Die biblisch-reformatorische Tradition – ein Leben aus dem Wort Gottes
Predigt am 15. Februar 2004 (Die großen christlichen Traditionen V)
In der biblisch-reformatorischen Tradition begegnen wir Menschen, die aus dem Verständnis der Bibel große Kraft für die Gegenwart schöpfen und sich mutig den Mächten ihrer Zeit entgegenstellen. Sie studieren intensiv die Bibel, um wirklich auf sicherem Grund zu stehen, und sie erarbeiten in einer großen Breite biblische Leitlinien für die Gegenwart. Die öffentliche Wirkung ist aber normalerweise erst das Zweite; normalerweise geht ihr eine Zeit voran, in der ein Mensch sich konzentriert mit der Heiligen Schrift beschäftigt, sie durchdenkt und mit ihrer inneren Logik vertraut wird.
Das kann man schon an Jesus gut beobachten: der Zeit des öffentlichen Auftretens Jesu geht eine viel längere Vorbereitungszeit voraus. Und in dieser Zeit hat Jesus offensichtlich gründlich die Bibel studiert, natürlich nur das Alte Testament. Das hatte schon begonnen, als er zwölf Jahre alt war; wir wissen das aus der Geschichte vom 12-jährigen Jesus im Tempel. Jesus ist bei einem Besuch in Jerusalem verloren gegangen, und als seine Eltern ihn nach drei Tagen endlich wieder finden, wo ist er? Er ist im Tempel, bei den Schriftgelehrten, und diskutiert mit Ihnen über die richtige Auslegung der Bibel. Und weil die Schriftgelehrten damals schon staunten über seine klugen Fragen, deswegen muss er sich da schon einige Zeit mit der Bibel beschäftigt haben. Vielleicht kann man sagen: mindestens, seit er zehn Jahre alt war. Ungefähr mit 30 ist Jesus dann öffentlich aufgetreten. Das heißt, seine entscheidenden Jahre, es waren ungefähr drei Jahre, sind vorbereitet worden in den zwanzig Jahren davor.
In dieser Zeit hat er sich ein gründliches Verständnis angeeignet, und er hatte in jeder Diskussion das richtige Bibelwort zur Hand. Ganz häufig setzte er die Klarheit, die er aus der Heiligen Schrift gewonnen hatte, ein, um menschliche Selbstverständlichkeiten und Traditionen kritisch auseinanderzunehmen. Dabei benutzte er oft eine originelle Beweisführung jenseits der gewohnten Argumentationswege. Z. B. in der Sabbatfrage, in der er im Dauerkonflikt mit den offiziellen Theologen war. Da griff er auf die Geschichte zurück, wie David an einem Sabbat in der Not sogar von den heiligen Broten im Tempel gegessen hatte.
In vielen Situationen setzte Jesus die Kraft des aufgeschriebenen Gotteswortes ein. In seinem Mund wurde es lebendig. Und als er starb, das starb er mit einem Wort aus den Psalmen: mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Das war nicht der spontane letzte Eindruck eines Sterbenden, sondern ein Zitat aus den Psalmen. Jesus lebte so sehr in seiner Bibel, dass er auch in dieser Situation der äußersten Bedrängnis dort die richtigen Worte fand.
Diese biblisch-reformatorische Tradition hat dann ihre entscheidende kirchengeschichtliche Stunde eben in der Reformation gehabt. An erster Stelle ist hier Martin Luther zu nennen. Er fand auf Fragen, die in seiner Zeit gestellt waren, aus der Bibel antworten, die die ganze Welt erschütterten.
Martin Luther war ursprünglich Mönch. Er wurde dann Professor für Bibellehre an der Universität Wittenberg. In seiner Arbeit an der Auslegung der Bibel wurde er angetrieben von der Suche nach einem Weg, auf dem er mit Gott in Übereinstimmung gelangen könnte.
Es war damals eine religiös sehr bewegte Zeit. In allen Städten gab es viele Kirchen mit zahlreichen Priestern, die jeden Tag Gottesdienste abhielten und im Auftrag der Menschen an den Altären beteten. Aber diese ganze religiöse Maschinerie schien die Menschen nicht zu befriedigen. Im Gegenteil, sie produzierte nur noch mehr Fragen und Zweifel. Sie gab den Menschen keine zufrieden stellende Antworten auf ihre Fragen.
Auch Martin Luther suchte nach solchen Antworten. Wie kann ich sicher sein, dass Gott freundlich auf mich schaut und nicht voll Zorn? Was muss ich dafür tun? Durch sein Bibelstudium fand er nach und nach die Antwort: Gott ist schon auf meiner Seite, er tut von sich aus alles, um in ein gutes Verhältnis zu uns Menschen zu kommen. Er hat gar kein Interesse daran, seine Zorn über mich kommen zu lassen. Aber es kommt darauf an, dass ich das weiß. Wenn ich durch kirchliche Verkündigung, die nicht der Bibel entspricht, ein falsches Bild von Gott bekomme, dann ist dieses Verhältnis zu Gott gestört. Wenn ich vor einem falsch verstandenen Gott Angst habe, dann kann ich ihm nicht vertrauen. Aber wenn mir durch das Evangelium klar wird, wie Gott wirklich ist, dann kann ich ihm vertrauen. Dieses Vertrauen in einen menschenfreundlichen Gott nennt Luther »Glaube«. Es wird zu einem Schlüsselbegriff der Reformation werden.
Aber zunächst blieben Luther einige Jahre, in denen er seine neue Sichtweise überprüfen und ausbauen konnte. Er hielt weiter Vorlesungen über die Bibel, z. B. eine über den Römerbrief des Paulus. Die Studenten merkten, dass sie hier etwas Wichtiges und Neues lernen konnten. Aber diese Zeit des ruhigen Lernens und Durchdenkens war nach einigen Jahren ziemlich plötzlich zu Ende.
In der Nähe von Wittenberg begann der Dominikanermönch Tetzel zu predigen und den Leuten gegen Geld den sogenannten »Ablass« anzubieten. Er tat das im Auftrag des Papstes, der Geld brauchte für den Bau des Petersdomes in Rom. Er versprach den Menschen, dass sie durch die Zahlung einer bestimmten Summe an die Kirche sich sicher sein könnten, mit Gott im Reinen zu sein. Das heißt, die religiöse Maschinerie, von der Luther längst wusste, dass sie sinnlos ist, legte einen verschärften Gang ein. Ihre nackte Geschäftsgrundlage wurde jetzt ziemlich offen sichtbar: Geld gegen Gnade. Aber nach dem, was Luther inzwischen vom Evangelium verstanden hatte, war das kein solides Geschäft, sondern Schwindel. Tetzel war wie ein Gnaden-Dealer, der seine Kunden nur noch süchtiger macht, aber ihnen kein wirkliches Glück verkaufen kann.
Luther wollte seine Leute gegen diesen betrügerischen Einfluss schützen. Deshalb klebte er am frühen Morgen vor einem hohen kirchlichen Festtag ein Protestplakat an die Tür der Wittenberger Kirche. Es war der 31. Oktober 1517. Dieser Tag sollte als Beginn der Reformation in die Geschichte der Kirche eingehen.
Insgesamt 95 Thesen hatte Luther zusammengestellt, in denen er die Ablasspraxis der päpstlichen Kirche praktisch und auch grundsätzlich angriff. Es waren offensichtlich die richtigen Argumente im richtigen Moment. Die 95 Thesen erregten enormes Aufsehen, und weil kurz vorher die Buchdruckerkunst erfunden worden war, verbreiteten sie sich im Nu. Die Buchdrucker machten mit Luther zum ersten Mal ein Bombengeschäft. Es sollte nicht das letzte sein.
In den folgenden Jahren schob Luther mehrere Bücher nach, die ebenfalls Riesenauflagen erreichten. Je mehr er von Seiten der Amtskirche angefeindet wurde, um so grundsätzlicher wurde seine Kritik. Stück für Stück ging ihm auf, dass das Evangelium, das er wiederentdeckt hatte, in der Institution der römischen Kirche gefangen und wirkungslos gemacht worden war. So verfasste er eine Schrift unter dem Titel »Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche«.
Die offizielle Reaktion des Papstes ließ zwar einige Jahre auf sich warten, aber am Ende kam sie doch: in einer so genannten »Bulle« wurde die Position Luthers verurteilt und ihm selbst der Bahn angedroht, also der Ausschluss aus der Kirche, wenn er seine Behauptungen nicht widerrufen würde.
Luther hatte inzwischen in Deutschland viele Anhänger gewonnen. Er war nicht bereit, zurückzuweichen, und zum Zeichen dafür verbrannte er diese Bulle öffentlich vor den Toren Wittenbergs. Und die Sammlung der kirchlichen Gesetze warf er gleich hinterher ins Feuer. Damit war der Bruch in einer dramatischen Handlung vollzogen.
Luther konnte sich auch deshalb diese starke Geste erlauben, weil sein Landesfürst ihn beschützte. Kurfürst Friedrich der Weise erreichte, dass Luther nicht sofort verurteilt wurde, sondern eine Chance bekam, sich vor dem deutschen Reichstag in Worms zu rechtfertigen.
Das wurde eine dramatische Situation. Luther war inzwischen eine Art Volksheld geworden, alle redeten über seine Schriften und schimpften auf den Papst, aber der Kaiser blieb hart und forderte Luther auf, seine Thesen zurückzunehmen. Aber auch vor dieser höchsten irdischen Autorität weigerte Luther sich und berief sich auf die Bibel. Dann kamen seine berühmten Worte: »ich stehe hier, ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen.«
Kurfürst Friedrich der Weise fand es danach richtig, Luther erst einmal für eine Weile aus dem Verkehr zu ziehen. Auf dem Rückweg nach Wittenberg ließ er ihn kidnappen und heimlich auf die Wartburg bringen.
Dort hatte Luther endlich wieder viel Zeit zum Nachdenken, Lesen und Arbeiten. Er nutzte sie, um das Neue Testament ins Deutsche zu übersetzen. Außerdem ließ er sich einen Bart wachsen. Auch das Neue Testament in der deutschen Übersetzung wurde ein Bestseller. Das Projekt einer Übersetzung der ganzen Bibel schloss Luther erst Jahre später. Mit der Lutherbibel hat er dafür gesorgt, dass Menschen auf breiter Front wieder Zugang zur ursprüngliche Botschaft des Christentums bekamen und nicht allein auf die kirchliche Tradition angewiesen waren.
Der Zweite aus der biblisch-reformatorischen Tradition, von dem ich heute sprechen will, war der Schweizer Theologe Karl Barth. Er ist zeitlich sehr viel näher an uns dran, er starb vor knapp 40 Jahren. Er hat eine entscheidende Rolle gespielt für den Widerstand der Kirche gegen den Nationalsozialismus. Ohne seine Theologie wäre die deutsche Kirche wohl widerstandslos Hitler auf den Leim gegangen.
Karl Barth kam aus einer Theologenfamilie. Sein Vater war Professor für neues Testament in Bern. Der junge Karl Barth studierte in Deutschland Theologie. Er hörte alle Professoren, die damals Rang und Namen hatten und auf der Höhe der Zeit waren. 1911 war er mit seiner Ausbildung fertig und ging als Gemeindepastor in eine Arbeiter – und Bauerngemeinde im Aargau: nach Safenwil. Hier lernte er die soziale Problematik kennen. Und der junge Pfarrer engagierte sich auch für die weltlichen Belange seiner Gemeinde. Er bemühte sich, für die Arbeiter seiner Gemeinde gewerkschaftliche Vertretungen zu schaffen. 1915 trat er der sozialdemokratischen Partei bei.
Inzwischen war der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Im Pfarrhaus von Safenwil saß der Pfarrer Barth und musste damit fertigwerden, dass alle seine deutschen theologischen Lehrer einen Aufruf unterzeichnet hatten, mit dem sie die Kriegspolitik des Deutschen Kaisers unterstützten. Das war safenwil.jpgein Schock, und jetzt merkte er, dass er nicht nur an ihrer politischen Einstellung, sondern auch an ihrer Theologie Zweifel hatte. Wie konnte es nur geschehen, dass sich die Kirche so sehr der Welt anpasste? Wie müsste eine Theologie aussehen, die mehr Widerstand gegen Zeitströmungen erlaubte? Karl Barth begann, neu auf die Bibel zu hören. Der Pfarrer von Safenwil verbrachte von nun an viel Zeit mit der Lektüre des Römerbriefes. Er versuchte, den Text noch einmal so zu verstehen, als ob er ihn noch nie zuvor gelesen hätte.
Gemeinsam mit seinem Freund Eduard Thurneysen, dem Pfarrer in einer Nachbargemeinde, diskutierte er immer wieder neu die dramatische Weltsituation, und was das für Theologie und Kirche bedeutet. 1917 war in Russland die Revolution ausgebrochen. Im gleichen Jahr erschien in einem Schweizer Verlag das erste Buch Karl Barths. Es war eine Auslegung des Römerbriefes.
Was Barth in vielen Stunden an seinem Studierpult in Safenwil klar geworden war, das ließ Menschen überall in der Kirche aufhorchen. Das Buch über den Römerbrief war ein einziger Ruf dazu, als Kirche unabhängig zu werden und sich nicht an den Rockzipfel der jeweils tonangebenden Mächte anzuhängen. Dieses Buch machte Barth mit einem Schlag bekannt. 1921 wurde er auf einen neuen Lehrstuhl an der theologischen Fakultät in Göttingen berufen. Als theologischer Lehrer konnte er jetzt den gedanklichen Neuansatz seiner Theologie auch in der Breite durchführen. Er entwickelte eine Theologie, in deren Mittelpunkt Jesus Christus stand, und die von biblischen Zeugnis geprägt war. Er begann sein Lebenswerk, die »Kirchliche Dogmatik«, die bei seinem Tod knapp 10.000 Seiten umfasste. Sie ist durchzogen von Einzelauslegungen biblische Texte.
Die Bewährungsprobe für diese Theologie sollte bald kommen. 1933 kam in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht. Und auch in der Kirche gab es viele, die darüber begeistert waren. Viele von ihnen sammelten sich in einer neuen Kirchenpartei, den sogenannten »Deutschen Christen«. Die Deutschen Christen verstanden sich als die Nationalsozialisten in der Kirche. Sie übernahmen den Stil und die Methoden von Hitlers Partei. Dieses Bild zeigt nicht etwa einen Parteiredner, sondern den Braunschweiger Landesbischof Beye. Die Deutschen Christen sorgten dafür, dass ein nationalsozialistischer Reichsbischof eingesetzt wurde. Seine Einführung glich mehr einer nationalsozialistischen Parteiveranstaltung.
Es war kein Wunder, dass Karl Barth unter denen war, die diese Entwicklung nur mit Grausen verfolgen konnten. Diese Anpassung an den politischen Zeitgeist war absolut das Gegenteil von dem, was er und seine Schüler inzwischen mühsam gelernt hatten. So waren viele der Schüler Barths unter denen, die Widerstand organisierten gegen die nationalsozialistischer Übernahme der deutschen Kirche.
1934 versammelten sich in Wuppertal-Barmen kirchliche Vertreter aus ganz Deutschland zur Barmer Bekenntnissynode. Am Ende verabschiedeten sie eine Erklärung, die als das Bekenntnis von Barmen eine entscheidende Rolle für die Unabhängigkeit der Deutschen evangelischen Kirche im Dritten Reich gespielt hat. Es war vor allem von Karl Barth formuliert worden.
In diesem Bekenntnis erklärten die Synodalen von Barmen: »Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben«. Das ist das Fundament gewesen, auf dem sich die evangelische Kirche ihre Unabhängigkeit vom Nationalsozialismus mühsam erkämpft hat, und manchmal ist daraus sogar richtiger Widerstand geworden.
Ich kann jetzt nicht den weiteren Verlauf des Kirchenkampfes erzählen. Karl Barth hat dabei eine wichtige Rolle als Ratgeber und Mahner gespielt. Er lebte noch bis 1968. Er ist sicher der größte Theologe des 20. Jahrhunderts gewesen, vielleicht auch darüber hinaus.
Das Anliegen der biblisch – reformatorischen Tradition des christlichen Glaubens kann man vielleicht in drei Punkten zusammenfassen:
1. Gegen alle kirchlichen Traditionen wird die Autorität der Bibel festgehalten. Gegen alle Verfälschungen, die sich im Lauf der Zeit einstellen, fragt man immer wieder zurück nach den Ursprüngen im Alten und Neuen Testament. Zwar ist Jesus Christus das eine Wort Gottes (also nicht die Bibel), aber es ist Jesus Christus, »wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird«, und kein anderer.
2. Dieser feste Grund sorgt immer wieder dafür, dass es zu Klärung und Entscheidung kommt. Und durch diesen festen Grund ist man in der Lage, auch Konflikte und Krisen durchzustehen. Und das gilt nicht nur für die großen Schicksalsstunden der Kirche oder eines Landes, sondern das gilt genauso für die Entscheidungen des persönlichen Lebens.
3. Auf der Basis eines intensiven Studiums wird die Bibel lebendig: sie ist so etwas wie ein Konzentrat, das durch intensives Studium und durch Auslegung so zubereitet wird, dass es in die jeweilige Zeit hineinspricht. Und diese Arbeit geschieht mit großer Aufmerksamkeit und Konzentration, wo Menschen in der biblisch-reformatorischen Tradition stehen.