Der eine Gott und der Krieg der Götter
Predigt am 22. Juni 2014 zu 5. Mose 6,4-9
4 Höre, Israel! Der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig. 5 Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. 6 Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. 7 Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. 8 Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. 9 Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben.
Diese Worte sind das grundlegende Glaubensbekenntnis Israels: Gott ist einer, und nur diesen Gott verehren wir. Das ist wohl der tiefste Grund, weshalb Juden immer wieder verfolgt und angegriffen worden sind: die radikale Konzentration auf den einen Gott, der die Welt geschaffen und sein Volk aus der Sklaverei befreit hat. Er und kein anderer ist es. Ein Gott, der nicht in sich gespalten und widersprüchlich ist, sondern eindeutig, nicht mal so und mal so, sondern treu und beständig. Er ist der Befreiergott. Dieser Gott hat sich ein Volk berufen.
Das ist der Kern des jüdischen Glaubens, es gehört zum Morgengebet und zum Abendgebet, es war das Bekenntnis Jesu (wir haben es vorhin in der Lesung gehört – Markus 12,28-34). Märtyrer und unzählige andere sind mit diesen Worten auf den Lippen gestorben.
Das Zentrum der Person
Und dieser Abschnitt aus dem 5. Buch Mose sieht vor, dass dies das Zentrum ist, um das sich die Gedanken herumbewegen sollen: der eine und treue Gott. Deswegen soll dieses Gebet (das eigentlich ein Glaubensbekenntnis ist) seinen festen Platz im Tageslauf haben, es soll tägliches Gesprächsthema sein, es soll an zentralen Stellen zu sehen sein, es soll Erinnerungszeichen geben, die diese Worte immer wieder aufrufen, damit sie nicht im täglichen Geschäft untergehen.
Dieses Bekenntnis gibt Menschen einen klaren Mittelpunkt. Der eine Gott ist unser Gegenüber – und er ruft uns, dass wir eindeutige Personen sind, nicht zerrissen und aufgeteilt auf viele Lebensbereiche und Loyalitäten, sondern auf dieses Zentrum hin orientiert. Auf diesen einen Gott zu hören, gibt uns einen Mittelpunkt, und so werden wir zusammenhängende Menschen, die nicht zwischen vielen unterschiedlichen Bewusstseinszuständen hin und her gerissen sind.
Heute ist das ja noch viel extremer als in der Zeit der Bibel, dass wir zwischen vielen unterschiedlichen Welten wechseln: wir gehen von zu Hause weg zur Arbeit oder in die Schule, wir sind Mitglied in Vereinen und Gruppen, Menschen haben im Internet möglicherweise mehrere Identitäten, und überall gelten andere Regeln und Selbstverständlichkeiten. Aber wer sind wir wirklich? Das ist gar nicht so einfach zu sagen.
Vielleicht haben Sie schon mal Gerichtsreportagen gelesen, wo Menschen sich verantworten müssen, weil sie schreckliche Dinge getan haben, Gewalt ausgeübt haben, zerstört oder getötet haben. Wie oft es vorkommt, dass die Angeklagten sagen: ich weiß nicht, warum ich das getan habe. Ich kann mich noch nicht mal daran erinnern. Es ist irgendwie so gekommen.
Und man hat eigentlich das Gefühl: der da auf der Anklagebank sitzt, das ist eigentlich ein ganz anderer als der, der das getan hat. Wie konnte dieses Würstchen einen anderen halb oder ganz tot schlagen? Aber gerade weil er so schwach ist, weil er nicht weiß, wer er ist, deswegen hatten Wut und Hass so leichtes Spiel mit ihm.
Oder denken Sie an Verantwortliche, die in Behörden und Ämtern Entscheidungen treffen, die manchmal schreckliche Folgen für Menschen haben. Und wenn du mit ihnen sprichst, dann vermitteln sie den Eindruck: das bin ich doch eigentlich nicht, der diese Behandlung verweigert oder diese Abschiebung anordnet, ich bin nur ausführendes Organ, eigentlich bin ich ganz anders, eigentlich möchte ich ja auch helfen, aber ich bin nun mal nur ein Rädchen im Getriebe, ich muss das tun, aber ich meine es doch nicht so. Manchmal stimmt das sogar, und man kann sich diese Menschen als freundliche, charmante und inspirierende Bekannte vorstellen, wenn man ihnen außerhalb des Amtes begegnen würde.
Der rote Faden des Lebens
Wer sind wir also wirklich, wenn wir privat so sind, im Beruf anders, im Internet noch mal anders und im Urlaub völlig anders? Das ist nicht selbstverständlich, dass diese verschiedenen Zustände ein gemeinsames Zentrum haben. Deswegen soll sich durch das ganze Leben dieses Bekenntnis ziehen: der Herr, unser Gott, er ist Einer, er ist immer derselbe. Ob zu Hause, bei der Arbeit, in der Politik, im Internet, im Urlaub: ER ist der rote Faden meines Lebens. Ich orientiere mich an ihm, wo immer ich auch bin und in allen Zusammenhängen wo ich drin stecke.
Diese Einheit unserer Person ist nicht selbstverständlich, sondern sie muss immer wieder neu errungen werden. Sonst zerfallen wir in lauter Persönlichkeitsfragmente, von denen die einen hier gelten und die anderen dort. Und dann werden unsere Persönlichkeitsfragmente aufgesogen von anderen Mächten, Bürokratien und Stimmungen. Deswegen soll dieses Bekenntnis immer wieder gesprochen werden, Tag für Tag. Und auch bei allen anderen geistlichen Übungen geht es ja darum, dass unser Leben durch Gott seine Einheit bekommt. Dass immer wieder der rote Faden unseres Lebens sichtbar wird und wir nicht hier die eine sind und dort ein anderer. Dass wir nicht zu Werkzeugen zerstörerischer Mächte werden.
Vielleicht kommt uns das komisch vor, zwei oder drei mal am Tag immer wieder den gleichen Text zu sprechen, ein Leben lang. Aber alle Dinge, die ganz beständig getan werden, haben eine enorme Wirkung. Das ist einer der Wege, auf denen Gott seine Menschen formt. Er hat damit vor langer Zeit begonnen, in einer Welt, die voll war mit allen möglichen Göttern, Geistern und Mächten.
So wie wir heute von einer Welt zur anderen gehen, so hatten die Menschen früher Götter für alles Mögliche, und bei Problemen in der Liebe ging man in einen anderen Tempel als bei einem Krieg oder vor einem riskanten Geschäft. Und diese Götter waren sich überhaupt nicht immer einig. Die stritten sich genauso wie ihre menschlichen Anhänger.
Der Mythos vom Götterkrieg
Als Israel in der Gefangenschaft in Babylonien war, begegneten sie dort folgender Erzählung über die Welt: in einem Krieg unter den Göttern wurde eine Göttin getötet, und aus ihrem Leib entstand die Erde. Und ein anderer Gott wurde hingerichtet, und aus seinem Blut wurden die Menschen geschaffen. Das klingt für uns heute verrückt, aber damals war das eine verbreitete Erzählung über den Ursprung der Welt.
Was sagt uns diese Geschichte? Am Anfang der Welt stehen Mord und Totschlag. Die Welt ist auf Gewalt gebaut. Der Krieg ist der Vater aller Dinge. Deswegen wird es in dieser Welt nie Frieden geben, und das Beste ist, du bereitest dich vor und baust ein starkes Militär auf. So entstanden die Großreiche. Die Geschichten und Mythen, die wir uns erzählen, sind keine netten Kindermärchen, sondern sie haben Folgen für den Verlauf der Weltgeschichte.
Wenn aber Gott Einer ist, wie es die Bibel sagt, dann steht am Anfang der Welt Harmonie. Der eine Gott ist der Vater des Lebens. Aus Liebe zum Leben hat er alles geschaffen, er hat sein eigenes Leben mit uns geteilt. Die Gewalt ist hinterher dazu gekommen, weil Menschen sich von Gott abgewandt haben. Aber am Anfang stand eine Welt ohne Tod, ohne Gewalt, ohne Herrschaft. Das klingt doch ganz anders als der Mythos vom Götterkrieg.
Gewaltfreiheit als Konsequenz des einen Gottes
Deswegen ergänzt Jesus das Gebot, Gott zu lieben, um das Gebot der Nächstenliebe. Das steht an dieser Stelle ursprünglich nicht, aber es ergibt sich daraus: wenn die Welt am Anfang aus Gottes freundlicher Hand hervor gegangen ist, dann kann es unter den Menschen keine unlösbaren Konflikte geben. Dann sind wir Kinder eines Vaters, der wollte, dass wir uns gegenseitig bereichern und nicht unterdrücken.
Damit steht über der ganzen Welt die Verheißung: es wird noch mal anders werden. Es ist nicht dieser hoffnungslose Mythos: es war schon immer so, wie es ist, und es wird sich nie ändern. Sondern diese Erinnerung, dass die ganze Welt aus der Hand eines Gottes hervorgegangen ist, die verspricht: es muss keine Feindschaft unter den Menschen geben. Dafür ist die Welt nicht geschaffen. Es muss keine Unterdrückung und Ausbeutung geben: dagegen kämpft der Befreiergott. Und am Ende wird er dafür sorgen, dass seine Schöpfung ans Ziel kommt.
Deswegen hat Jesus in der Bergpredigt über Wege gesprochen, wie man sich zu Feinden verhalten soll. Wenn wir alle Geschöpfe des einen Gottes sind, dann kann es keine echten Feinde geben. Dann geht es immer darum, dass Menschen an die ursprüngliche Einheit in dem einen Gott erinnert werden. Und dann ist der normale Weg, wie Menschen Konflikte lösen sollen, nicht der Kampf, sondern: miteinander reden. Die Gewaltfreiheit wurzelt direkt in dem Glauben an den einen und einzigen Gott.
Stammesgötter und die Gewalt
Es ist schon erstaunlich, wie schnell Menschen zurückfallen in diesen Glauben, dass die Grundlage der Welt Kampf und Krieg ist. Wie schnell Menschen überzeugt sind, dass man andere Lösungen gar nicht in Betracht ziehen muss. Und man müsste sie eigentlich schütteln und sagen: Hey, wach auf und guck dir die reale Welt an! Was haben all die Kriege und Waffenlieferungen und Interventionen gebracht? Ist die Welt sicherer geworden? Nein, es gibt immer mehr Menschen, die gewohnt sind, nur noch in militärischen Lösungen zu denken. Ein Haufen Desperados zieht durch die Welt, die keinen anderen Beruf haben als Söldner oder Krieger zu sein, die keine andere Heimat haben als die Truppe, in der sie gerade sind. Die sofort zur Stelle sind, wenn irgendwo geschossen wird – Ukraine, Syrien, jetzt wieder Irak – egal, auf welcher Seite.
Und wenn sie überhaupt noch irgendeinen Gott haben, dann ist das so eine Art Stammesgott, der ihnen helfen soll, zu siegen oder wenigstens zu überleben. Aber so ein Stammesgott ist nie der eine Gott, der die ganze Welt geschaffen hat und erhält.
Wir erleben heute eine neue Phase im Kampf um die Seele der Menschheit: ob wir daran glauben, dass Kampf und Gewalt die letzte Realität sind, oder der eine Gott, der die Welt aus Liebe geschaffen hat, damit sich unter uns sein Leben ausbreitet und gedeiht. Und wie wir es glauben, so wird es.
Ein Volk, das von IHM geprägt ist
Gott hat über viele Jahrhunderte und Jahrtausende daran gearbeitet, ein Volk zu schaffen, dass durch und durch geprägt ist von dem Glauben an den einen Gott. Wo die Menschen sich das ein paar Mal am Tag in Erinnerung rufen sollen. Wo sie es ihren Kindern weitergeben, von einer Generation zu anderen. Und seit Jesus sind dann Menschen in der ganzen Welt dazu gekommen. Und wir sind alle immer in Gefahr, dass wir uns Gott als einen Stammesgott oder Nationalgott vorstellen oder dass wir neben dem Herrn, unserem Gott doch andere Götter mehr oder weniger offen gelten lassen. Immer dann wird Gottes Name unter den Menschen schlecht gemacht.
Aber Gott arbeitet an der Seele seiner Menschen, ja, man muss sagen: er arbeitet an der Seele der ganzen Welt, damit sie zurückfindet zu ihrem Ursprung: dem Vater im Himmel. Glaubensbekenntnisse zu sprechen scheint vielen Menschen mechanisch und sinnlos. Aber es ist einer der Wege, auf dem Gott seine Leute formt und in unsere Gedanken seine Alternative einwurzelt.