Eine neue Hoffnung
Predigt am 20. November 2016 (Ewigkeitssonntag) zu Daniel 12,1-3
1 Zu jener Zeit wird Michael auftreten, der große Engelfürst, der für dein Volk einsteht. Denn es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Völker gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen. 2 Und viele, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande. 3 Und die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.
Dieser Abschnitt stammt aus einer Zeit fast 200 Jahre vor dem Tod und der Auferstehung Jesu. Es war eine Zeit voller Umbrüche und voller Gewalt. Alexander der Große hatte die halbe Welt erobert, zwischen Griechenland, Ägypten und Indien gab es einen einheitlichen Kulturraum: überall sprach man wenigstens ein bisschen Griechisch, so wie heute fast alle mindestens ein paar Brocken Englisch können. Die Menschen lebten nicht mehr nur im kleinen Bereich ihrer Familie oder ihrer Stadt, sondern ihr Horizont hatte sich enorm geweitet. Neue Mächte tauchten auf: große Reiche, regiert von den Nachfolgern Alexanders. Die kämpften miteinander um das größte Stück vom Kuchen. Sie prägten Münzen mit ihrem Bild und konnten große Heere von professionellen Soldaten bezahlen, denn mit Hilfe des Geldes konnten sie ihre Länder viel effektiver besteuern. Die Welt war voller Unsicherheit, voller Unruhe und voller Kämpfe.
Eine dunkle Zeit
Besonders schlimm wurde es, als einer dieser Könige beschloss, den alten Glauben Israels auszurotten. Er wollte Untertanen, die entweder ihn selbst anbeteten oder wenigstens die modernen griechischen Götter, die so viel besser in die neue Zeit passten. Aus dem Jerusalemer Tempel wurde ein Zeustempel, den befreienden Gott Israels zu verehren wurde bei Todesstrafe verboten, seine Feste und Bräuche wurden untersagt. Es hätte nicht viel gefehlt, und der Glaube Israels, der doch noch Jesus hervorbringen sollte, wäre ausgerottet worden.
Was haben diese alten Geschichten mit uns zu tun, wenn wir heute an Menschen denken, die dem Tod zum Opfer gefallen sind? Manches aus dieser Zeit kommt einem heute ganz schön modern vor. Vor allem aber zwang diese umfassende Unsicherheit die Menschen dazu, Ausschau zu halten nach ganz neuen Quellen der Hoffnung. Denn der Kampf gegen die dunkle Bedrohung war eigentlich von vornherein hoffnungslos. Der König, Antiochus Epiphanes hieß er, war brutal, grausam und sehr entschlossen. Seine Truppen, bestens bewaffnet und trainiert, waren gnadenlose Kampfmaschinen, die alles vernichteten, was sich ihnen in den Weg stellte.
Was wird aus den Opfern?
In dieser Situation haben sie damals neu nach den alten Geschichten vom Befreienden Gott gefragt, der sie schon einmal aus der Sklaverei in Ägypten gerettet hatte, über 1000 Jahre früher. Aber diesmal schien alles noch viel schlimmer zu sein. Und was hätte das auch denen genutzt, die im Kampf gegen den König ihr Leben verloren?
Aber ein Wunder geschah: mit Guerillataktik besiegten sie die modernen Elitetruppen, innere Probleme in Antiochus‘ Reich halfen ihnen, nach dreieinhalb Jahren eroberten sie Jerusalem zurück. Niemand hätte das erwartet.
Doch das Problem blieb: was war mit all den Menschen, die ihr Leben dafür gegeben hatten? All die Opfer und Märtyrer – sollte es mit denen jetzt einfach aus sein? Und in dieser Situation entstand der Gedanke: wenn Gott uns aus dieser hoffnungslosen Lage gerettet hat – hat er dann nicht vielleicht auch für die eine Hoffnung, die ihr Leben für die Freiheit gelassen haben?
Allmählich und tastend wurde eine neue Hoffnung formuliert: wer zum Gott des Lebens gehört, der hat auch angesichts des Todes einen Befreier, einen Retter. Und wenn man das weiter denkt: Müsste nicht eigentlich der lebendige Gott sogar stärker sein als die Gewalt des Todes und all seiner Verbündeten?
Ein Feind des Lebens in vielen Gestalten
Immer mehr wuchsen alle Bedrohungen des Lebens zusammen, bis sie ein einheitliches Bild des Feindes ergaben: der Tod in vielen Gestalten, von gewalttätiger Unterdrückung bis zu Krankheit und Katastrophen, Unrecht und Unfall. Ein Gegner, der das Leben an unzähligen Stellen verdirbt und zerstört. Ein Feind der guten Schöpfung Gottes, unterwegs in vielerlei Gestalten.
Und die alte Geschichte vom lebendigen Gott, der seine Menschen befreit hat und der überhaupt am Anfang dem Menschen seinen Lebensatem eingehaucht hat, wurde neu gelesen: es kommt der Tag, an dem Gott seinen Lebensatem noch einmal aussendet auf seine Leute, die im Staub der Erde schlafen, im Land des unbelebten Staubes, der darauf wartet, von neuem beseelt zu werden.
Denken in Beziehungen
Hilfreich war dabei, dass sie damals in Beziehungen dachten: Leben ist kein chemischer Prozess, Leben ist die Beziehung zum Schöpfer, zur Quelle des Lebens, und diese Beziehung wird so ausgedrückt, dass Gott seinen eigenen Atem mit uns teilt. Er blies dem noch unbeseelten Adam den Odem des Lebens in die Nase. Menschen sind Staub, zu dem Gott eine Beziehung aufgenommen hat, und damit hat er uns erst ins Leben gerufen.
Für unsere Ohren klingt das ungewohnt, aber denken Sie nur mal an den Satz, den man jetzt öfter in verschiedenen Varianten über Todesanzeigen lesen kann: »Wer im Gedächtnis seiner Lieben weiterlebt, der ist nicht tot.« Auch da der Gedanke, dass Leben durch Beziehungen geschenkt wird. Gut, in dieser Form ist das eine begrenzte Hoffnung, weil ja irgendwann auch der letzte Mensch, der uns noch gekannt hat, tot sein wird. Sterbliche Menschen sind überfordert, wenn sie Garanten der Unsterblichkeit sein sollen. Aber wenn der Gott des Lebens, der Schöpfer, an seiner Beziehung zu uns festhält, dann haben wirklich alle eine Hoffnung, die im Land des Staubes schlafen.
Gott bindet sich an Menschen, schon bevor es uns gibt, und dann ruft er uns ins Leben. Ein Leben lang atmet Gottes Lebensatem in uns, und ebenso lange hallt in uns jener erste Ruf wider, mit dem er uns ins Leben gerufen hat: Komm, werde lebendig, vertrau mir und meiner Welt! Von Anfang an sind wir Geschöpfe, die in Beziehung leben, das kommt nicht erst nachträglich dazu, sondern ohne die Beziehung zum Schöpfer des Lebens gäbe es uns gar nicht. Diese Beziehung lebt im Zentrum unserer Existenz. Und wenn Gott von seiner Seite aus an uns festhält und uns noch einmal ins Leben ruft, obwohl wir schön längst zu Staub geworden sind, dann sind wir geborgen im Gedächtnis Gottes, bis sein großer Tag kommt, an dem er alles erneuert.
Ist das real?
Erst nach und nach kamen all diese Gedanken ans Tageslicht, die in den alten Geschichten verborgen waren. Und auch wenn es plausibel und logisch klingt: wie sollte man es überprüfen? War das mehr als eine vage Hoffnung?
Fast 200 Jahre dauerte es, bis tatsächlich Jesus kam und die Probe machte. Und er tat es nicht aus neugierigem Übermut, sondern weil er den deutlichen Auftrag Gottes empfangen hatte. Er wusste, was es ihn kosten würde, aber er ging entschlossen auf diese letzte und äußerste Probe zu. Er starb den Foltertod am Kreuz, im Vertrauen darauf, dass die alten Geschichten wahr sind und Gott treu ist. Seine Jünger verstanden es nicht, für sie war alles zerstört, an das sie geglaubt hatten. Aber am dritten Tag, als sie schon dabei waren, auseinander zu laufen und ihre Hoffnung endgültig zu verlassen, da begegnete er ihnen in neuer Gestalt, von neuem ins Leben gerufen vom lebendigen Gott als der erste von allen.
Und erst allmählich begriffen sie: es ist tatsächlich wahr, was in den alten Geschichten verborgen war. Es ist anders und größer, als wir es uns vorstellen können, aber der lebendige Gott ist stärker als der Tod und alle seine Verkleidungen, in denen er das Leben mühsam, schmerzlich und schwer macht.
Ein neuer Ruf ins Leben
Das ist eine Orientierung für uns, die uns Tag für Tag den Weg des Lebens finden lässt. Jesus ist derjenige, der uns dazu leitet, und da sind noch die anderen, die uns an Jesus und seinen Weg erinnern, und mitten in den dunklen Zeiten leuchtet seine Auferstehung hell wie die Sterne am Himmel, an denen man sich damals orientiert hat, wenn man seinen Weg finden wollte.
Die ganze Schöpfung wartet darauf, dass Gott an seinem Tag von neuem den Ruf ins Leben ertönen lässt, und auch die, die im Land des Staubes schlafen, werden ihn hören. Bis dahin üben wir uns darin, diesen Ruf Gottes jetzt schon zu hören: den Ruf, der uns am Anfang ins Leben gerufen hat, und dem wir gefolgt sind, weil er so verheißungsvoll klang; eine Stimme voller Liebe und Lebendigkeit, in der eine ganze Welt verborgen ist. Dieser Ruf erinnert uns an unser erstes Gegenüber, unseren Schöpfer, und in allen Beziehungen und allen Begegnungen mit anderen schwingt die Erwartung mit, dass wir da etwas von dieser ersten gesegneten Begegnung wiederfinden. Und seit Jesus begleitet uns die begründete Hoffnung, dass dieser Ruf auch die dunkle Bedrohung des Todes überwindet, in jeder Gestalt, in der sie uns begegnet.