Der eine Gott für den ganzen Menschen

Predigt am 25. Mai 2008 zu 5. Mose 6,4-9

4 Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. 5 Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. 6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen 7 und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. 8 Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, 9 und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.

Dieser Text ist das Herzstück des jüdischen Glaubens, das zentrale Glaubensbekenntnis Israels. Es ist das erste Gebet, das die Kinder lernen, und Sterbende sprechen es als ihr letztes Gebet. »Höre Israel« heißt auf Hebräisch »Sch’ma Israel«, und so heißt das ganze Gebet. Mit dem »Sch’ma Israel« auf den Lippen starben jüdische Märtyrer; es erklang in den nationalsozialistischen Gaskammern. In diesem Gebet ist zusammengefasst, was der Kern des jüdischen Glaubens ist: Gott ist einer, und nur diesen Gott verehren wir. Das ist wohl der tiefste Grund weshalb Juden immer wieder verfolgt und angegriffen worden sind: die radikale Konzentration auf diesen einen Gott, er und kein anderer. Ein Gott, der nicht in sich gespalten und widersprüchlich ist, sondern eindeutig, nicht mal so und mal so, sondern treu und beständig.

Das war damals überhaupt nicht selbstverständlich, und das ist es auch heute nicht, sondern es gab damals viele Gottheiten, und auch die in oft in mehreren Ausführungen. So schickte z.B. ein israelischer König einmal, als er sehr krank war, zum Baal von Ekron und ließ fragen, ob er wohl wieder gesund werden würde. Baal war der Name einer heidnischen Gottheit, aber auch von dem gab es viele, jede Stadt hatte sozusagen ihren eigenen Baal, und jeder war ein bisschen anders und konnte andere Dinge besonders gut.

Oder wenn man daran denkt, wie bei Kriegen oft auf beiden Seiten Gott um den Sieg gebeten wird, da muss es im Himmel bestimmt große Probleme geben, auf wen man denn hören soll, oder auch bei Fußballspielen und anderen Meisterschaften – wen soll denn Gott da gewinnen lassen, wenn die Fans alle für ihre Mannschaft beten?

Wenn ein Gott so in seiner Zuständigkeit auf einen Bereich begrenzt wird, z.B. ein Nationalgott wird, dann wird er für die Interessen einer Menschengruppe eingespannt. Er wird dann ein Gott im Dienst der Menschen, er ist nicht mehr für die ganze Welt zuständig, sondern für die Geschäfte einer Stadt oder einer Nation. Oder der eine Gott ist für die Fruchtbarkeit zuständig und der andere für den Krieg, und je nachdem wendet sich man mal an den einen und mal an den anderen. Keiner ist wirklich der eine Gott, dem man gegenübersteht, sondern man sucht sich aus, von wem man gerade das Beste zu erwarten hat. Und wenn der eine nicht hilft, probiert man es mal mit dem anderen. So relativieren sich die vielen Götter gegenseitig, ähnlich wie wenn ein Kind sagt: Papa hat gesagt, ich muss um 8 Uhr im Bett sein, wenn ich Mama frage, darf ich vielleicht bis halb Neun auf bleiben.

Demgegenüber sagt das Bekenntnis Israels: es ist ein Gott, und der ist für alle Bereiche des Lebens zuständig, für die ganze Welt; er hat sie geschaffen und er wird sie erneuern; er begleitet und von Anfang an und er ist der Herr unseres Lebens in allen Situationen. Ein Gott für die ganze Welt und der ganze Mensch für diesen Gott.

Immer wieder haben Menschen versucht, Gott so umzumodeln, dass er sich ihren Interessen anpasst und man in seinem Namen Kriege führen und Menschen unterdrücken kann. Aber immer wieder hat Gott dafür gesorgt, dass er richtig gesehen wurde. Das jüdische Volk als die harte Keimzelle dieses Glaubens an den einen Gott hat viel Hass ertragen müssen, einfach weil dieser Gott die Geschäfte der Menschen stört. Die Juden sind verfolgt worden, die Christen sind wahrscheinlich häufiger unterwandert worden, aber wenn das nicht klappte, hat man auch sie verfolgt. Hitlers Hass auf die Juden hat damit zu tun gehabt, dass er die Weltherrschaft wollte, und das beißt sich mit einem Gott, der für die ganze Welt zuständig ist und nicht nur für Deutschland. Und wenn er den Krieg gewonnen hätte, dann wären nach den Juden die Christen dran gewesen, weil auch die Christen an diesen einen, universalen Gott glaube, wenn auch oft nicht so entschieden wie die Juden.

So bedeutet der Glaube an den einen Gott Israels bis heute, dass Menschen gegen den Strom schwimmen, dass sie ihre Religion nicht irgendwie den Verhältnissen hier anpassen, sondern dass sie einen Gott kennen, der den Verhältnissen gegenübersteht. Das gibt starke und freie Menschen, die nicht wie welke Blätter von jedem Windstoß hin und her getrieben werden. Das gibt Menschen, die den Verhältnissen frei gegenübertreten und sich nicht ihren Denkhorizont vorschreiben lassen, die Alternativen denken können und Neues hervorbringen. Und das hat die Welt verändert.

Denn – weshalb hat es denn gerade hier in Europa auf christlichem Boden diese enormen Entdeckungen in Technik und Wissenschaft gegeben? Weil Menschen nicht in alten Denkkonventionen gefangen waren, sondern sich auf ganz neue Denkwege einlassen konnten, leider oft gegen den Widerstand des offiziellen Christentums. Und als dann die moderne Welt selbst schon wieder in ihrem Denken erstarrte und dogmatisch wurde, da sind es Menschen aus der jüdischen Tradition gewesen, die Alternativen gedacht haben: Albert Einstein, der die Physik umgekrempelt hat, Sigmund Freud, der den Geheimnissen der menschlichen Seele nachgespürt hat, Karl Marx, der die Dynamik des Kapitalismus erforscht hat – es ist kein Zufall, dass sie alle jüdische Menschen waren, die frei waren, alles auch noch mal von einer ganz anderen Seite her zu denken.

Dieser eine Gott Israels bringt Menschen hervor, die in Souveränität den Mächten dieser Welt trotzen, weil sie von diesem einen Gott her denken und leben. Der größte von all diesen Menschen Gottes war natürlich Jesus. Wir haben vorhin in der Lesung (Markus 12,28-34) gehört, wie er das »Sch’ma Israel« zitiert hat, wie er unterstrichen hat, dass das der Boden ist, auf dem er steht.

Und wenn es Jesus ist, der das zitiert, dann klingt das noch mal ganz anders, weil man da diese innige Liebe zwischen ihm und dem Vater im Himmel spürt, die schon immer das Geheimnis in diesem Bekenntnis gewesen ist. Es wäre ja schlimm, wenn wir notgedrungen akzeptieren müssten, dass es eben nur diesen einen Gott gibt und wir ihm ausgeliefert sind und nichts gegen ihn tun können. Aber es soll ja gerade kein Verhältnis von Druck und Angst sein, und Jesus zeigt uns, dass da ein Verhältnis von großer Nähe und Freundschaft gemeint ist. Der eine Gott liebt seine Menschen, seine Schöpfung, und er wartet auf unsere freie Antwort.

Und diese Antwort wird gegeben »von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft«. Dieser eine Gott sucht die Antwort des ganzen Menschen. Eigentlich macht uns erst dieser eine Gott zu ganzen, heilen, vollständigen Menschen. Vielleicht haben wir gerade heute wieder einen Zugang dazu, was das bedeutet. Wir sind heute so hin und her gerissen zwischen verschiedenen Welten: die Arbeit, die Familie, die Schule, die Organisationen und Vereine, in denen wir sind; wenn wir krank sind, finden wir uns im Krankenhaus wieder, und wenn wir Ärger kriegen, vor Gericht oder bei irgendwelchen Behörden. Überall gelten andere Regeln. Der eine kriegt seinen Beruf prima hin und scheitert in der Familie; der andere ist zu Hause lieb und brav aber aus der Schule hört man ganz was anderes. Und noch viel krasser ist das bei Menschen, die zwischen verschiedenen Kulturen pendeln, auf verschiedenen Kontinenten arbeiten oder die am Wochenende begeisterte Fans sind und von Montag an wieder seriöse Angestellte. Schon vor Jahren hat mal ein amerikanischer Denker gefragt: wer sind wir denn nun wirklich? und er kam zu dem Ergebnis: wenn wir auf der Rückfahrt von der Arbeit sind, dann sind wir endlich mal wir selbst. Dann will keiner was von uns, dann können wir einfach so sein, wie wir sind. Und das zeigt sich dann ja auch manchmal an der Art, wie Leute hinter dem Steuer die Sau raus lassen …

Demgegenüber sagt das Glaubensbekenntnis Israels: du hast es immer mit dem einen Gott zu tun. Auch wenn die Welt noch so unübersichtlich ist, Gott ist überall dein Gegenüber, seine Regeln sind so gut und tief und flexibel, dass sie überall funktionieren. Deswegen ist das Christentum immer multikulturell gewesen, es hat sich in jeder Kultur zurechtgefunden, weil wir in allen Kulturen immer wieder auf den einen Gott stoßen.

Dieser Glaube an den einen Gott ist immer in Gefahr, verloren zu gehen. Götter schaffen sich die Menschen immer wieder von allein, aber der Glaube an den einen Gott, der muss weitergegeben werden, der muss gepflegt werden, der braucht Einsatz. Wer mit dem Strom treibt, der muss nicht unbedingt Schwimmbewegungen machen, aber wer gegen die Strömung schwimmt, der darf nicht aufhören mit dem Schwimmen, sonst wird er zurückgetrieben. Deshalb wird hier gesagt: mach dir Erinnerungszeichen, die dich immer wieder zu Gott zurückrufen. Gott soll immer in deinen Gedanken präsent sein. Du sollst von ihm reden.

Ja, es gibt genügend merkwürdige Umsetzungen dieser Anweisung. Wir wissen, dass es keine Garantie für den Familienfrieden ist, wenn viele Bibelsprüche an den Wänden hängen. Wir wissen, dass Menschen schrecklich fromm reden können und dauernd Bibelsprüche zitieren und sie gehen einem auf die Nerven, einfach weil man merkt, da stimmt irgendwas nicht, da sind so viele falsche Töne dazwischen und es ist mehr Tradition als Leben.

Aber schlechte Praktiken sind ja eine Aufforderung, es besser zu machen. Und wenn man sich von diesen negativen Bildern frei macht, dann ist es immer noch wichtig, dass Gott in unseren Gedanken und Worten Tag für Tag präsent ist. Die Bibel sagt hier an zentraler Stelle, dass wir uns üben sollen, Gott in unseren Gedanken und Worten präsent zu haben. Wir müssen das wahrscheinlich erst wieder lernen, einen Weg zu finden mitten hindurch zwischen frömmelnder Sprache auf der einen Seite und einem gott-losen Reden, an dem man Christen gar nicht mehr erkennen kann.

Einige von uns kennen wahrscheinlich den wunderbaren Film »Wie im Himmel«. Die beiden Hauptpersonen – ja was tun Hauptpersonen in einem Film? Sie lieben sich. Nur der Mann weiß es noch nicht. Und dann reden sie in einer Szene darüber, woran man eigentlich erkennen kann, dass man einen Menschen liebt, und der Mann sagt: ja, äh, wenn man gerne mit ihm zusammen ist, wenn man oft an ihn denkt, wenn man sich freut, wenn man ihn sieht, wenn man über ihn redet. Und sie sagt: Bingo, genau so ist es! Und so ist es auch mit Gott: wenn man ihn liebt, dann denkt man an ihn, man redet von ihm, man ist gern mit ihm zusammen. Und manchmal muss man das auch erst lernen.

Aber es gibt auch dieses andere Gefühl: muss ich denn dauernd an Gott denken, kann ich nicht auch mal Urlaub von Gott haben, kann ich nicht auch mal einfach so mit anderen plaudern, ohne immer gleich so schwere Sachen bedenken zu müssen?

Mal abgesehen davon, dass ich im Moment nicht die Gefahr sehe, dass wir dauernd nur über Gott sprechen: es ist ja die Frage, was eigentlich für uns normal ist. Klar, in einer Welt, die Gott ausblendet und in die Privatsphäre abdrängt, ist es für uns ungewohnt, von ihm zu reden. Und alles Ungewohnte ist anstrengend. Aber deswegen sollen wir ja gerade immer wieder üben, Gott in unseren Gedanken und Worten präsent sein zu lassen, damit das für uns keine Anstrengung mehr ist. Es gibt genug Kulturen in der Welt, auch in anderen Religionen, wo es für die Menschen anstrengend wäre, einen Tag ganz ohne religiöse Elemente zu gestalten. Dass wir das überhaupt nicht gewohnt sind, das ist ein Teil unserer westlichen Kultur und es ist weltweit gesehen überhaupt nicht normal. Und wenn schon die anderen Religionen mit ihren Göttern und Tempeln so etwas haben, wieviel mehr brauchen wir das, dass wir Gott in unseren Gedanken und Worten präsent sein lassen. Wir schwimmen gegen den Strom, und deswegen treiben wir zurück, wenn wir nichts tun.

Und es ist wirklich die Frage, ob wir denn immer erst besondere Situationen brauchen wie Gottesdienste oder Gruppen, wo von Gott geredet wird, oder ob das auch ganz normal und natürlich aus uns herausfließt. Vielleicht sind wir ja nicht die Pioniere, die das anschieben, aber einen anderen unterstützen, wenn er versucht, von wichtigen und berührenden Themen zu sprechen statt oberflächlich zu bleiben, das können wir alle. Es ist die Frage, an was wir stärker gewöhnt sind: an Gott zu denken und von ihm zu reden; oder zu denken und zu reden von – ja, setzen Sie ein, was Sie möchten: den Enkelkindern oder der Schule oder der Arbeit, der Bundesliga oder dem Computer, dem Wetter oder der eigenen Gesundheit – na, Sie verstehen schon. Leicht ist für uns immer das, was wir oft tun, das scheint uns natürlich und normal.

In diesem Glaubensbekenntnis Israels ist aber schon der Weg vorgezeichnet, dass wir unser ganzes Leben, die ganze Welt mit Gott zusammenbringen, und dass dieses Zusammenbringen dauernd geschieht, in unseren Gedanken und unseren Worten und dann eben auch die Wirklichkeit prägt. Das soll für uns normal und natürlich sein. So lieben wir Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all unserer Kraft. Und wenn wir das eine Zeit geübt haben, dann wird es leichter und fühlt sich normaler an und wir müssen uns dann nicht immer erst dafür aufraffen.