„Heilig“ heißt „anders“

Predigt am 25. August 2024 zu 3. Mose 19,1-3.13-18.33-34

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Wir haben vorhin in der Evangelienlesung die sehr bekannte Geschichte vom Barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37) gehört. Da fragt jemand Jesus, was er tun muss, um das ewige Leben zu bekommen, also das große, starke, todesüberwindende Leben Gottes, und Jesus fragt: Was liest du denn in der Schrift, also in deiner Bibel – und das war damals das Alte Testament?

Und dann antwortet der Mann sehr richtig mit einer Kombination von zwei Bibelstellen: einmal aus dem zentralen Glaubensbekenntnis Israels aus dem 5. Buch Mose, wo es heißt, dass man Gott von ganzem Herzen lieben soll, und zwar Gott allein, und dann mit einem Zitat aus dem 3. Buch Mose, wo es heißt, dass man seinen Nächsten lieben soll wie sich selbst. Und der Predigttext heute ist diese zweite Stelle mit der Liebe zum Nächsten, in ihrem ursprünglichen Zusammenhang. Wir können hier also beobachten, wie man in der Zeit von Jesus das Alte Testament benutzt hat, und wie Jesus das tat.

1 Und der Herr redete mit Mose und sprach: 2 Rede mit der ganzen Gemeinde der Israeliten und sprich zu ihnen: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott.
3 Ein jeder fürchte seine Mutter und seinen Vater. Haltet meine Feiertage; ich bin der Herr, euer Gott. …
13 Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben. Es soll des Tagelöhners Lohn nicht bei dir bleiben bis zum Morgen.
14 Du sollst dem Tauben nicht fluchen und sollst vor den Blinden kein Hindernis legen, denn du sollst dich vor deinem Gott fürchten; ich bin der Herr.
15 Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht: Du sollst den Geringen nicht vorziehen, aber auch den Großen nicht begünstigen, sondern du sollst deinen Nächsten recht richten.
16 Du sollst nicht als Verleumder umhergehen unter deinem Volk. Du sollst auch nicht als Zeuge auftreten gegen deines Nächsten Leben; ich bin der Herr. 17 Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. 18 Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr. …
33 Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. 34 Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der Herr, euer Gott.

Das waren jetzt ganz viele verschiedene Gebote, aber es geht eigentlich immer um ein Thema: nutz die Schwäche anderer nicht aus! Wenn jemand für dich einen Tag lang gearbeitet hat, dann gib ihm das Geld gleich, damit seine Familie nicht in der Nacht hungern muss, sondern zu essen hat. Wenn du ihm den Lohn erst morgen früh gibst, kann er sich nicht wehren, weil er erst morgen zum Richter gehen könnte – aber nutz diese Schwäche nicht aus! Und genauso nutz es nicht aus, dass einer nicht sehen kann – du kannst ihm absichtlich einen Knüppel auf den Weg werfen, dann stolpert er und fällt hin, du kannst deine Schadenfreude genießen, und niemand wird dich dafür zur Rechenschaft ziehen – aber lass es sein!

Ich bin der Herr!

Und du kannst böse Bemerkungen über jemanden machen, der nicht gut oder gar nicht hören kann, er bekommt es nicht mit und kann sich nicht wehren, niemand wird dich dafür zur Rechenschaft ziehen – aber lass es sein! Ich bin der Herr.

Und wenn du denkst, du kannst Ausländer schlechter behandeln, weil sie weniger Rechte haben und sich schlechter wehren können, und niemand wird dich dafür zur Rechenschaft ziehen – lass es sein! Ich bin der Herr, und ich vergesse das nicht.

Und im hebräischen Original steht da der heilige Gottesname, den man nicht ausspricht, weil er so heilig ist; in unserer Übersetzung wird der Name mit »Herr« wiedergegeben. Der Herr hat das Volk aus der Sklaverei in Ägypten befreit, damit es in einer Gesellschaft ohne Unterdrückung lebt, als Modell einer gerechten, heiligen Lebensordnung. Heilig bedeutet im Kern: anders. Ihr sollt anders leben als die anderen Völker, wo es völlig normal ist, dass die Starken die Schwachen unterdrücken und auf ihre Kosten leben. Unter euch soll Gerechtigkeit herrschen. Ihr sollte ein Volk sein, das anders lebt, heilig lebt, weil ich auch ein ganz anderer Gott bin als die Götzen und Popanze, an denen sich die anderen Völker orientieren.

Die anderen Götter sind die Götter der Starken und Mächtigen, ich bin der Gott der Gerechtigkeit. Ich bin ein Gott anderer Art, ich bin heilig.

Das ist überhaupt nicht selbstverständlich

Wir denken heute vielleicht, es wäre doch selbstverständlich, dass man die Schwäche anderer nicht ausnutzt und das Gerechtigkeit herrschen soll. Vielleicht halten sich nicht immer alle daran, aber eigentlich ist es doch klar, dass man gerecht und fair sein soll.

Aber das ist überhaupt nicht selbstverständlich. In der alten Zeit hat man die Starken und die Gewalttäter bewundert. Wer ein Nachbarvolk überfallen, massakriert und versklavt hat, der war ein Held. Dem hat man Triumphbögen gebaut. Und die kleinen Jungen wollten nicht Profifußballer werden, sondern berühmte Gladiatoren, denen alle zujubelten, weil sie schon viele Gegner ins Jenseits befördert hatten. Und natürlich waren die Menschen nicht gleich – Freie waren mehr wert als Sklaven, Adlige mehr als Bauern, Männer waren wichtiger als Frauen, Starke hatten mehr Rechte als Schwache. Das wussten alle, das war völlig normal. So funktioniert die Welt. Nur dieses kleine Volk der Juden mit ihrem komischen Gott – die glaubten, sie wüssten es besser als alle anderen.

Und in Israel selbst haben sie sich auch oft gewünscht, diese Bürde des Anders-Seins, des Heilig-Seins loszuwerden. Können wir nicht auch einfach so sein wie alle anderen? Ein ganz normales Volk mit Oben und Unten, mit Herren und Knechten? Und oft genug hat dann auch im Volk Gottes die Ungerechtigkeit Einzug gehalten. Die Propheten wissen nicht nur ein Lied davon zu singen.

Das ignoriert man nicht folgenlos

Aber immer wieder hörten sie in Israel die Stimme des Heiligen Gottes: Ich bin der Herr. Ich habe euch aus der Sklaverei befreit. Ihr sollt anders leben als die anderen. Hütet euch, die Schwäche anderer auszunutzen, die sich nicht wehren können! Ich bin der Herr, ich bin gerecht, und wenn ihr glaubt, ihr könntet mir auf der Nase herumtanzen, dann werdet ihr das bereuen.

Und so hat es Israel erlebt. Immer, wenn sie meinten, sie könnten den Heiligen Gott ignorieren, dann führte das in die Katastrophe. Und irgendwann haben sie das auch verstanden, und sie haben die Gebote aufgeschrieben, in denen beschrieben ist, wie Gerechtigkeit in vielen alltäglichen Situationen aussieht: Du sollst nicht rumlaufen und Gerüchte streuen und schon gar nicht als Zeuge vor Gericht andere verleumden; du sollst keinen Groll in deinem Herzen sammeln, sondern, wenn jemand sich zerstörerisch verhält, dann sollst du ihn damit konfrontieren, damit er eine Chance hat, sich zu ändern. Ausländer sollen die gleichen Rechte haben wie Einheimische. Und so weiter.

Und es gibt natürlich noch viel mehr von diesen Geboten, aber immer wieder hören wir diesen Refrain: Ich bin der Herr! Ich habe die Welt erschaffen, und deshalb weiß ich, wie man sie behandeln muss. Und ich habe euch aus der Sklaverei befreit, damit ihr auch wisst, wie man in dieser Welt leben muss, damit sie blüht und nicht dahinkümmert. Und ich wache über meinen Geboten und lasse nicht zu, dass man sie ungestraft übertritt.

Von oben herab!?

Als ich vor zwei Wochen mit einer Gruppe über diesen Text sprach, da empfanden das einige als bedrückend, diesen wiederkehrenden Satz: Ich bin der Herr. Ist das nicht von oben herab und autoritär? Aber andererseits beschweren sich Menschen ganz oft, dass es in der Welt nicht gerecht zugeht, und verlangen von Gott, er solle das doch ändern. Bevor man also Gott kritisiert, sollte man erst mal klären, was man wirklich von ihm will: soll er nun die Welt steuern, oder soll er das uns überlassen?

Aber in Wirklichkeit ist die Realität noch mal ganz anders: Gott lässt meistens einfach die Gesetze wirken, die er in die Welt eingebaut hat; das dauert oft etwas länger und sieht nicht immer 100prozentig gerecht aus, aber am Ende kehrt die Zerstörung, die wir anrichten, zu uns zurück. Genauso aber auch der Segen, den wir weitergeben. Der kommt auch zurück.

Und mitten in diesen vielen einzelnen Sätzen, was man tun und lassen soll, steht dann hier auch der eine Satz, den der Schriftgelehrte in dem Gespräch mit Jesus zitiert: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Und Jesus sagt: Bingo! Perfekt getroffen! Das ist die zentrale Logik hinter all den einzelnen Geboten. Behandle andere so, wie du dir wünschen würdest, dass man dich behandelt. Menschen können in der Regel ganz gut für das kämpfen, was sie als ihr eigenes Interesse ansehen. Und das ist eine positive Fähigkeit. Wer soll denn sonst für uns eintreten, wenn wir selbst das schon nicht tun? Und jetzt geht es einfach darum, dass wir diese Fähigkeit auch auf die anderen anwenden.

Keine endlosen Diskussionen

Aber dem Schriftgelehrten reicht die Antwort nicht, er denkt: da muss doch bei Jesus noch mehr sein. Und er fragt: wer ist denn mein Nächster? Und darüber kann man natürlich endlos diskutieren: muss man auch die Ausländer lieben (schon der Predigttext sagt in den letzten Versen: ja, die sollst du auch lieben wie dich selbst)? Und wann hat man genug geliebt? Und haben nicht andere viel zu wenig geliebt? Solche Diskussionen führen wir vermutlich jeden Tag irgendwie.

Aber Jesus erzählt stattdessen die Geschichte vom ausländischen Samaritaner, der sich um einen schwerverletzten Einheimischen kümmert und dreht die Frage um. Nicht mehr: wem muss ich helfen, und wem nicht?, sondern: wem will ich zum Nächsten werden, mit wem will ich solidarisch sein?

Der Mann aus Samaria hat sich ja entschieden: ich mache mich jetzt zum Nächsten dieses Verwundeten und helfe ihm. Wir wissen nicht genau, warum er das getan hat, aber es war richtig und es hat das Herz Gottes erfreut. Gott hat uns so geschaffen, dass wir füreinander da sein sollen und nicht gegeneinander. Gott freut sich, wenn wir das verstehen und danach handeln. Irgendwoher hat das der Samaritaner gewusst oder geahnt. Auch die Samaritaner kannten ja das 3. Buch Mose. Die Quelle der Nächstenliebe ist die Liebe zu dem Gott, der die Welt als eine große Gemeinschaft geschaffen hat, wo wir mit allen anderen verbunden sind.

Guck nicht immer auf die anderen

Deshalb hatte der Schriftgelehrte Recht, als er die beiden Bibelstellen kombinierte: Du sollst Gott über alles lieben, von ganzem Herzen und mit all deinen Kräften, – und deinen Nächsten wie dich selbst. Und Jesus hat das dann nur einen entscheidenden Schritt weiter gedreht: Liebe den Befreiergott, der Freude hat an Gerechtigkeit und Solidarität, und dann entscheide selbst, wem du zum Nächster werden willst. Arbeite dich doch nicht ab an anderen, die dir Vorschriften machen. Vergleich dich nicht mit anderen. Verlange nicht von anderen, dass sie es genauso machen wie du – der Samariter hat ja von dem Wirt, dem er den Verletzten anvertraute, nicht verlangt, dass er es auch umsonst macht, sondern hat ihn bezahlt.

Also: Schau nicht auf die anderen. Es bringt so viel böses Blut in die Welt, wenn Menschen sich von anderen moralisch unter Druck gesetzt fühlen oder selbst andere unter Druck setzen. Das ist immer so ein elendes Zerren und Beschuldigen und Verteidigen, bei dem nichts Gutes herauskommt.

Jesus vermeidet das, und wir sollten es auch so machen. Liebe Gott, und dann entscheide, wem du zum Nächsten werden willst, ohne Seitenblick auf andere. Tu das, und du wirst leben.