Weg mit dem Käfig!
Predigt in der Mennonitengemeinde Frankfurt a.M. am 7. April 2024 mit 2. Timotheus 2,9
Am 5./6. April 2024 habe ich bei einem Seminar der Mennonitengemeinde Frankfurt a. M. Impulse zum Thema „Kirche auswildern“ gegeben. Am Sonntag, 7. April habe ich dort im Gottesdienst die folgende Predigt gehalten, zu der auch eine kurze Szene mit Benni Isaak-Krauß (dem Pastor der Gemeinde) gehörte:
Dass hier ein Käfig mit einer Bibel drin steht, hat einen einfachen Grund. Meine Predigt heute beginnt mit einem kurzen Vers aus dem 2. Timotheusbrief (2,9):
Gottes Wort ist nicht gebunden.
Der 2. Timotheusbrief ist ja ein Gefängnisbrief, und der Verfasser schreibt: ich trage Fesseln wie ein Verbrecher, aber Gottes Wort ist nicht gebunden. Und wenn man sich das im Original anschaut, dann merkt man, dass er eigentlich meint: Die können zwar mich, den Boten, einsperren, aber Gottes Wort nicht. Mich können sie fesseln, aber das Wort Gottes ist unkontrollierbar!
Das Wort in einen Käfig sperren
Und als vor ziemlich genau 90 Jahren, im Mai 1934, die evangelischen Landeskirchen in Deutschland überlegen mussten, wie sie sich zum Nationalsozialismus stellen sollten, da haben sie in einer Sternstunde der Kirchengeschichte die sogenannte „Theologische Erklärung von Barmen“ formuliert, das „Barmer Bekenntnis“, das für viele zu einem entscheidenden Orientierungspunkt geworden ist. Eines der Bibelworte, das dort zitiert wurde, ist dieser Vers aus dem 2. Timotheusbrief: Gottes Wort ist nicht gebunden.
Damals war die Bedrohung noch nicht die Gestapo, die einzelne Pfarrer und Gemeindeglieder abgeholt hat. Damals kam die Bedrohung von den sogenannten „Deutschen Christen“, die versucht haben, das Evangelium mit einer nationalsozialistischen Brille zu lesen. Die sprachen von einem „heldischen Christus“ und machten aus dem Liebesgebot, das allen Menschen gilt, das Gebot: „Du sollst gute Kameradschaft halten!“ – also quasi die Bergpredigt im SA-Stil. Dass Christen im Gefängnis und im KZ landeten, kam erst später.
Das sind die beiden Wege, auf denen die Feinde des Glaubens versuchen, das Wort Gottes unter Kontrolle zu bekommen: entweder man sperrt die Boten ein, oder man versucht, das Wort Gottes einzufangen und ihm Grenzen zu setzen. Also dem Evangelium vorzuschreiben, was es sagen muss und was es nicht sagen darf. Das Evangelium in einen Käfig zu sperren, und das können manchmal ziemlich heidnische Käfige sein, aber manchmal auch ziemlich fromme.
Das hat schon Jesus erlebt, als Leute zu ihm kamen und sagten: Warum fasten denn die Jünger des Johannes, und deine Jünger fasten nicht? Und sie meinten damit: Anständige Rabbis lassen ihre Schüler fasten, und selbst dieser wilde Typ Johannes hält sich dran! Und du? Wenn wir dich ernst nehmen sollen, dann halt dich an die Regeln!
Aslan ist kein zahmer Löwe
So versuchen sie, dieses Neue und Unberechenbare, was sie an Jesus spüren, in ihre geordneten Bahnen zu lenken. Und Jesus sagt: Nein! Neuer Wein gehört nicht in alte Schläuche! Was ich bringe, das zerreißt die alten Schläuche, das sprengt den Rahmen, auch wenn es mal ein guter und sinnvoller Rahmen war.
Aslan ist kein zahmer Löwe. Wahrscheinlich kennen viele diesen Satz aus den Narnia-Büchern von C.S. Lewis, wo die Figur des Löwen Aslan für Jesus steht. Aslan ist kein zahmer Löwe, er geht dir voran auf einem gefährlichen Weg, aber es ist ein guter Weg.
Und ein bisschen später hat Paulus ein ganz ähnliches Problem wie Jesus, dass nämlich auch zu den heidenchristlichen Gemeinden, die er gegründet hat, diese Leute kommen und fragen: Warum lasst ihr euch nicht beschneiden? Anständige Mitglieder des Gottesvolkes sind beschnitten! Und diese unsicheren neuen Christen in Galatien fragen sich: sollten wir nicht auf Nummer sicher gehen und auf die hören? Das sind doch die Fachleute, direkt aus Jerusalem, die müssen doch eigentlich wissen, was man als Glied des Gottesvolkes zu tun hat. Auch da wieder der Versuch, diesen neuen Wein des Heidenchristentums in die alten Schläuche zu zwängen.
Und Paulus schreibt einen richtigen Brandbrief nach Galatien und beschwört seine Leute: macht das nicht! Christus hat euch zur Freiheit berufen, steht fest in der Freiheit und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Lasst euch nicht wieder einfangen in ein Glaubenssystem, das seinen Frieden mit dem Imperium Romanum gemacht hat, mit diesem Unterdrückungssystem, unter dem das Volk Gottes verkümmert und seiner Berufung nicht treu bleiben kann. Und dann wird er ganz brutal und schreibt: diese Typen, die euch die Beschneidung aufschwatzen wollen, die sollen sich doch gleich kastrieren lassen!
Kastriertes Christentum
Das ist weit jenseits dessen, was heute in christlichen Zusammenhängen noch als respektvoll durchgeht. Aber es trifft den Nagel auf den Kopf: wer versucht, das Wort Gottes in einen vorgegebenen Rahmen einzupassen, der bekommt ein kastriertes Christentum. Ein Christentum, dem man sein Bestes genommen hat: seine Kraft und seine Fruchtbarkeit. Die Fruchtbarkeit des christlichen Glauben kommt ja nicht davon, dass alle uns mögen und wir everybody’s darling sind, sondern sie speist sich daraus, dass wir Wege jenseits des Denkhorizonts unserer Zeitgenossen sehen.
In der Welt der Antike waren die christlichen Gemeinden attraktiv, weil dort Dinge möglich waren, an die vorher noch keiner gedacht hatte. Als Sklave saßest du da mit dem Chef der Stadtverwaltung an einem Tisch! Dabei war eigentlich für jeden klar, dass es völlig unterschiedliche Arten von Menschen gibt: Es gibt Sklaven und Freie, Adlige und Gewöhnliche, Männer und Frauen, und so weiter, und jeder wusste, dass die einen mehr wert sind als die andern. Das war die natürliche Ordnung der Welt.
Und dann kommen die Christen und tun so, als ob alle Menschen den gleichen Wert hätten. Diese Spinner! Aber es war gut, zu so einer Gemeinde dazuzugehören, wo dieser ganze Rahmen, in dem sich alle anderen sonst bewegten, nicht mehr galt. Die Gemeinden dachten und lebten jenseits dessen, was für alle selbstverständlich war, und gerade daraus speiste sich ihre Fruchtbarkeit. Hätten die Galater auf die Jerusalemer Agenten gehört, dann wäre aus ihnen ein kastriertes Christentum geworden, das wir heute wahrscheinlich gar nicht mehr kennen würden.
Zum Glück war wohl die Intervention von Paulus erfolgreich, und das Christentum wuchs, und auch Nichtchristen haben heute mindestens in der Theorie verstanden, dass jeder Mensch den gleichen Wert hat.
Unser ökumenisches Problem
Wir hören das heute in einer Situation, wo wir erleben, dass die Fruchtbarkeit des Christentums offenbar entscheidend eingeschränkt ist. Wir wissen vermutlich alle, dass der christliche Teil der Bevölkerung in Deutschland, wenn man alle zusammenzählt, inzwischen weniger als 50 % beträgt, Tendenz abnehmend. Und das betrifft so ziemlich alle Fraktionen der Christenheit, evangelisch wie katholisch, und selbst Landes- und Freikirchen unterscheiden sich da nicht deutlich. Wir haben ein ökumenisches Problem, und weil es alle betrifft, geht es da nicht um einzelne Sätze oder Themen oder Stile, sondern das sitzt ganz tief unten im Maschinenraum. Es reicht nicht, den Rost von der Bordwand zu kratzen, sondern wir müssen tief runter in die Eingeweide des Kirchenschiffes, wenn wir den Schaden reparieren wollen.
Was sind das für Zwänge, die unsere Fruchtbarkeit bedrohen? Was ist das für ein Käfig, in den wir unsere Botschaft haben einsperren lassen – und damit uns selbst, denn wenn die Botschaft eingesperrt ist, können Gemeinden nicht frei und stark ein.
Wir leben in der Moderne. Die hat vor ungefähr 500 Jahren begonnen, und sie hat eigentlich Wurzeln im Christentum. Es ist ja kein Zufall, dass die moderne Welt im christlichen Europa erfunden wurde. Aber dann ist etwas ganz schief gelaufen. Dieser Aufbruch Europas in die Neuzeit begann nicht nur mit der Reformation, wo man den Glauben befreit hat aus dem Käfig einer mächtigen römischen Kirchenorganisation. Zur gleichen Zeit haben Europäer auch Amerika entdeckt und dort brutal gehaust. Und nach und nach hat sich Europa so den Rest der Welt unterworfen. Und niemand wollte, dass Gott einem da reinredet.
Gott, halt dich raus!
Gott will in seine Welt kommen, und er bekommt zu hören: bring bloß nicht unsere Geschäfte durcheinander! Halt dich da raus! Kümmer dich um die Seelen, kümmer dich meinetwegen um die Familien, sorg für Moral und Anstand, bring den jungen Leuten die 10 Gebote bei, mach ihnen ruhig auch mal ein schlechtes Gewissen, aber nicht zu sehr, und halt dich aus unseren Geschäften raus, die haben ihre Eigengesetzlichkeit. Halt dich aus der Politik raus, wir wollen doch keine religiösen Fanatiker! Und wir haben uns das gefallen lassen, und manche Christen fanden das auch noch gut, wenn aus dem Befreiergott, der sein Volk aus Ägypten gerettet hat, ein Privatgott wird, der im öffentlichen Raum nichts zu suchen hat.
Das erspart uns Konflikte. Man sieht doch an Jesus, wohin das führt, wenn man sich in diese schmutzigen, gefährlichen Bereiche der Realität begibt: da kann man gekreuzigt werden, also macht es nicht so wie er, sondern haltet euch fern von diesen gefährlichen Zonen. Und so sind wir nicht mehr die Leute, die hinter den Horizont schauen und Dinge entdecken dürfen, die sonst kein anderer sieht. Wir sind einfach nur noch die religiöse Agentur der Gesellschaft.
Das ist kastriertes Christentum. Das ist Christentum, das seine Fruchtbarkeit eingebüßt hat. Und es ist ein Zeichen für die Kraft des Evangeliums, dass es trotzdem immer wieder Einzelne und Gruppen inspiriert, auszubrechen in die volle Realität, sich nicht zu fürchten vor diesen gefährlichen Zonen des Lebens, sondern da hinzugehen im Vertrauen darauf, dass Jesus vorangegangen ist und dort auf uns wartet. Und so kommt das Christentum zurück in die Freiheit, wenn wir die Botschaft neu hören, sie aus ihrem Käfig befreien und damit zugleich uns selbst. Und das will ich jetzt auch mit dieser Bibel tun.
Pastor: Nein!
Warum denn nicht?
Pastor: Ich habe so lange an diesem Käfig gebaut! Den kannst du nicht einfach kaputt machen!
Aber soll denn die Bibel da drin eingesperrt bleiben?
Pastor: Da steckt meine Arbeit drin! Ich habe mir solche Mühe gegeben! Du hast mir nicht gesagt, dass du den Käfig kaputt machen willst!
Was soll ich jetzt mit eurem Pastor machen? Ich will ihm doch nicht weh tun. Ich kann das doch gut verstehen, dass man an Dingen hängt, in die man Mühe und Fantasie investiert hat. Ich kenne das auch. Vor fünf Jahren bin ich in den Ruhestand gegangen, und ich hatte mir das so vorgestellt, dass ich in der Gemeinde weiter aktiv bleibe. Ich hatte so eine Art Kindergottesdienst für 10-14jährige aufgebaut, den hätte ich weitermachen können; ich dachte: ich predige auch öfter mal, das habe ich immer gern gemacht. Mit meinem Nachfolger habe ich mich gut verstanden. Aber dann brauchte das alte Haus, das wir für uns umbauten, alle meine Kraft. Und als wir dann endlich eingezogen waren, kam 6 Wochen später Corona, und nichts ging mehr.
Gott nimmt, um zu geben
Diese Gemeindearbeit, die so lange mein Leben war, in die ich so viel Mühe und Fantasie und Lebenszeit investiert habe, die war auf einmal nicht mehr da. Gott hat mir die einfach weggenommen. Das kann weh tun. Ich glaube, manche Kollegen können sich, wenn der Ruhestand herankommt, gar kein christliches Leben vorstellen, in dem sie nicht mehr Pastor sind. Wenn man so viel investiert hat, dann ist es hart, wenn einem das weggenommen wird.
Und ich glaube, dass wir im Moment alle auf solche Situationen zugehen, wo Gott uns diese Form des Christentums wegnimmt, in die wir so viel Lebenszeit und Kraft und Kreativität und Engagement investiert haben. Manchmal ist das ein harter Bruch und manchmal eher auch ein sanfter Übergang. Aber Gott macht das nicht, weil er uns ärgern will, sondern weil er uns etwas Neues schenken will: eine neue Art des Christentums, das aus den Grenzen ausbricht, die wir uns von der Neuzeit haben aufdrücken lassen. Ich selbst habe in der Coronazeit etwas bekommen, was ich mir ein ganzes Berufsleben hindurch gewünscht und nie bekommen habe: eine Gruppe von Kolleg*en, wo wir uns dreimal in der Woche per Zoom getroffen und zusammen die Bibel diskutiert haben. Ist das nicht traumhaft? Pastorinnen und Pastoren, die auf einmal Zeit haben, um dreimal in der Woche zusammen Bibelarbeit zu machen. Wir haben alle Paulusbriefe gelesen (bis auf den Römerbrief), und ich habe das Gefühl, jetzt endlich, nach vierzig Berufsjahren, habe ich Paulus verstanden. Ohne den brutalen Bruch von Corona hätte ich das vermutlich nicht erlebt.
Aslan ist kein zahmer Löwe. Der gehört nicht hinter Gittestäbe, und wir sollen auch raus in die Freiheit, in die volle Realität, wo wir hingehören. „Ich gehe euch voraus nach Galiläa“ sagt der Auferstandene. Und wer zu ihm gehören will, muss mitgehen.