Sanfte Süchte – im Gefängnis der süßen Kleinigkeiten
Predigt im Besonderen Gottesdienst am 13. März 2005 mit Epheser 5,10-20
Der Predigt voran gingen eine Theaterszene und eine Präsentation über die sanften Süchte und Kennzeichen von Abhängigkeit.
10 Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist, 11 und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis; deckt sie vielmehr auf.
12 Denn was von ihnen heimlich getan wird, davon auch nur zu reden ist schändlich. 13 Das alles aber wird offenbar, wenn’s vom Licht aufgedeckt wird; 14 denn alles, was offenbar wird, das ist Licht. Darum heißt es: Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.
15 So seht nun sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht als Unweise, sondern als Weise, 16 und kauft die Zeit aus; denn es ist böse Zeit.
17 Darum werdet nicht unverständig, sondern versteht, was der Wille des Herrn ist. 18 Und sauft euch nicht voll Wein, woraus ein unordentliches Wesen folgt, sondern lasst euch vom Geist erfüllen. 19 Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen 20 und sagt Dank Gott, dem Vater, allezeit für alles, im Namen unseres Herrn Jesus Christus.
Am Thema der Sanften Süchte merkt man deutlich die Grenzen des Gesetzes. Praktisch keine der sanften Süchte geht mit einem Verstoß gegen Gebote wie »du sollst nicht stehlen« oder »du sollst nicht töten« einher. Erst wer sein Leben vom Heiligen Geist bestimmen lassen will, der hat einen Maßstab, um wirklich zu verstehen, wie schädlich das alles ist. Solange es nur darum geht: übertrete ich hier ein »Du sollst nicht!«?, solange sieht es gar nicht so schlimm aus. Aber wenn man den Maßstab anlegt, den wir hier im Epheserbrief finden, »prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist«, dann fällt ein ganz anderes Licht darauf.
Man muss sich klarmachen, dass es eine katastrophale Verkürzung ist, den christlichen Glauben nur auf das Vermeiden von Sünden zu reduzieren. Natürlich ist das auch schon eine feine Sache, aber das ist eher ein Nebenprodukt. Im Kern geht es positiv um eine ganze Lebensgestaltung von Gott her, um ein Leben voll Qualität und Freude, um ein Leben im vollen Sinn, das aus der Fülle Gottes schöpft und um sich herum Befreiung, Liebe und Hoffnung verbreitet.
Die sanften Süchte rauben gerade diese Qualität, sie führen im Allgemeinen nicht zu einem zerstörten Leben, sondern zu einem mittelmäßigen und freudlosen Leben, sie senken das Niveau ab, auf dem wir leben. Und damit treffen sie genau das neue Leben aus der Fülle Gottes, in das Jesus uns einlädt.
Das Gemeine an den sanften Süchten ist, dass sie oberflächlich gesehen nichts Schlimmes oder Böses sind. Dass Drogen zu körperlichem Verfall und Kriminalität führen, dass Rauchen den Körper zerstört und dass Alkohol dumm macht, das weiß man im Prinzip. Aber hier geht es um Dinge, die eigentlich zum normalen Leben dazugehören wie Essen, sich informieren, Nachdenken, Kommunizieren – und nur durch ihr Ausmaß oder ihre Funktion in meinem Gefühlshaushalt werden sie zu Süchten. Niemand muss sich dazu in irgendeiner kriminellen Szene Stoff besorgen – der Zugang beginnt in den vertrauten eigenen vier Wänden, in der Küche, im Wohnzimmer, am Schreibtisch.
So vielfältig die Formen sind, sie haben einiges gemeinsam: normalerweise rauben sie uns Zeit – und das ist in unserer Welt der Zeitknappheit eine der größten Kostbarkeiten. Sie rauben aber auch unsere Energie und unsere Aufmerksamkeit. Wer ehrlich mit sich selbst ist, der merkt, wie weit sich solche kleinen Freuden schon in sein Gefühlsleben hineingefressen haben und wie wichtig sie ihm in Wirklichkeit schon geworden sind. Obwohl wir eigentlich sagen würden, sie spielten für uns keine große Rolle. Aber wenn wir eine Strichliste führen würden, wie oft wir irgendwie in Gedanken damit beschäftigt sind – warum wäre die so lang?
Wer nicht glaubt, dass er da betroffen ist und es überprüfen will, der sollte natürlich die einfachste Probe aufs Exempel machen und schauen, wie es ihn geht, wenn er für eine Woche oder länger ohne die Süßigkeiten oder die Zeitschriften auskommen muss.
Sanfte Süchte sind wie Aspirin gegen Zahnschmerzen: sie überdecken das Unwohlsein und ersparen uns den Schmerz und die Mühe, die eine Wurzelbehandlung mit sich bringen würde. Sie lenken uns ab von schlechter Laune, Langeweile, innerer Leere und Unzufriedenheit mit uns selbst und unseren Lebensumständen. Aber sie lassen uns am Ende noch leerer und unerfüllter zurück, und wir gewöhnen uns am Ende an ein Leben auf niedrigem Qualitätsniveau und denken, es gäbe gar nichts anderes. Und unser Herz wird immer leerer und ärmer.
Gegeben hat es das natürlich schon immer, aber unsere gegenwärtige Kultur erleichtert das Entstehen solcher Süchte, gerade, weil sie tief von der Überzeugung geprägt ist, dass das Leben eigentlich mühelos sein sollte, ja dass wir im Grunde einen Anspruch auf ein Leben mit nicht zu viel schlechten Gefühlen haben.
Wir sind aber so eingerichtet, dass wir auf die Dauer Glück, Zufriedenheit und Erfüllung nur dann empfinden, wenn wir uns an echten Herausforderungen abarbeiten. Die Gehirnforscher haben inzwischen sogar herausgefunden, dass bestimmte Glückhormone nur dann entstehen, wenn wir eine Aufgabe anpacken und lösen. Und das bedeutet zuerst Mühe und Arbeit. Ich erspare Ihnen die wissenschaftlichen Einzelheiten. Man kann das auch aus der Bibel wissen: Gott ist ein aktiver, schöpferischer Gott, und er hat uns nach seinem Bild geschaffen. Deshalb ist Passivität einer der sichersten Wege zum Unglücklichsein. Wer sich keinen wirklichen Herausforderungen in der echten Welt stellt, erlebt auch kein tiefes Glück.
Alle Süchte versprechen uns, dass sie diesen Mechanismus außer Kraft setzen könnten. Aber das geht immer nur für kurze Zeit. Und langfristig zahlen wir drauf, wenn wir uns auf scheinbare Abkürzungen einlassen. Manchmal mit körperlichem und sozialem Verfall, manchmal nur – aber was heißt hier »nur«? – mit einem Verlust an menschlicher Qualität und Lebenstiefe.
Der entscheidende Augenblick kommt, wenn wir darauf stoßen, wieviel von unserer Zeit und Aufmerksamkeit in Beschäftigungen fließt, die weder notwendig zum äußeren Lebensunterhalt sind noch unsere Seele ernähren. Werden wir diesen Gedanken schnell übergehen, oder werden wir ihn festhalten und weiterverfolgen?
Es geht um Aufmerksamkeit für den Zustand unseres Herzens, um den Unterschied zwischen erfrischender Erholung und Narkotika, die unsere Seele betäuben. Sanfte Süchte richten unsere Aufmerksamkeit weg von uns und unserer Lage weg, sie nehmen uns mit auf einen Kurztrip irgendwohin, und wenn wir zurückkommen, ist die Leere und Unzufriedenheit eher größer geworden, und uns fehlt die Zeit für Dinge, die uns wirkliche Freude geben. Das Wort »Entspannung« liegt irgendwo dazwischen – diese Welt bietet viele ungesunde Entspannungsmöglichkeiten.
Es ist ein Unterschied, ob ich mit wirklichen Menschen zu tun habe oder mit Computersimulationen. Die erreichen nie den Reichtum wirklicher Menschen und unterfordern mich deshalb. Bei ihnen werde ich mich nie mit ganzem Herzen engagieren. Es ist ein Unterschied, ob ich den Nuancenreichtum einer frischen Frucht zu mir nehme oder ein Industrieprodukt, die vor allem aus nackter, brutaler Süße besteht. Es ist ein Unterschied, ob ich einen Spaziergang im Freien mache, bei dem ich ganz dabei bin, mit Riechen, Fühlen, Bewegen, oder ob ich einen Film über Naturschönheiten sehe. Es ist ein Unterschied, ob ich mit Menschen am Telefon oder im Internet die Welt bespreche, oder ob ich leidend, kämpfend und voll Freude reale Menschen über Jahre begleite.
Es geht darum, was uns größeren Lebenseifer gibt, ein Gefühl der Erfrischung und Erneuerung; und woher eigentlich diese Gefühle des Ausgelaugtseins kommen, die geringe Begeisterungsfähigkeit, die Apathie und die Abwesenheit von Freude. Das eine macht mein Leben heller, das andere tötet meine Sine und trübt meine geistliche Sensibilität. Ich glaube, dass dies eine ganz große Bedrohung für die Erneuerung der Christenheit ist, dass Menschen auf einem niedrigen geistlichen Niveau gefangen werden und unempfindlich werden für diese Zusammenhänge.
Wachstum erlebt man dann, wenn man Narkotika gegen Inspiration eintauscht. Deshalb sagt Paulus: Sauft euch nicht voll Wein, woraus ein unordentliches Wesen folgt, sondern lasst euch vom Geist erfüllen. Auch wenn Zucker nicht so gefährlich ist wie Alkohol: unser vages Gefühl des Unbehagens sollten wir nicht mit Süßigkeiten überdecken. Die wirkliche Lösung ist der Durchbruch zu einem Leben im Heiligen Geist. Wir sind ursprünglich für ein Leben mit Gott gemacht, für das Paradies, deshalb werden wir in dieser gefallenen Welt immer wieder Enttäuschung und Leere erleben. Die Frage ist, ob wir dann zu einem Ersatz greifen, oder ob wir die Inspiration wählen, den Geist Gottes, der immer wieder an die eigentliche Qualität unseres Lebens erinnert und uns immer wieder einen Vorgeschmack der vollen Freude mitbringt, für die wir eigentlich bestimmt sind.
Ich habe vorhin gesagt: es kommt auf den Willen an. Auf eine bewusste Entscheidung, mit dem »Zeitvertreib« aufzuräumen, der uns Lebenszeit stiehlt, die wir nie zurückbekommen. Das ist der Anfang, und es ist wichtig, dass wir nicht daneben Gründe finden, weshalb wir eigentlich ein Recht auf unsere kleinen Fluchten haben. Es geht nicht darum, ob wir das dürfen oder nicht. Darüber kann man sich lange streiten. Es geht darum, ob wir ein volles Leben haben wollen oder oberflächliche Ablenkung, die uns leer und freudlos zurücklässt.
Viel sinnvoller ist es, nachzufragen, was uns eigentlich fehlt: Zu jeder Sucht gibt es eine Sehnsucht, die von der Sucht nur oberflächlich gestillt wird. Unsere Süchte können uns helfen, uns kennenzulernen:
Wer nascht und isst, möchte sich vielleicht erfüllt fühlen. Aber vielleicht erfüllt einen die Natur viel mehr, oder die Verbindung zu anderen Menschen und zu Gott.
Wer stundenlang am Computer spielt, der möchte vielleicht etwas bewegen im Leben, etwas aufbauen und regieren. Also, such dir im realen Leben eine Aufgabe. Und vergiss nicht: wir sind Kinder des großen Königs. Wir regieren jetzt schon diese Welt – wenn wir uns nicht aus der Realität abmelden.
Wer stundenlang im Internet surft, möchte vielleicht lernen und wachsen. Ja, auch im Internet kann man gute Sachen lernen. Aber dann richtig, und nicht nur hier und da mal schnuppern. Lernen geht nicht mühelos, und Bücher sollte man auch nicht verachten. Nur so stellt sich dann am Ende auch befriedigender Erfolg ein.
Wer stundenlang einkauft, möchte sich vielleicht reich fühlen. Sammeln Sie dann doch lieber Sachen, die nichts kosten, vielleicht auch Gedichte und Ideen.
Wer dauernd Dinge vor sich her schiebt, möchte sich vielleicht frei fühlen von Zwängen und Vorgaben. Aber Freiheit kommt in Wahrheit durch den Heiligen Geist – und durch konzentrierte Arbeit.
Noch ein Wort zu den Angehörigen und Freunden: im Stück vorhin spielt die Familie keine so gute Rolle. Es steht da ja zur Debatte, ob sie sich nicht ganz offiziell auf »Toleranz« gegenüber diesen Süchten einigen. Wir können wirklich einen Pakt schließen, uns in Ruhe zu lassen mit unseren Süchten. Wir können aber auch einen Pakt schließen, uns in ein immer reicheres Leben einzuladen. Was erwartest du wirklich von deinen Angehörigen: dass sie dich in Ruhe lassen, oder dass sie Aktivposten sind, die dein Leben reicher machen und dich nötigenfalls vor Narkotika warnen?
Was du da von ihnen erwartest, ist vielleicht die beste Testfrage dafür, wie wichtig es dir ist, ein tiefes Leben in deinen besten Möglichkeiten zu führen.