Die Tradition der Gestaltwerdung des Glaubens
Predigt am 14. März 2004 (Große christliche Traditionen VI)
12,1 Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. 2 Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene. (Römer 12,1-2)
In der Tradition der Gestaltwerdung des Glaubens stoßen wir auf Menschen, die dafür sorgen, dass die Beziehung zu Gott nicht nur eine innere Wirklichkeit bleibt, sondern dass sie auch anschaulich nach außen tritt und die Welt gestaltet. Und zwar nicht nur das eigene Leben, sondern auch größere Zusammenhänge. Es geht um den Ausdruck des Glaubens in Kunstwerken, in politischen Regelungen, in kulturellen Leistungen, in der Gestaltung von Gottesdiensten oder auch in gesellschaftlichen Grundordnungen wie etwa unserem Grundgesetz.
Grundlage für das alles ist die Zuwendung Gottes zur ganzen Welt. Gott hat die Welt so geschaffen, dass man überall sinnvolle Dinge tun kann, die ihm Ehre machen, selbst dann, wenn auf den ersten Blick gar nicht deutlich ist, wie viel vom Geist des Evangeliums darin steckt. Deswegen habe ich vorhin die Geschichte von der Verkündigung an Maria vorgelesen, weil das der entscheidende Moment ist: Gott beschließt, dass der Mensch werden will, ein wirklicher Mensch aus Fleisch und Blut, und damit zeigt er, dass man in dieser Welt ein Leben nach seinem Herzen führen kann – trotz allem. Jesus nimmt die ganze Wirklichkeit an, er heilt die Leiber und gibt den Menschen zu essen, und er hat lange Jahre neben seinem Bibelstudium schlicht und einfach gearbeitet. Auch wenn darüber im neuen Testament fast gar nichts berichtet wird, weil das nun wirklich nicht das Entscheidende an ihm war. Trotzdem hat ihm sicher keiner nachsagen können, dass er faul war oder schlechte Arbeit geleistet hat..
Im Römerbrief formuliert Paulus dann einen Satz, der für viele Menschen eine Anleitung geworden ist zu ihrem »Gottesdienst im Alltag der Welt«, wie eine bekannte Formulierung lautet. Paulus schreibt: Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und er meint mit der Formulierung »vernünftiger Gottesdienst« nicht, dass die Gottesdienste am Sonntag unvernünftig oder wirr wären, sondern er betont einfach, dass man als Christ im Alltag seinen Verstand gut gebrauchen soll.
Dieses vernünftige, sinnvolle Handeln hat die Christenheit immer begleitet, und wenn der Zusammenhang zum Kernbereich des Glaubens auch wirklich deutlich wurde, hat das dem Evangelium nicht selten die Tür geöffnet zu Menschen, die man sonst nur schwer erreicht hätte. Ich denke daran, wie christliche Missionare sich eigentlich immer auch um die Kranken gekümmert haben, sie haben für sie gebetet, sie haben aber oft auch medizinische Erkenntnisse mitgebracht und angewandt. Und später waren es die christlichen Klöster, in denen die Heilkunst ausgeübt und Heilpflanzen angebaut wurden. Überhaupt sind die Klöster über viele Jahrhunderte hin Zentren der Kultur, der Bildung und Zivilisation gewesen. Im frühen Mittelalter, als die wenigsten Menschen lesen und schreiben konnten, auch Kaiser und Ritter nicht, da waren es oft Mönche, die in den Kanzleien der Herrscher dafür sorgten, dass Entscheidungen dokumentiert werden konnten.
Man sieht natürlich an diesem Beispiel auch, dass nicht jede Kulturleistung auch schon das Evangelium verbreitet. Wahrscheinlich haben die Schreiber eben auch ungerechte Verträge und Urteile ausgefertigt. Trotzdem ist die Schrift eine entscheidende Errungenschaft, die viel dazu beigetragen hat, dass wir nicht mehr wilde Barbaren sind.
Ich möchte heute als Beispiel für diese Tradition der Gestaltwerdung des Glaubens den Pfarrer Johann Friedrich Oberlin nennen. Oberlin kam 1767 mit 27 Jahren als Pfarrer in die arme Gemeinde Waldersbach im Elsass, 40 Kilometer südwestlich von Straßburg.
Waldersbach lag im Steintal, einem abgeschiedenen Winkel in den Vogesen. Es gehörte zu den Tälern, in denen früher einmal Waldenser Zuflucht gefunden hatten, es hatte also eine alte evangelische Tradition. Diese geschützte Lage, die den Evangelischen dort geholfen hatte, auch schwierige Zeit zu überstehen, hatte nun aber dazu beigetragen, dass die ganze Gegend sehr rückständig und unterentwickelt war. Der dreißigjährige Krieg hatte das Land und die Sitten in einem üblen Zustand hinterlassen. Es gab nur schlechte Straßen und Verkehrsverbindungen. Die Äcker waren ungepflegt und die Menschen sprachen einen Dialekt, mit dem sie sich außerhalb kaum verständlich machen konnten. Das Steintal hatte seinen Namen von der Burg Stein, deren Ruinen noch heute zu sehen sind. Die Landschaft war herrlich, und Oberlin hat aus ihr immer wieder Kraft gezogen.
Oberlin war geprägt von der Frömmigkeit der Herrnhuther, einer evangelischen Gemeinschaft, die sich in Herrnhuth unter Leitung des Grafen Zinzendorf gegründet hatte. Impulse aus dieser Gemeinschaft haben fast überall auf der Welt Auswirkungen gehabt. Oberlin beschäftigte sich aber auch mit Mystikern und nahm ihre Einflüsse auf.
59 Jahre lang war Oberlin Pfarrer von Waldersbach. Die Kirche und das Pfarrhaus stehen noch heute, es ist nur nicht mehr so viel Wald da. Oberlin war von Kind auf geprägt von der Freunde an der Schöpfung und von persönlicher Dankbarkeit gegenüber seinem Schöpfer. Während seines Theologiestudiums in Straßburg hatte er sich für alle Fächer interessiert: für Naturwissenschaften, für Geschichte, für Philosophie, für Medizin. Bei einem Arzt hatte er sogar praktische medizinische Erfahrungen gesammelt. So war er bestens vorbereitet auf die Aufgabe, der er sich nun bis an sein Lebensende widmete: diese vernachlässigte und heruntergekommene Landschaft zu entwickeln. Als er 1826 starb, war das Steintal nicht wiederzuerkennen.
Die Leute erlebten ihren Pfarrer nicht nur sonntags auf der Kanzel. Bald sahen sie ihn mit Hacke und Schaufel in dem unwegsamen Tal Wege anlegen. Gemeinsam mit einem Tagelöhner baute er Brücken über die Bachläufe. Zuerst schauten die Menschen kritisch auf diese Neuerungen, aber allmählich gewann er sie zur Mitarbeit. Er schrieb in sein Tagebuch: »Suche vor allen Dingen die Liebe und das Zutrauen desjenigen zu erwerben, den du bessern willens.«
Ein andermal notierte er nach einem Hausbesuch: »Die … kleinen Kinder kamen um mich herum zu stürmen. Ich konnte mich der Tränen nicht enthalten, da ich einerseits die zarte Jugend, und andererseits die üble Auferziehung, die sie hatten, betrachtete, an einem Orte, wo fluchen, schelten, schwören, schlagen, raufen häufiger als Brot sind.«
Aber die Menschen hörten in der Predigt nicht Worte des Bedauerns, sondern ihnen wurde die Aufgabe vor Augen gestellt, die uns anvertraute Schöpfung zu gestalten. Oberlin nannte die Faulheit eine schlimme Sünde gegenüber dem Schöpfer. Das brachte ihm zunächst wenig Sympathien ein.
Im Rückblick sagte er: »Anfangs waren meine Predigten vortrefflich nach dem Geschmack der Steintäler. Seitdem ich aber dieser guten Leute Fehler kenne und ihre äußerste Unwissenheit in allem, und ich mich daher so tief mir immer möglich herunterlassen und dem mir nun bekannten Bedürfnis meiner Zuhörer gemäß zu predigen mich bemühen, seitdem hat man beständig daran auszusetzen. Bald heißt es: ich wäre zu scharf; bald: so könne es jeder; bald: meine Mägde hätten mir meine Predigt gemacht.« Das heißt, solange er gelehrt predigte und die Leute das eigentlich nicht verstanden, waren sie zufrieden. Als er volkstümlich und verständlich predigte, da kam auch Kritik.
Aber Oberlin ließ sich nicht entmutigen. Er sorgte dafür, dass auf den Feldern hinderliche Felsen gesprengt und Schutzmauern errichtet wurden. Für die Wiesen beschaffte er geeignete Grassamen, die höhere Erträge brachten. Im Pfarrgarten experimentierte er mit Kartoffelsorten, bis er herausgefunden hatte, welche Sorte im Steintal am besten gedieh. Unter seiner Anleitung wurde es Sitte, bei Taufen, Konfirmationen und Hochzeiten einen Obstbaum zu pflanzen.
Besonders kümmerte sich Oberlin um die Ausbildung der Kinder. Schon 1769 ließ er ein Schulhaus bauen und führte so etwas wie die Schulpflicht ein – über 100 Jahre, bevor es sie in Frankreich offiziell gab. Für die Kinder, die noch nicht schulpflichtig sind, führt er »Strickschulen« ein und erfindet damit so etwas wie Kindergärten. Er entwirft einen Lehrplan, nach dem einheimische Lehrer in den Schulen unterrichten können.
1773 führt er die Baumwollspinnerei ein, damit die Menschen mehr Möglichkeiten haben, etwas zu verdienen. Seine Frau stellt einen Webstuhl ins Pfarrhaus, um die Heimarbeit anzuregen. 1778 gründet er einen landwirtschaftlichen Verein, 1785 eine Leih – und Kreditanstalt. 1791 schlägt er vor, dass auch die Frauen an den Sitzungen des landwirtschaftlichen Vereins teilnehmen sollten. Schließlich führt er das Diakonenamt für Frauen ein und schafft damit die ersten Anfänge für einen Frauenberuf.
Trotzdem zeigte es sich, dass Heimarbeit und Landwirtschaft die Bevölkerung nicht ausreichend ernähren konnten. Da gewann Oberlin den Unternehmer Legrand, im Steintal zu investieren. Er gründete dort 1813 einen Betrieb für Seidenbandwirkerei. So kam es schließlich dazu, dass bei Oberlins Tod das Steintal eine mindestens doppelt so große Bevölkerung hatte wie bei seinem Amtsantritt, manche sagen sogar, die Bevölkerung habe sich verzehnfacht. Als er 1826 starb, soll der Trauerzug zwei Meilen lang gewesen sein. Da hieß er schon längst »Der Vater des Steintals«. Auf dem schmiedeeisernen Kreuz an seinem Grab stehen die Worte »Papa Oberlin«.
Interessant ist eine Episode aus der Zeit der französischen Revolution. Oberlin begrüßte zunächst die Ausrufung der allgemeinen Menschenrechte und sah diese Vorgänge als Signal des kommenden Gottesreiches. Als 1793 die Religionsausübung verboten wurde, gründete Oberlin einen Volksclub und setzte die religiösen Versammlungen als Veranstaltung dieses Klubs fort. 1794 wurde er vorübergehend verhaftet, kam aber auf Betreiben der Bürgermeister des Steintals bald wieder frei.
Mindestens vorübergehend muss Oberlin aber sich sehr mit der französischen Revolution identifiziert haben. Das ist die Gefahr dieser ganzen Tradition: dass man eine bestimmte Entwicklung oder auch eine bestimmte Tradition mit dem Reich Gottes identifiziert. Alle unsere Bemühungen sind hoffentlich vom Reich Gottes geprägt, aber sie sind nicht das Reich Gottes. Die Tradition der Gestaltwerdung des Glaubens ist immer dann segensreich, wenn sie diesen Unterschied kennt. Immer, wenn sich die Formen, in denen der Glaube Gestalt angenommen hat, verselbstständigen und der Rückbezug auf den Ursprung kaum noch deutlich ist, dann wird auch der Segen weniger, der von solchen Verwirklichung des Glaubens ausgeht. Man muss das sicherlich sagen von unserer abendländischen Kultur, die sich dem Glauben verdankt, die aber immer weniger aus diesen Wurzeln lebt.
Trotzdem, es ist faszinierend, wie sich die Energie des Reiches Gottes auch in ganz weltlichen Entwicklungen und Unternehmungen widerspiegelt und manchmal sogar segensreich wird für ganze Landstriche.