Lass den Schmerz nicht umsonst gewesen sein!
Predigt am 24. November 2002 (Ewigkeitssonntag) zu 2. Petrus 3,13
Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach Gottes Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.
Um diesen Vers zu verstehen, müssen wir wissen, was Gerechtigkeit in der Bibel bedeutet. Gerechtigkeit bedeutet da viel mehr, als dass jeder bekommt, was er verdient. Gerechtigkeit bedeutet, dass die Welt so ist, wie sie ursprünglich geplant wurde, eine Welt nach dem Herzen Gottes. Eine neue Welt, in der kein Schmerz, kein Zerbrechen und kein Tod mehr ist. Eine Welt, in der Gott alle Tränen abwischen wird.
Und jetzt heißt es hier: auf diese Welt warten wir. Wir warten darauf, weil es in unserer Welt oft gerade nicht so zugeht. Weil dies eine Welt ist, in der Tränen fließen. Wir warten darauf, weil diese alte Welt unmöglich schon alles gewesen sein kann.
Meine Frau und ich waren vor einiger Zeit in Peine, und es war auch so ein trüber Tag wie jetzt in diesen Tagen öfter mal, und da wurden wir von einer älteren Dame von der anderen Straßenseite um Hilfe angerufen. Da war jemand vom Fahrrad gestürzt, und die Frau, die uns rief, konnte ihr nicht helfen. Sie war bewusstlos und hatte sich so ins Fahrrad verhakt, dass auch wir sie da kaum herausziehen konnten. Und als wir es geschafft hatten, da merkten wir, dass wohl nicht der Sturz das Problem war, sondern sie hatte wohl auf dem Fahrrad ein Problem mit dem Herzen bekommen oder einen Schlaganfall oder so etwas ähnliches und war deshalb gestürzt. Ich hatte nicht lange vorher einen Kurs für Sofortmaßnahmen am Unfallort mitgemacht, und das war eigentlich die Situation, für den ich ihn gemacht hatte, aber mein Kopf war völlig leer. Und es ist ein riesiger Unterschied, ob Sie diese ganzen Sachen an einer Puppe üben oder an einem lebenden Menschen machen sollen. Ich konnte das einfach nicht. Ich weiß, dass das falsch ist, und dass es besser ist, irgendetwas zu tun als gar nichts, aber es ging einfach nicht. Ich wusste noch, dass man hören muss, ob jemand atmet, aber es war so laut auf der Straße, dass ich überhaupt nichts hören konnte. Ich habe mich selten so hilflos gefühlt wie in diesem Moment. Und dann merkten wir, dass sie wegging. Ich kann es nicht besser beschreiben. Sie wurde immer weniger, und ich konnte sie nicht festhalten.
Zum Glück kam dann ziemlich schnell der Rettungsdienst und auch der Rettungshubschrauber; wir hatten jemanden gebeten, anzurufen, und die Profis haben dann alles gemacht, was sie tun konnten. Wir sind irgendwann weitergegangen, weil wir wussten, dass sie in den richtigen Händen war. Und ich habe nie erfahren, ob sie sie wieder ins Leben zurückgeholt haben. Ich weiß auch ihren Namen nicht. Sie war niemand, der mir persönlich bekannt war oder mir nahegestanden hätte. Aber vielleicht passiert mir das eines Tages mit einem Menschen, den ich kenne und liebe. Und ich kann mich immer noch erinnern an dieses Gefühl: sie geht weg, und ich kann sie nicht festhalten. Sie geht einfach weg. Unter meinen Händen. Und ich kann nichts tun.
Verstehen Sie, das ist einer der Gründe dafür, warum es in der Bibel heißt: wir warten auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt. Eine Welt, in der das nicht mehr passiert. Wo nicht mehr diese eiskalte Hand einen Menschen nimmt und von uns trennt und wir stehen hilflos dabei. Wir warten auf einen Welt, in der der Tod keine Macht mehr hat.
Und die Bibel sagt: es ist die Verheißung, die Ankündigung Gottes, dass diese Welt kommen wird. Aber irgendwoher wissen schon so alle Menschen, dass etwas nicht in Ordnung ist mit einer Welt, wo so etwas passiert. Wenn wir älter werden, dann sehen wir ein, dass es so ist, aber wir fragen immer noch: musste es schon jetzt sein? Musste es so sein? So schnell, so quälend langsam, so früh?
Und wer das fragt, der hat Recht. Obwohl die Welt voll Unglück und Unrecht ist, haben wir völlig zu Recht das Gefühl, dass wir uns daran nie werden gewöhnen können. Wir sind nicht geschaffen für eine Welt voll Leid und Zerbruch. Und diesen Widerspruch spüren wir deutlich im Schmerz. Schmerz sagt uns, dass menschliches Leben anders sein sollte. Dass wir eigentlich für eine andere Welt geschaffen wurden Niemals haben wir eine Welt ohne Leid und Schmerz erlebt, aber wenn wir auf sie stoßen würden, dann würden wir uns dort sofort zu Hause fühlen. Der Schmerz sagt uns, dass wir eigentlich woanders zu Hause sind. An den Tränen spüren wir unsere Sehnsucht nach dieser Welt, in der Gerechtigkeit herrscht.
Wissen Sie, was die Bibel über Tränen sagt? Im 56. Psalm (v. 9) sagt jemand zu Gott:
»Sammle meine Tränen in deinen Krug; ich bin sicher, du zählst sie alle.«
Verstehen Sie, was das bedeutet? Tränen sind für Gott etwas unvorstellbar Kostbares. Tränen sind etwas, was er niemals übersieht. Wir wissen von Gott auch, dass er jedes Haar kennt, das von unserem Kopf fällt, aber die Haare sammelt er nicht. Unsere Tränen sammelt er. Stellen Sie sich vor, dass Gott jede einzelne Träne aufbewahrt, die geweint wird, auch alle verborgenen, die kein Mensch jemals gesehen hat. Auch die Tränen, die geweint werden, wenn die andern sagen: »ach, er ist jetzt schon ganz gut drüber weggekommen«.
Warum sind Tränen für Gott so kostbar? Ich glaube, weil wir da fast immer echt sind. Es gibt nur wenige Menschen, die echtes Weinen imitieren können. Natürlich gibt es Menschen, die uns alles mögliche vorspielen, die heftig schluchzen und Szenen machen wie im Theater, aber echte Tränen imitieren, das können nur wenige. Und ich glaube, die meisten hätten da auch so etwas wie eine heilige Scheu vor. Wenn Tränen fließen, sind wir fast immer wirklich bei uns selbst. Wir leben ja oft an der Oberfläche und zeigen den Menschen das Gesicht, das sie sehen möchten, und wenn wir das lange genug machen, dann wissen wir selbst gar nicht mehr, wer wir eigentlich sind.
Aber es gibt mindestens zwei Dinge, die uns wieder zu uns selbst zurückholen: echte Freude und echter Schmerz. Freude und Schmerz – genau das sind die Momente, in denen Tränen fließen. Und Gott will wirklichen Menschen begegnen, keinen Fassaden und keinen Schauspielern, die gar nicht mehr den Unterschied zwischen Rolle und Leben kennen. Niemals ist die Tür für Gott so weit auf, wie wenn Tränen fließen.
In beiden Momenten, in der echten Freude und im echten Schmerz, da sind wir ganz nahe daran, zu verstehen, dass wir für eine andere Welt geschaffen sind, eine Welt, in der es keinen Schmerz mehr gibt, sondern die erfüllt ist von vollkommener Freude. In der Freude erleben wir einen Vorgeschmack dieser Welt, und im Schmerz spüren wir überdeutlich, dass wir noch nicht in ihr leben.
Ich glaube, das ist der Grund, weshalb Jesus in der Bergpredigt (Matthäus 5,4) sagt:
»Selig sind, die Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.«
Das ist entweder eine geschmacklose Banalität, wenn damit gemeint sein sollte: irgendwann geht es jedem schon wieder besser. Die Zeit heilt Wunden. Aber ich glaube, dass Jesus etwas anders meinte. Ich glaube, dass er sagen wollte: Niemals ist ein Mensch so nahe dran am Trost Gottes, wie dann, wenn er weint über einen tiefen Schmerz, in dem er die Unerlöstheit dieser Welt persönlich erfahren hat.
Liebe Freunde, normalerweise wissen wir, dass in der Welt vieles nicht gut ist und wir beklagen uns auch immer mal wieder darüber, aber das ist etwas völlig anderes, als wenn wir das selbst an einem Punkt in einem Moment persönlich erleben müssen: vielleicht so, dass da jemand geht, der ein großer Teil unseres Lebens war, und wir können ihn nicht festhalten.
So gut wie immer sind diese Momente verbunden mit Tränen. Und Gott sammelt diese Tränen. Weil das die Momente sind, wo wir so nahe dran sind an seiner eigenen Sehnsucht nach einem Himmel und einer Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt. Wenn der Riss mitten durch unser Herz geht, dann verstehen wir die Sehnsucht Gottes nach einer Welt, die mit vollkommener Freude erfüllt ist. Wenn unser Herz sich so wund anfühlt, leer und zerrissen, dann sind wir ganz nahe an dem Schmerz, den Gott empfindet, wenn er auf diesen Himmel und diese Erde schaut, in der die Gerechtigkeit nur Gast ist und keine feste Wohnung hat. Und weil wir dann so nahe bei Gott sind, deshalb ist sein Trost auch so nahe. Trost besteht darin, dass unser Blick sich weitet und etwas in unser Leben tritt, das größer ist als der Schmerz, den wir empfinden. Wenn ein Kind Zahnweh hat, dann kommen Vater oder Mutter und machen ihm deutlich: ich bin bei dir! Und wenn wir mitten in Tränen sind, dann kommt Gott zu uns und möchte uns sagen: ich bin ganz nah bei dir. Vertrau mir. Nimm meine Hand. Ich sammle deine Tränen. Keine ist verloren. Und lass meine Kraft hinein in dein Leben, lass mein Licht hinein. Du sollst erleben, wie das alles anders macht. Du sollst jetzt schon etwas schmecken von den Kräften der kommenden Welt, du sollst ihr Aroma kosten und ihre Musik hören. Lass mich in dein Leben kommen, damit nicht nur der Schmerz darin ist, sondern auch schon die Freude, die einmal die ganze kommende Welt ausfüllen wird.
Es gehört zu den Geheimnissen des menschlichen Herzens, dass wir mitten im Schmerz ganz nahe dran sind, die Liebe Gottes zu spüren wie sonst nie. Es ist wirklich so, dass die Tränen des Schmerzes und die Tränen der Tröstung nicht weit auseinander sind.
Was sagen uns Menschen zu diesen Tränen? Oft sagen sie: Natürlich musst du jetzt weinen, tu es, das erleichtert dich. Aber irgendwann geht das Leben wieder weiter. Irgendwann wirst du diesen Trauerprozess hinter dir haben. Ich kann dir die Phasen beschreiben. Irgendwann, in ein paar Jahren, sieht das Leben auch wieder anders aus. Und wer würde sich das nicht wünschen, dass einer auch wieder herausfindet aus der Traurigkeit?
Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Denn mitten in Schmerz und Verwirrung hat uns ein Ruf Gottes erreicht, weg von den kleinen Hoffnungen hin zu der großen Hoffnung auf den neuen Himmel und die neue Erde, in der Zerstörung und Tod keinen Platz mehr haben. Und für einen Augenblick verstehen wir, dass für unsere Tränen und für all die gesammelten Tränen in der Welt diese kleine Hoffnung einfach zu klein ist. Diese kleine Hoffnung, dass es irgendwann besser wird, die ist zwar nicht unberechtigt, aber sie ist einfach zu klein für das, was Menschen erleben und durchleiden. Die kleine Hoffnung ist: irgendwann wird es wieder besser werden. Die große Hoffnung Gottes ist: da ist eine Welt, die von Gerechtigkeit und Freude erfüllt ist, und in der all diese Brüche keinen Raum haben, und sie strahlt schon durch alle Ritzen in unsere Welt hinein. Jesus hat aus dieser Kraft gelebt. Und wenn wir dahingehen, wo so ein Strahl auf uns fallen kann, dann verwandelt sich Schmerz in eine tiefe Gewissheit, dass nichts und niemand stärker ist als die Kraft Jesu in dieser Welt.
Deswegen sind alle, die durch großen Schmerz gehen, gleichzeitig auch so nahe dran an dem Punkt, dass sich das verwandelt in die Erfahrung der Liebe Gottes, die unser Herz mit tiefem Glück erfüllt. Das ist so nahe beieinander! Darf ich das allen, die durch solche Zeiten gehen, heute so sagen: Lass das nicht einfach vorübergehen! Lass all das Schlimme, was du erlebt hast, nicht umsonst gewesen sein! In dem allen erreicht dich ein Ruf Gottes, der dir sagt: vertraue mir; ich bin jetzt ganz nahe bei dir, und ich will das, was du erlebst, nehmen und dir etwas Kostbares schenken.
Unser Leben lang hat Gott uns zugeflüstert, dass er etwas unsagbar Gutes für uns bereithält. Er hat es uns zugeflüstert im Wind und im Lachen guter Freunde. Wir haben etwas von ihm geahnt, als wir unser erstes Kind im Arm gehalten haben oder als wir unter einem Himmel voller Sterne standen. Aber er spricht zu uns auch in Zeiten großen Leides und weckt in uns diese Sehnsucht nach Liebe, nach Heilsein, nach Geborgenheit und Freude. Vielleicht haben wir diese Stimme nicht verstanden oder nicht gewusst, dass es Gottes Stimme war, aber es ist die Stimme, die uns einmal ins Leben gerufen hat, die Stimme, der wir einmal so vertraut haben, dass wir uns von ihr ins Leben rufen ließen. Es ist die Stimme, die zu hören wir uns immer gesehnt haben. Bleiben Sie in Kontakt mit dieser Stimme. Gehen Sie dahin, wo diese Stimme zu hören ist. Lassen Sie all dies Schlimme, was Menschen erleben, nicht umsonst passiert sein! Verlieren Sie nicht das Geschenk, das da verborgen ist!
Gott sammelt Tränen. Er spürt sie alle. Es ist unvorstellbar, dass er alle Tränen kennt, von allen Menschen, die je gelebt haben. Aber es ist so. Er vergisst keine einzige.
Und er will sie uns zurückgeben – als Perlen.