Mit der Bibel beten
Predigt am 26. Juli 2009 zu Apostelgeschichte 4,24-31 (Predigtreihe Beten 2)
Vor einer Woche haben wir über Gebete mit vorformulierten Texten nachgedacht. Heute gehen wir etwas weiter zu einer sehr speziellen Form von vorformulierten Texten, nämlich zur Bibel. Also »Beten mit der Bibel«.
In einer ersten Stufe könnte man daran denken, dass man Gebete aus der Bibel nachspricht. In der Bibel sind ja ziemlich viele Gebete überliefert. Z.B. in Apostelgeschichte 4. Da sind Johannes und Petrus gerade nach der Heilung eines Gelähmten festgenommen worden. Man hat ihnen unter Drohungen verboten, weiterhin im Namen Jesu zu sprechen und sie dann wieder laufen gelassen. Das sind Methoden, die in Gewaltstaaten bis heute angewendet werden: den Leuten Angst einjagen, sie einschüchtern, dann werden sie hoffentlich Ruhe geben.
Petrus und Johannes behalten das aber zum Glück nicht für sich, sondern berichten der Gemeinde davon. Das ist eine kluge Maßnahme, denn sonst könnte es doch schnell geschehen, dass diese Drohung bei ihnen Wirkung zeigt. Mit Drohungen sollte man nicht allein bleiben. Und so geht es weiter:
Das ist ein Gebet mit mehreren Ebenen: die Gemeinde erinnert sich angesichts der aktuellen Einschüchterungsversuche an eine ähnliche Situation, die im 2. Psalm anklingt. In diesem Psalm ist die Rede von einer Bedrohung durch ein Bündnis feindlicher Könige. Und jetzt, angesichts der Bedrohung durch ein Bündnis aus Herodes, den Römern und der jüdischen Führungsschicht wird für die Gemeinde dieser Psalm wieder aktuell. Sie nehmen ihn als Vorlage und beten dann selbst kreativ weiter. Sie wissen aus dem 2. Psalm, dass Gott auch über so ein bedrohliches Bündnis Macht hat. Aber die Situation in der Gegenwart ist noch verschärft: jetzt sind es nicht nur heidnische Könige, die sich gegen Gott und seinen Gesandten verbünden, sondern sogar Teile des Gottesvolkes machen mit. Sie haben gemeinsam den Tod Jesu eingefädelt und versuchen jetzt auch seine Nachfolger mundtot zu machen.
Aber Gott hat die Pläne durchkreuzt: er beantwortete die Tötung Jesu mit der Auferstehung und zeigte den Machthabern so ihre Schranken. Und damit ist die Gemeinde in der aktuellen Lage angekommen: jetzt bittet sie Gott, genauso auf die neuen Einschüchterungsversuche der Machthaber zu antworten, indem die Gemeinde stark bleibt und dann im Namen Jesu neue, unübersehbare Zeichen und Wunder geschehen. Und die Antwort kommt in Form des Heiligen Geistes, der den Mut der ganzen Gemeinde erneuert.
Wir sehen hier, wie es schon innerhalb der Bibel selbst ein Wiederaufnehmen der früheren Taten Gottes gibt. Und wenn auch wir jetzt wieder bei einem Angriff auf diese Geschichte zurückgreifen, dann fügen wir dem einen weiteren Durchgang hinzu. Erst David, dann der gekreuzigte Jesus, der aufersteht, dann die erste Gemeinde, die das zusammenbringt und auf ihre Situation anwendet, und schließlich wir in unserer Situation.
Das ist Beten mit der Bibel: wir erinnern uns an Gottes Taten in der Vergangenheit und bitten darum, dass sie sich in einer neuen Situation auf neue Weise wiederholen. Gott bleibt durch die Zeiten der selbe, und deshalb ist von ihm zu erwarten, dass er auf ähnliche Herausforderungen ähnlich reagiert. Es ist eben nicht das erste Mal, dass Gottes Leute das erleben, was wir gerade erleben. In der Bibel sind diese Erinnerungen gesammelt, da lernen wir, wie Gott dann normalerweise reagiert, und dann haben wir eine ungefähre Richtung, in der wir in der Gegenwart beten können.
Die Gemeinde hat z.B. ganz spontan nicht gesagt: Herr beschütze uns, damit sie uns nichts tun! Sondern sie haben völlig zu Recht gebetet: Herr, mach uns stark, dass wir nicht einknicken! Sie identifizieren sich mit Gottes Anliegen, dass das Evangelium weitergeht und sind deshalb nicht zuerst auf ihre Sicherheit bedacht. In ihrem Gebet stellen sie diese akute Bedrohung – dass da Leute gesagt haben: noch ein Wort über Jesus, und ihr könnt was erleben! – in einen größeren Zusammenhang. Und dann sind sie nicht mehr allein mit diesem ganz normalen Schreck, sondern sie sehen, wie auch Gott mit in der Situation drin ist, und das verändert alles.
Immer wieder versuchen andere Menschen und andere Einflüsse uns dahin zu drängen, dass wir die Lage so ansehen, als ob es Gott nicht gäbe. Und wenn wir erst so weit sind, dass wir Gott nicht mehr sehen, dann bekommen die menschlichen Machtverhältnisse eine überwältigende Bedeutung. Dann sagen wir: ja, da kann man wohl nichts machen. Da muss man sich anpassen.
Beten mit der Bibel hilft uns, den größeren Zusammenhang zu sehen und deshalb realistisch zu beten. Realistisch beten bedeutet: das Ganze von Gott her sehen. Er ist in der Situation schon längst drin, und das verändert die ganzen Machtkalkulationen. Erst bekommt die Gemeinde durch diese Sicht neuen Enthusiasmus, und wenn man weiterliest, dann merkt man, wie daraufhin Leute großzügig spenden und schenken (sie investieren sozusagen jetzt erst recht in dieses äußerlich bedrohte Unternehmen Gemeinde), und am Ende gibt es noch größere Wunder und mehr Aufsehen als vorher. Anstatt sich wegen der Drohung wegzuducken, gehen sie in die Offensive.
Dabei ist es wichtig zu wissen, dass dieser ganze Prozess nicht nach Schema F abläuft. Gott ist kein Bürokrat. Er antwortet auf die Hinrichtung Jesu mit der Auferstehung, er antwortet auf die Drohungen der Machthaber mit Ermutigung der Gemeinde, aber auch die Gemeinde selbst ist durch Spenden und Schenken daran beteiligt. Beten mit der Bibel ist ein kreativer Prozess, auf allen Seiten. Es gibt keine mechanischen Regeln, die immer gelten. Es gibt keine eindeutige Regel, welche Bibelstelle denn nun zu unserem gegenwärtigen Problem passt. Es gibt keine klare Weisung, wie man dann beten müsste. Schon dort in der Apostelgeschichte wiederholen sie nicht einfach die alten Worte, sondern sie lassen sich davon zu neuen Formulierungen inspirieren.
Die alten Geschichten und Formulierungen sind nicht dazu da, dass wir sie sklavisch immer wieder von neuem wiederholen. Sie kennen das vielleicht, dass Menschen versuchen, sich in ihrem Gebet möglichst an die biblische Sprache anzuschließen, aber in Wirklichkeit ist das meist ja nur das Lutherdeutsch aus unseren Bibelübersetzungen. Hier in der Apostelgeschichte lassen sie sich dagegen von den alten Worten inspirieren, um dann ihre eigenen und neuen Worte zu finden.
Das ist ein kreativer Prozess, bei dem man vorher nicht weiß, was dabei herauskommt. Es ist wie wenn verschiedene Musiker in verschiedenen Jahrhunderten das gleiche Musikstück spielen. Die Bibel, das ist die Partitur, die geschriebenen Noten. Noten sind wichtig, aber sie sind nicht die Musik. Die Musik schläft in den Noten, und sie erwacht erst, wenn jemand anfängt, nach ihnen Musik zu machen. Genauso schläft Gottes Wort in der Bibel, und es erwacht, wenn jemand anfängt, es zu hören und mit seinem Leben nachzusprechen. Gott will, dass wir in der Bibel die Noten für seine Musik finden – und dann auf unsere Weise in sein Lied einstimmen.
Wer nach Noten Musik macht, der hat nämlich einen großen Spielraum in der Interpretation und kann der Partitur trotzdem treu bleiben. Wahrscheinlich spielen keine zwei Menschen ein Stück ganz genau gleich (außer vielleicht im Klavierunterricht). Sie werden es sich immer ein bisschen anders vorstellen. Und der eine kann es besser, der andere muss noch üben. Schließlich spielen auch die Zeitumstände eine Rolle: welche Instrumente zur Verfügung stehen, wie gut sie sind, wie sie sich inzwischen weiterentwickelt haben, wie der Zeitgeschmack ist, in welchen Passagen die Menschen sich wiederfinden usw.
Es gibt nicht die authentische, richtige Interpretation, sondern es gibt immer nur Menschen, die versuchen, die Noten auf ihre Weise in ihrer Zeit zum Klingen zu bringen. Sonst könnte man ja eine perfekte Aufführung auf CD brennen und immer wieder anhören. Aber die Musiker gehören dazu. Sie sind keine Störfaktoren, die dauernd mit ihren subjektiven Fehlern ein vollkommenes Musikstück verpatzen. Nein, gerade mit ihrer ganz eigenen Art, Musik zu machen, sind die Musiker unentbehrlich. Die Menschen sind keine Störfaktoren.
So ist es auch mit der Bibel: Menschen mit ihrer individuellen Art, die Bibel zu verstehen, sind keine Störfaktoren, die die objektive Wahrheit der Bibel herunterziehen. Die Bibel ist für den Gebrauch durch Menschen geschrieben. Sie soll in unserem Leben zum Klingen gebracht werden, mit immer wieder neuen Mitspielern, in neuen Aufführungsorten, auf anderen Instrumenten, in neuen Stilrichtungen. Noten sollen in lebendige Musik verwandelt werden, die Bibel in menschliche Lebenspraxis. Dazu ist sie geschrieben. Natürlich kann man die Bibel wie eine Notenpartitur studieren, analysieren, interpretieren, mit ähnlichen Werken vergleichen und über verlorengegangene Passagen rätseln. Das macht auch Sinn, denn wenn wir die Bibel gut kennen, dann hat es der Heilige Geist im entscheidenden Moment leichter, uns an eine passende Stelle zu erinnern. Aber der Endzweck ist die Aufführung, die gespielte Musik, die gelebte Bibel.
Ja, noch mehr: wenn wir die Bibel studieren, dann sinkt die biblische Denkweise möglicherweise sehr tief in uns ein und beeinflusst die ganze Art, wie wir die Welt wahrnehmen. Wir erinnern uns dann bei Einschüchterungsversuchen irgendwann schon ganz spontan daran, dass Gott über solche Drohszenarien lacht. Und dann werden auch die Einschüchterer wenigstens ein bisschen lächerlich. Allerdings funktioniert das in der Regel nicht durch reines Bibelstudium, sondern das muss man ein paar Mal durchgestanden haben, bis das biblische Denken wirklich in einem drinsteckt. So wie das Notenstudium nicht die Bühnenerfahrung ersetzen kann.
Das Potential der Bibel entfaltet sich bevorzugt dann, wenn Menschen gemeinsam diese Texte mit ihrer Situation zusammenbringen und dann damit beten. Das ist ein Treibhaus für das Klarwerden des Reiches Gottes. In der Episode aus der Apostelgeschichte heißt es ja: sie beteten einmütig zu Gott mit lauter Stimme. Wie muss man sich das vorstellen? Haben sie alle im Chor den gleichen Text gesprochen? Nein, denn den gab es ja gar nicht als vorformuliertes Gebet. Sondern man muss sich das als gemeinsamen Denkprozess vorstellen, wo sich viele gegenseitig ergänzt haben. Einer hat mit dem Lob Gottes angefangen und der nächste hat das Zitat aus dem 2. Psalm beigesteuert. Ein anderer hat die Verbindung zur gegenwärtigen Situation ausgesprochen, und ein oder zwei haben die Bitten am Ende hinzugefügt. Vielleicht waren es auch noch viel mehr, und die Apostelgeschte gibt hier nur die große Linie wieder. Aber egal, wie viele beteiligt waren, es ist zum gemeinsamen Gebet der gesamten Gemeinde geworden. Sie haben mit Hilfe des 2. Psalms eine gemeinsame Antwort auf die Einschüchterungsversuche gefunden, denen Petrus und Johannes ausgesetzt waren.
So entfaltet sich die Bibel immer dann, wenn wir uns gemeinsam auf eine geistliche Reise machen. Nur wer auf die Reise geht, setzt sich intensiv mit Landkarten auseinander. Nur wer ein Konzert vor sich hat, studiert die Noten wirklich engagiert. Nur für eine Gemeinde, die sich mit dem Evangelium in Bewegung setzt, wird die Bibel ein lebendiges Buch.