern den hat in den Grundzügen Gott so vorgeschrieben. Gott wollte, dass es in der Welt einen Platz gab, wo man ihn wirklich finden konnte, wenn auch nur mit vielen Barrieren und einem großen Sicherheitsabstand.
Das war nicht die Art von Kontakt, wie Gott ihn sich gewünscht hätte. Im Paradies sprach er viel direkter mit Adam und Eva. Aber wir leben schließlich nicht mehr im Paradies, und ein sehr formeller Weg ist besser als gar keiner.
Und so ist dieser Tempelkult immer ein Hinweis gewesen darauf gewesen, dass es eigentlich noch eine andere Verbindung zu Gott geben muss. Die Menschen haben das auch immer geahnt, und sie haben darauf gewartet. Die Adventszeit ist die Zeit, die dieses lange Warten symbolisiert. Gott und die Menschen haben Jahrhunderte darauf gewartet, dass es wieder eine andere Art der Kommunikation zwischen ihnen geben würde. Direkter, persönlicher, stärker.
Und die Erwartung wurde nicht enttäuscht. Jesus ist gekommen, und er hat einen neuen, lebendigen Weg zu Gott gebracht. Nicht mehr diese distanzierten Kontakte einmal im Jahr in einem ganz besonderen heiligen Raum, sondern lebendigen, persönlichen Kontakt, Tag für Tag, im normalen Leben der Menschen. Mitten im Leben ist Gott zu finden, überall da, wo Jesus hinkommt. Und die Energie, die sonst in den Bau von Tempeln, in die Teilnahme an Zeremonien und in die Bezahlung der Priester fließt, die fließt jetzt in die Gestaltung des Lebens aus der Kraft des Heiligen Geistes. Niemand muss mehr Wallfahrten zu heiligen Stätten unternehmen, sondern umgekehrt: die Kraft Gottes geht in alle Winkel der Erde, überall dorthin, wo Menschen leben im Namen Jesu.
Diesen Weg hat Jesus geöffnet »durch sein Blut«, wie es heißt. Blut steht für Sterben. Jesus ist gestorben, damit wir den neuen Weg zu Gott haben. Früher war der Vorhang im Tempel das Symbol für die Trennung, für den Abstand von Gott und Menschen. Bei Jesus ist stattdessen sein Kreuz das Zeichen für diesen Riss in der Welt.
Deswegen heißt es auch: als Jesus starb, da zerriss der Vorhang im Tempel. Es gab jetzt ein neues Zeichen: das Kreuz symbolisiert viel deutlicher den Konflikt zwischen Gott und uns. Gott kommt und lebt authentisch unter uns, und was passiert? Er wird umgebracht. Was könnte deutlicher den fundamentalen Konflikt zwischen Gottes Wegen und unseren Wegen zeigen? Auf der einen Seite Jesus, der auf Gottes Wegen geht — und auf der anderen Seite die Menschen, die ihn kreuzigen, Staat und Religion, deren höchste Repräsentanten sich dazu verbünden, diesen Menschen zu beseitigen. Da wird klar, worum es wirklich geht. Da wird das ganze nicht mehr in einer religiösen Feier symbolisiert, nein, da ist der Konflikt selbst anschaulich präsent.
Aber nun heißt es im Hebräerbrief: mit diesem Sterben hat Jesus uns den Weg zu Gott geöffnet. Wir alle haben nun Zutritt zum Allerheiligsten, nicht mehr nur der Hohepriester, und wir haben Zutritt zu Gott selbst, nicht mehr nur zu einem Raum, der Gottes Gegenwart symbolisiert.
Wie geht das?
Diese Grenze zwischen Gott und Menschen, die durch das Kreuz symbolisiert wird, die kann man überschreiten, und zwar tut man das in der Taufe. Wenn ein Mensch getauft wird, dann wechselt er in diesem Konflikt die Seite. Er ist dann nicht mehr träger Mitläufer der Herren dieser Welt, sondern er trägt das Zeichen eines elend zu Tode gefolterten Unschuldigen, das Zeichen des gekreuzigten Jesus. Jesus hat nicht nur dafür gesorgt, dass der eigentliche Konflikt sichtbar wird, er hat uns auch die Gelegenheit verschafft, die Seite zu wechseln. Und wenn wir das tun, dann sind wir frei von der Schuld, die wir auf uns geladen haben, weil wir Handlanger der Herren dieser Welt waren und und ihre Gedanken gedacht und ihre Taten getan haben. Wir gehören jetzt einem anderen, wir sind gewaschen, wie es der Hebräerbrief sagt, gewaschen und frei vom bösen Gewissen.
So, und jetzt ist natürlich die Frage: reicht das? Reicht das, wenn wir so ein kleines Würmchen heute ein bisschen nass machen und die richtigen Worte dazu sagen, und dann soll alles in Ordnung sein?
Das Problem ist, dass damals die Taufe ein ganz deutliches Zeichen der Differenz war, damals wussten alle: wer sich taufen lässt, der geht auf Distanz zum Tempel und auf Distanz zum römischen Staat, und es gab genug Christen, die für ihre Taufe mit dem Leben bezahlen mussten. Egal, in welchem Alter: dass die Taufe eine Entscheidung zum Seitenwechsel war, das wussten alle.
Aber schon hier im Hebräerbrief zeigen sich die ersten Hinweise, dass vielleicht manche ihre Taufe auch wieder nur als ein Symbol verstanden haben und nicht als wirkliche Lebensveränderung. Deswegen u.a. ist dieser Brief ja geschrieben. Er geht an Christen, die irgendwie das Gefühl haben: die Luft ist raus, der Schwung ist weg. Und er sagt ihnen: macht euch das wieder klar, was für euch schon einmal klar war. Das waren ja Gemeinden, die in ihrer Vergangenheit enormen Mut gezeigt hatten, die Verfolgungen überstanden hatten, ohne zurückzuweichen, und die trotzdem anfingen zu stagnieren. Und sie bekommen jetzt zu hören: dieser Weg, den Jesus uns geöffnet hat, den muss man natürlich auch gehen, es reicht nicht zu sagen: wir kennen den Weg. Ein Weg ist zum Gehen da und nicht zum Bescheidwissen!
Und sie bekommen dafür drei Hinweise:
- Geht auch wirklich zu Gott, und zwar nicht wieder mit schlechtem Gewissen und großer Vorsicht.
Als ich mal in DDR-Zeiten unsere Partnergemeinde besuchte und der Kollege mich zur Volkspolizei begleitete, damit ich mich da wie üblich anmelden konnte, da sagte er hinterher: die Westdeutschen gehen anders in eine Polizeistation. Und es war deutlich, es ging nicht um mich persönlich, sondern er hatte öfter Gäste aus dem Westen, und er hatte das immer wieder gesehen: die Westdeutschen hatten nicht diese Sorge: o, was wird mir hier möglicherweise passieren? Nicht diesen ängstlichen Respekt, sondern er hatte da mehr Freiheit beobachtet. Wir wissen, dass es nicht unser Verdienst ist, dass wir in einem Land leben, in dem man sich an die Freiheit gewöhnt, und die Leute in der DDR hatten ja gute Gründe dafür, sich Sorgen zu machen, wenn sie zur Polizei mussten, auch bei eigentlich harmlosen Dingen. Mir geht es nur um diesen Unterschied: wie gehen wir zu Gott: ängstlich und gedrückt wie zu einer ungeliebten Kontrollinstanz, oder frei und aufrecht als Menschen, die Gott zu seinen Verbündeten auf der Erde gemacht hat? Der Hebräerbrief sagt: macht euch diesen Unterschied klar! Für euch ist Gott nicht mehr diese Kontrollinstanz, der man nicht so gern begegnet. - Haltet am Bekenntnis fest!
Das Glaubensbekenntnis ist eigentlich ein Taufbekenntnis, und jedesmal, wenn wir es sprechen, dann erneuern wir damit das Taufbekenntnis. Bei den ersten Christen hieß es im Kern: Jesus ist der Herr! Jesus und kein anderer. Da ist wieder diese Differenz, der Konflikt. Freiwerden von den gottlosen Bindungen dieser Welt, im kleinen und im Großen. Sich neu daran erinnern: ich lebe schon längst auf einer anderen Grundlage. Wissen Sie, was die größte Gefahr für den Glauben ist? Vergessen. Vergessen, dass man es eigentlich schon anders gewusst hat. Es gibt Tage, da ist uns alles klar, und wir können mit Gott große Dinge tun. Aber es gibt auch die Tage, wo wir keinen Gedanken daran verschwenden und sehr schwach sind. - Unterbrecht nicht den Kontakt zur Gemeinde!
Der entscheidende Mechanismus, der uns immer wieder zurückholt zur Erinnerung, das ist die Gemeinde. Keiner von uns kann die Differenz zu den Mächten der Welt durchhalten ohne die Verankerung in einer konkreten Gemeinde. Allein bleiben wir stecken auf dem Weg, den Jesus uns geöffnet hat. Wir sollen uns gegenseitig anspornen zu guten Werken, wir sollen uns gegenseitig beraten, wie wir das verwirklichen können, was durch Jesus in unser Leben gekommen ist. Wir brauchen ein Umfeld, in dem das geht und wo wir ermutigt werden, alle Lebensbereiche von Jesus gestalten zu lassen. Es gibt viele Gründe, weshalb Christen da steckenbleiben, aber einer der Hauptgründe ist, dass sie keinen regelmäßigen Kontakt zu einer Gemeinde haben. Viele Leute sagen: ich kann auch ohne Gemeinde an Gott glauben aber das geht nicht, wenn man den neuen und lebendigen Weg auch gehen will, den Jesus mitten im Leben geöffnet hat.