Der Leib Christi mitten in der Welt
Predigt am 12. Juni 2000 (Pfingsten II) zu Epheser 4,10-15
10 Jesus ist auf die Erde herabgekommen und dann wieder hinaufgestiegen. Dabei hat er alle Himmel unter sich unter sich gelassen und durchdringt jetzt das ganze All samt allem, was darin lebt, mit seiner göttlichen Macht. 11 Und auch die versprochenen Gaben hat er ausgeteilt: Er hat die einen zu Aposteln gemacht, andere zu Propheten, andere zu Evangelisten, wieder andere zu Hirten und Lehrern der Gemeinde. 12 Deren Aufgabe ist es, die Glaubenden zum Dienst bereitzumachen. Dadurch soll der Leib Christi erbaut werden.
13 So sollen wir alle zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, damit wir alle zusammen den vollkommenen Menschen bilden, der Christus ist, und hineinwachsen in die ganze Fülle, die Christus in sich umfaßt.
14 Wir sind dann nicht mehr wie unmündige Kinder, die kein festes Urteil haben und auf dem Meer der Meinungen umhergetrieben werden wie ein Schiff von den Winden. Wir fallen nicht auf das falsche Spiel herein, mit dem betrügerische Menschen andere zum Irrtum verführen.
15 Vielmehr stehen wir fest zu der Wahrheit, die Gott uns bekanntgemacht hat, und halten in Liebe zusammen. So wachsen wir in allem zu Christus empor, der unser Haupt ist.
Paulus schreibt den Epheserbrief, damit die Christen begreifen, auf was sie sich eigentlich eingelassen haben. Wißt ihr wirklich, worum es geht? fragt er. Macht euch klar, ihr seid der Leib Jesu, also der Punkt in der Welt, wo Jesus sichtbar wird. Ihr seid der Weg, auf dem der Herr über Himmel und Erde seine Herrschaft sein Reich in die Welt hineinbringt. Ihr habt eine unvergleichliche Mission.
Eineinhalb Kapitel vorher schreibt er: ihr seid die Wohnung Gottes. Wo wohnt also Gott? Durch den Heiligen Geist wohnt er in euch. Macht euch klar: wo ihr hingeht, da bringt ihr Gott mit. Es ist nicht das Kirchengebäude, in dem er wohnt, sondern es ist unser Körper. Wir sind das Haus Gottes, die Wohnung Gottes.
Das bedeutet: Wenn du nach Hause gehst, dann bringst du Gott mit nach Hause. Wenn du heute nachmittag noch mal nach Peine fährst, dann ist Gott mit dabei. Wenn du morgen früh wieder deine Kollegen siehst, dann begegnen sie Gott – durch dich.
Ein Kapitel vorher schreibt Paulus sogar: durch die Gemeinde macht Gott den Mächten und Gewalten seinen Plan bekannt. An der Gemeinde sollen sie die Weisheit Gottes erkennen.
Wo begegnest du also Vertretern der Mächte und Gewalten in der Welt? Schon wenn du heute in eine Radarkontrolle kommst. Oder wenn du morgen mit deinem Chef sprichst. Wenn du mit dem Finanzamt zu tun hast. Immer sind da Leute, die die Mächte dieser Welt vertreten, und sie sollen durch dich etwas verstehen von Gottes Plan.
Jesus ist präsent, wo seine Leute sind.
Ich erinnere mich, wie wir vor einem knappen Jahr zusammensaßen mit Leuten von den Rettungsorganisationen, von der Polizei und von der Feuerwehr und überlegten, wie wir wohl hier im Landkreis die Notfallseelsorge organisieren könnten. Und die Leute von den Rettungsdiensten wollten dann wissen: was macht ihr eigentlich, wenn ihr da mit jemandem zu tun habt, der gerade einen schweren Unfall hinter sich hat oder wenn ihr eine schlimme Todesnachricht überbringen müßt? Was sind eure Tricks oder eure Handwerkszeuge, mit denen ihr das macht? Und wir Kirchenleute haben dann erzählt, daß wir natürlich eine Seelsorgeausbildung gemacht haben, und daß wir dann natürlich auch unsere Berufserfahrungen im Umgang mit Menschen in schwierigen Situationen haben. Und dann sagte ein Kollege: ja, und wir wissen auch, daß wir nicht allein kommen. Wir fragen uns natürlich auch jedesmal vorher: wie wird das jetzt gehen, was wartet da auf dich, aber wir wissen, daß Jesus mit dabei ist, und das beruhigt ungemein.
Und als ich dann mal einen Einsatz hatte, dann stand mir diese Antwort vor Augen, und ich habe mich mit einer Familie auf dem Flur der Polizei in Peine hingesetzt und habe mit denen gebetet: Herr, jetzt hilf uns und sei du mit dabei, wenn wir jetzt zusammen gehen und dem alten Vater diese schwere Nachricht bringen müssen. Und auf einmal war das nicht eine Formel, die man eben so gebraucht, wenn man Pastor ist, sondern es war ganz deutlich, wie sehr uns das allen geholfen hat, und es ist dann auch leichter gegangen, als wir befürchtet hatten.
Nun erleben wir ja nicht dauernd solche dramatischen Situationen, aber es ist so: wir bringen Jesus mit, überall wohin wir kommen. Da sind wir sein Leib, durch den er in der Welt wirkt.
Ich habe lange Zeit bei diesem Wort »Leib Christi« die versammelte Gemeinde vor Augen gehabt, also im Gottesdienst oder in Gruppen. Bis mir klar geworden ist: das ist ja völlig verkürzt. Natürlich sind wir auch der Leib Christi, wenn wir einkaufen oder auf dem Bahnhof warten oder die Hecke schneiden oder zur Schule gehen. Schon aus der Bibel wissen wir, daß Christen manchmal ins Gefängnis kommen, damit Jesus auch dort hin kommt. Er hat uns beauftragt, in die ganze Welt zu gehen, und damit meint er nicht nur alle Länder und Völker, sondern auch alle Lebenssituationen. Und er hat gesagt: ich bin bei euch, alle Tage, bis an’s Ende der Welt. Wohin wir kommen, wir bringen ihn mit.
Wozu ist dann aber die Gemeinde da? Die Gemeinde ist der Platz, wo wir uns wieder daran erinnern, daß Jesus mit uns geht. Wo wir erzählen können, wie es uns ergangen ist mit ihm, wo wir uns ermutigen lassen, wenn etwas schief gegangen ist, wo wir überlegen, was wir besser machen können, wo wir Gott preisen und ihm danken für alles Gute, was uns begegnet ist. Wenn Menschen eine Woche lang mit Jesus gelebt haben, dann bringen sie etwas mit. Oder? Was ist los, wenn Menschen nach einer ganzen Woche nichts zu erzählen haben? Ich meine nicht, daß wir uns erzählen, wie viel Streß wir wieder hatten und daß jetzt die Wohnung fertig tapeziert ist, sondern wo wir es erlebt haben, daß Jesus durch uns die Welt erreicht hat.
Versteht ihr, wenn das gar nicht passiert, dann muß was faul sein. Dann ist es auch kein Wunder, wenn Glauben irgendwie langweilig und müde wird. Es kann sein, daß Menschen fröhlich oder total kaputt oder sehr niedergeschlagen sind, weil sie etwas mit Jesus erlebt haben, das ist o.k., aber wenn da gar nichts gewesen ist, wozu sollte man dann eigentlich zur Gemeinde kommen?
Gemeinde soll doch nicht eine Sonderwelt neben anderen Bereichen sein, eine Welt, wo man sich hinflüchtet und dann hofft, daß es da wenigstens weniger rauh zugeht als dort draußen. Es geht nicht darum, ein christliches Milieu zu schaffen, in dem man lebt, wie andere vielleicht im Milieu eines Sportvereins oder im Umfeld eines Betriebes leben. Gemeinde soll nicht das übrige Leben ersetzen, sondern sie soll uns helfen, Jesus mitzunehmen überall dorthin, wo wir leben.
In der Gemeinde gibt es Leute, die dafür besondere Funktionen haben. Das sind sozusagen die Trainer: Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer. Sie haben einen gemeinsamen Auftrag: »die Heiligen bereitzumachen für den Dienst«. Gemeinde ist dafür da, daß Menschen in der Welt besser, überzeugter, erfolgreicher und fröhlicher leben können und Jesus mit da hinnehmen.
Laßt uns einen Moment innehalten, damit wir uns klarmachen, wie weit wir uns davon entfernt haben. Die Rollenverteilung hier bei Paulus ist ganz klar: die Arbeit machen die normalen Christen. Die Leute mit den besonderen Aufträgen helfen ihnen dabei, sie beraten und ermutigen sie. Man weiß noch nicht mal, ob das bezahlte Kräfte waren, oder ob sie sich nicht wie Paulus z.B. von ihrer eigenen Hände Arbeit ernährt haben. Aber: sie sind für die Christen da.
Heute ist es genau umgekehrt: man hat den Eindruck, die Christen sind für die Kirche da, dafür, daß die Kirche existieren kann. Mit ihrer Mitarbeit, mit ihrem Einsatz und auch ihrem Geld tragen sie dazu bei. Die Menschen dienen dem Fortbestand der Institution, und kein Wunder, daß sie sich irgendwann fragen: Was habe ich eigentlich davon? Kommt da auch genug zu mir zurück? Was soll ich noch alles tun?
Mündig wurden die Christen damals, weil sie Tag für Tag in der direkten Konfrontation mit einer heidnischen Welt standen und in dieser Welt den auferstandenen Christus repräsentierten. Sie haben Tag für Tag überlegt, wie sie das am besten machen konnten. Sie erlebten Niederlagen und Siege, und am Ende kamen sie dann wieder in der Gemeinde zusammen und ließen sich erinnern und neu motivieren. Die Gemeinde diente den Menschen. Sie wollten ja mit Jesus Christus durch ihren Alltag gehen, und dafür brauchten sie Lehre, Ermutigung und Rat. Dazu war dann der »fünffältige Dienst« da, wie jemand das mal genannt hat: Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer.
Die Apostel machen den Anfang. Das sind die Leute, die sehen, wo überall Menschen noch nie etwas vom lebendigen Jesus Christus gehört haben, und die den Ruf Gottes hören, dort hinzugehen. Ich habe neulich von einem Kollegen gelesen, der in ein Ost-Berliner Neubaugebiet gezogen ist, so ein Plattenbau, wo es 25.000 Menschen gibt, aber so gut wie keine Gemeinde und keine Christen. Und mit ihm noch acht oder neun andere, die sich da Wohnungen gesucht haben und jetzt eine Gemeinde dort aufbauen. Apostel sind die Pioniere. Die Unternehmertypen sozusagen. Wenn eine Gemeinde erst mal da ist, dann ziehen sie weiter. Das beste Beispiel dafür, na klar: Paulus. Menschen, die eine Vision haben, die dann Menschen sammeln, die diese Vision teilen, und losgehen.
Dann die Propheten. Das sind die mit einem Gespür für den Willen Gottes. Die Durchblicker. Und zwar nicht nur für den Generalauftrag Gottes, daß wir in alle Welt gehen sollen, sondern Propheten hören: heute sollen wir in die Schloßallee gehen, oder in die Elisenstraße oder zu Familie Klöbner oder wohin auch immer. Oder Propheten können jemandem helfen, seinen ganz speziellen Auftrag zu finden, sie können ihm helfen, wenn er sagt: warum habe ich so einen schwierigen Kollegen? Und dann sagt so ein Prophet vielleicht: ich glaube, Gott sagt mir, daß da irgendwas mit einem Kind ist, wünscht der sich vielleicht ein Kind und hat keins? Oder hat er Kinder, um die er sich Sorgen macht? Oder er sagt: ich habe den Eindruck, daß da Neid im Spiel ist. Kann es sein, daß du den Kollegen beneidest? Oder er dich? Propheten sind sehr nützlich, sie können einem viel überflüssige Arbeit ersparen, wenn sie sagen, was Gottes genauer Wille ist.
Dann die Evangelisten. Leute, die gar nicht anders können, als Menschen von Jesus zu erzählen. Die können den Mund einfach nicht halten. Wenn die mit dem Zug von von Peine nach Hannover fahren, dann sind sie spätestens in Hämelerwald mit jemandem im Gespräch, und in Lehrte ist das Thema dann schon Jesus. Und wenn sie in Hannover aussteigen, hat der Schaffner einen Fischanstecker an der Uniform. Gut, ich will das jetzt nicht übertreiben, ich will nicht uns andere entmutigen, die wir uns im Zug hinter die Zeitung verkriechen und hoffen, daß sich im Abteil keiner neben uns setzt. Aber es gibt Menschen, denen das leichter fällt als anderen, und wenn einer von uns da eher mundfaul ist, dann kann er ja wenigstens Menschen mit jemand anders zusammenbringen, die da bessere Möglichkeiten haben.
Dann die Hirten. Wenn der Apostel weiterzieht und in einem anderen Stadtviertel eine Gemeinde gründet, fängt der Hirte erst richtig an. Der geht den Leuten nach, er hält es nur schlecht aus, wenn einer sich von der Gemeinde entfernt. Er hat ein Gespür dafür, wo jemanden der Schuh drückt, er ruft im richtigen Moment an, er redet zu und kümmert sich. Und er sagt im richtigen Moment: hast du mal überlegt, ob es auch an dir liegen könnte, wenn alle anscheinend so gemein zu dir sind? Müßtest du nicht mehr Verantwortung für dein Leben übernehmen? Mußt du vielleicht an deinem Weltbild arbeiten? Seelsorge ist vor allem Sache der Hirten.
Schließlich die Lehrer. Die können das Evangelium systematisch erklären. Sie können auch sagen, wo der Unterschied zu anderen Denkweisen liegt. Wenn jemand erzählt: meine Nachbarin, die glaubt an die Seelenwanderung, und sie sagt, das steht schon in der Bibel und ist was ganz Christliches, ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll, irgendwie stimmt das doch nicht, aber es klang so einleuchtend! Dann zeichnet der Lehrer mit ein paar Strichen schnell ein Schema, mit dem er den Unterschied zwischen christlicher und buddhistischer Lehre vom Leben nach dem Tod ganz einfach und für jeden einsichtig erklärt.
Vielleicht haben Sie das mit unserer Situation verglichen und haben gemerkt daß heute von diesen fünf Diensten gerade mal ein bis zwei übriggeblieben sind, ein bißchen der Lehrer und vor allem der Hirte. Pastor ist ja das lateinische Wort für Hirte. Und wenn man fast keine Apostel, Propheten und Evangelisten mehr hat, dann gibt es eine Hirtenkirche, in der die anderen alle zu Schafen werden, die möglichst gut versorgt werden wollen. Dann fallen gerade die Funktionen weg, die das Offensive betonen, das Hinausgehen in die Welt, die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit.
Offensiv hinausgehen, das bedeutet ja nicht nur, daß zahlenmäßig immer mehr Menschen erreicht werden, wie es beim Missionsbefehl zunächst einmal aussieht. Es bedeutet auch, daß die Gemeinde das ganze Gefüge der Welt durchdringt, daß sie immer mehr Durchblick bekommt, daß sie kompetenter wird, die Wirklichkeit zu durchschauen, und daß sie auf die Fragen der Welt überzeugende Antworten geben kann. Jesus durchdringt das ganze All, er ist uns vorangegangen durch das Leben, durch den Tod und durch alle Himmel, also die geistigen Sphären. Damit hat er uns einen Raum aufgemacht, in den wir hineinwachsen sollen. Von ihm her liegt alles offen und klar durchschaubar zutage. Es ist Aufgabe der Gemeinde, so zu wachsen, daß sie diesen Raum ausfüllt, den Jesus aufgemacht hat. Und das wird nur geschehen, wenn wir lernen, daß jeder von uns dorthin, wo er hinkommt, Christus mitbringt.