Ein neuer Blick auf das Weltgericht

Predigt am 16. November 2008 zu 2. Korinther 5,1-10 und Matthäus 25,31-46

1 So gleicht zum Beispiel der Körper, in dem wir hier auf der Erde leben, einem Zelt, das eines Tages abgebrochen wird. Doch wir wissen: Wenn das geschieht, wartet auf uns ein Bauwerk, das nicht von Menschenhand errichtet ist, sondern von Gott, ein ewiges Haus im Himmel. 2 In unserem irdischen Zelt seufzen wir, weil wir uns nach der Wohnung sehnen, die aus dem Himmel stammt, und am liebsten würden wir den neuen Körper wie ein Gewand direkt über den alten anziehen. 3 Denn nur dann, wenn wir ´den neuen Körper` angezogen haben, werden wir nicht unbekleidet dastehen. 4 Ja, solange wir noch in unserem irdischen Zelt wohnen, wo so vieles uns bedrückt, seufzen wir ´voll Sehnsucht`, denn wir möchten ´den jetzigen Körper am liebsten` gar nicht erst ablegen müssen, sondern ´den künftigen` unmittelbar darüber anziehen. Auf diese Weise würde das, was sterblich ist, sozusagen vom Leben verschlungen. 5 Gott selbst hat uns auf dieses ´neue Leben` vorbereitet, indem er uns seinen Geist als Unterpfand und Anzahlung gegeben hat.
6 Deshalb kann nichts und niemand uns unsere Zuversicht nehmen. Wir wissen zwar: Solange dieser Körper noch unser Zuhause ist, sind wir fern vom Herrn, 7 denn unser Leben ´hier auf der Erde` ist ein Leben des Glaubens, noch nicht ein Leben des Schauens. 8 Und doch sind wir voll Zuversicht, und unser größter Wunsch ist, das Zuhause unseres ´irdischen` Körpers verlassen zu dürfen und ´für immer` daheim beim Herrn zu sein. 9 Daher haben wir auch nur ein Ziel: so zu leben, dass er Freude an uns hat – ganz gleich, ob wir ´schon bei ihm` zu Hause oder ´noch hier` in der Fremde sind. 10 Denn wir alle müssen einmal vor dem Richterstuhl von Christus erscheinen, wo alles offengelegt wird, und dann wird jeder den Lohn für das erhalten, was er während seines Lebens in diesem Körper getan hat, ob es nun gut war oder böse.

Das Thema des Gerichts zieht sich durch die Texte, die wir heute hören (außer dem Text aus dem 2. Korintherbrief war das die Lesung: das Gleichnis vom Weltgericht, Matthäus 25,31-46). Und ich habe oft genug erlebt, wie Menschen bei diesem Thema sinngemäß gesagt haben: o, von diesem Thema mag ich gar nichts hören, das bereitet mir Bauchschmerzen, eigentlich ist es unfein, das anzuschneiden.

Nun ist es natürlich nicht besonders klug, über eine Sache nur deshalb nicht nachzudenken, weil man sie nicht mag. Aber vor allem wird man dann gar nicht registrieren, dass in der Bibel anders über das Gericht Gottes geredet wird als wir es uns meistens vorstellen. Das fängt schon an bei dem Bild vom Weltgericht, das wir vorhin gehört haben. Haben wir das wirklich realisiert, dass Jesus in den längsten Ausführungen, die wir von ihm zu dem Thema haben, die Zuwendung zu denen, die benachteiligt oder unter die Räder gekommen sind, zum entscheidende Kriterium macht? An den Armen und Hungernden, an den Ausländer, Kranken und Gefangenen zeigt sich, wie einer zu Jesus steht.

Merken Sie dass das andere Themen sind, als sie normalerweise benannt werden, wenn es ums Gericht Gottes geht? Zum Beispiel fehlen hier alle irgendwie sexlastigen Themen. Auch alle Frömmigkeitsthemen im engeren Sinne fehlen. Noch nicht mal die zehn Gebote werden erwähnt, die ja heute vielen Menschen als Kernbestand des Christlichen gelten. Ganz einseitig redet Jesus davon, dass es im Gericht um die tatsächliche Zuwendung zu den Hilfsbedürftigen geht. Heute würden ihm deswegen manche eine »soziale Engführung der Botschaft« vorwerfen, wie das dann heißt.

Diese Konzentration auf die Armen bedeutet nun nicht, dass einer sämtliche Gefängnisse, Krankenhäuser, Wohnheime und anderes in der Umgebung abgeklappert haben muss, bis er schließlich an hochgradiger Erschöpfung zusammenbricht und dann von Petrus am Himmelstor willkommen geheißen wird. Es heißt auch nicht, dass man auf jede Spendenbitte reagieren muss, die einem per Serienbrief ins Haus flattert. Es heißt auch nicht, dass man anderen einen verantwortungslosen Lebensstil finanzieren soll. Es bedeutet ebenfalls nicht, dass alle religiösen Handlungen nutzlos und überholt sind. Aber sie sind nur Mittel zum Zweck, und ihr Erfolg zeigt sich daran, ob sie uns zu barmherzigeren Menschen machen, die Gottes Sorge um die Armen in jeder Gestalt teilen.

Wir sollen über die eigenen Leute hinaus denken – über die eigene Familie hinaus, über das eigene Milieu hinaus, über die eigene Nation hinaus, über unsere eigene Situation hinaus, die ja vielleicht ganz gut ist. Wobei es natürlich bei manchem auch schon viel wäre, wenn er wenigstens die eigenen Leute freundlich behandeln würde. Jedenfalls, wenn du zur Kirche gehst, dich für Jesus entscheidest, getauft bist, am Abendmahl teilnimmst, Gott lobst und manches andere – all das hat das Ziel, dein Herz liebevoller und barmherziger zu machen. Und wenn es das nicht erreicht, dann stimmt etwas nicht, dann hast du unter dem Namen »Jesus« vielleicht in Wirklichkeit ein schwarzes Phantom verehrt, das mit dem realen Jesus gar nichts zu tun hat.

Das Bild vom Weltgericht ist eine Geschichte, die die Richtung zeigt, in der wir gehen müssen, keine wortwörtlich zu befolgende Handlungsanleitung. Aber wenn Paulus schreibt, dass wir so leben sollen, dass der Herr Freude an uns hat, dann müssen wir das von dieser Orientierung auf die Armen hin verstehen, die Jesus vorgibt.

Das ist also die erste Korrektur am Thema Gericht. Die zweite besteht darin, dass der Weltrichter Jesus ist, bzw. dass Gott in Einheit mit Jesus Gericht hält. Dadurch verwandelt sich unser Bild vom Gericht. Der Richter ist eben keine objektive, neutrale Gestalt mehr, die kühl abwägend ein Urteil fällt, vielleicht sogar Freude daran hat, wenn sie an einigen ein Exempel statuieren kann. Sondern der Richter ist engagiert auf unserer Seite beteiligt.

Ich möchte das erklären mit einem Vergleich aus dem Bildungswesen. In Internationalen Vergleichen schneidet ja das deutsche Bildungswesen nur mäßig ab, während die skandinavischen Länder meistens sehr erfolgreich sind. Woran liegt das? Der Unterschied liegt in der zentralen Philosophie des Bildungswesens. In Ländern wie Schweden oder Finnland ist der Grundgedanke, dass keiner verloren gehen soll. Lehrer sind die Unterstützer ihrer Schüler, die dafür sorgen sollen, dass alle die Bildungsziele erreichen. Ihre Aufgabe ist es, die Defizite auszugleichen und Kinder gezielt zu fördern. Entsprechend diesem Bild ist das gesellschaftliche Ansehen der Lehrer hoch. Und ein ziemlich großer Anteil der Schüler, ich glaube, über die Hälfte, schafft so das Abitur. Und das wird diesen Ländern in Zukunft wirtschaftlich einen großen internationalen Wettbewerbsvorteil bescheren.

Bei uns ist die Philosophie eine andere. Sie ist stärker vom Gedanken des Prüfens und Sortierens geprägt. Wir machen euch ein Bildungsangebot, und dann ist es eure Sache, ob ihr es annehmt, und am Ende prüfen wir, was dabei herausgekommen ist. Wenn du das Angebot nicht genutzt hast oder nicht nutzen konntest, dann ist das dein Problem. Es können schließlich nicht alle Abitur machen, wo kämen wir denn da hin? Die Antwort ist ganz klar: in die wirtschaftliche Mittelmäßigkeit. Denn wir brauchen in Zukunft sehr viele gut ausgebildete Leute. Aber leider stehen bei uns Lehrer systembedingt nicht unbedingt an der Seite ihrer Schüler. Und das führt dann zu solchen Ergebnissen wie bei der Lehrerin, deren Klasse zu gut war. Ich weiß nicht, ob Sie das neulich gelesen haben: da war eine Lehrerin, ich glaube in Bayern, die sich so um die Kinder gekümmert hat, dass die Klasse immer Super-Ergebnisse in den Klassenarbeiten hatte. Und was passierte? Sie bekam Ärger mit der Schulleitung, weil das nicht sein kann und weil einfach ein gewisses Mindestmaß an Fünfen dabei sein muss.

Man merkt daran übrigens, dass diese unterschiedliche Philosophie weniger ein persönliches Problem der Lehrer ist, sondern eine generelle Frage nach der Grundorientierung des Bildungssystems. Auch in Skandinavien gibt es mehr oder weniger fähige Lehrer, aber die Grundorientierung des ganzen Systems hilft ihnen allen, bessere Ergebnisse zu erzielen.

Ich habe das so ausführlich dargestellt, weil es mir hilft zu verstehen, was es ausmacht, dass Jesus der Weltrichter ist. Jesus ist nicht ein neutral-uninteressierter Bewerter, sondern er ist engagiert an unserer Seite. Er tut alles dafür, dass niemand verloren geht. Für ihn ist es kein Problem, wenn am Ende die Hölle leer ist. Er arbeitet aktiv daran, dass Menschen dieses barmherzige Engagement über die eigenen Leute hinaus entwickeln, auf das es ihm so sehr ankommt.

Die dritte Korrektur am Thema des Weltgerichts besteht darin, dass wir doch hoffentlich alle ein Interesse daran haben, dass die Gerechtigkeit am Ende siegt. Am Ende wird alles ganz offen daliegen, die Zusammenhänge und Motive aller Menschen. Und das ist gut, denn zu all dem Schrecklichen in der Menschheitsgeschichte kann man doch nicht einfach sagen: Schwamm drüber! Wer letzten Sonntag hier dabei war, als wir von der Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus gehört haben, der hat vielleicht noch Beispiele für all diese Grausamkeiten und Gemeinheiten vor Augen. Das kann doch nicht einfach vergessen sein! Das muss doch noch mal zur Sprache kommen! Die Leute, die damals all diese Schandtaten vorangetrieben haben und dann vielleicht sogar der menschlichen Gerechtigkeit entkommen sind, die müssen doch noch mal zur Verantwortung gezogen werden!

Oder manche von uns haben ja in den vergangenen Jahren einige Erlebnisse mit Ausländer- und Sozialbehörden gehabt. Und es gibt da natürlich auch ganz engagierte Leute, die versuchen, das Beste für ihre Klienten herauszuholen. Aber diese Minityrannen, die sich da endlich mal groß aufplustern können, weil sie mit ziemlich wehrlosen Leuten zu tun haben, alle, die den Menschen unnötige Steine in den Weg legen und ihre Macht genießen – sollen die denn nie zur Verantwortung gezogen werden für das, was sie anrichten, für all die Verletzungen, die sie anderen zufügen? Wissen Sie, selbst ich als Pastor habe mir da manchmal Sachen anhören müssen, wo es mir auf der Zunge lag zu sagen: »Stoppen Sie Ihren unverschämten Ton – vergessen Sie nicht, dass ich Sie mit meinen Steuern bezahle, und nicht zu knapp!« Ich habe es dann immer runtergeschluckt, weil die Rache die getroffen hätte, für die ich mich ja einsetzen wollte. Aber wenn die mit mir schon so reden, wie werden sie dann erst mit jemandem umgehen, der nur schlecht deutsch kann und von ihnen abhängig ist? Und so etwas soll nie wieder zur Sprache kommen? Das soll ganz schnell vergessen sein? Ich habe mich in solchen Situationen damit getröstet, dass ich wusste: Freundchen, du wirst dich für diese Gemeinheiten noch mal verantworten müssen, und zwar nicht nach dem Beamtenrecht!

Das Gericht Gottes ist ein hoffnungsvoller Gedanke. Endlich wird sich dann mal keiner hinter seinen Vorschriften verstecken können oder durch seine Machtstellung den Folgen seiner Taten entgehen. Die Armen und Entrechteten hoffen auf das Weltgericht, weil sie manchmal keine andere Hoffnung mehr haben. Und es ist eine Frage an uns, ob wir diese Hoffnung nicht teilen wollen? Mit wem identifizieren wir uns eigentlich? Mit den Opfern der Weltgeschichte? Oder eher mit den großen und kleinen Tyrannen? Natürlich werden wir selbst auch nicht ungeschoren bleiben, wenn alles noch einmal offen gelegt wird. Aber es wäre kein gutes Zeichen, wenn wir deswegen die Hoffnung nicht teilen würden, dass am Ende der Welt ein Richter kommt, der den Armen und Unterdrückten endlich zu ihrem Recht verhilft!

Schließlich besteht die für heute letzte Korrektur an unserem Blick auf das Thema des Weltgerichts in der Art, wie sich z.B. Paulus nach der Begegnung mit Jesus sehnt. Der Wunsch, endlich ganz mit Jesus zusammen zu sein, tritt bei ihm so sehr in den Vordergrund, dass der Gedanke des Gerichts daneben gerade mal in einem Vers vorkommt.

Die Sache ist doch so: Für die ungerechte Welt, in der wir leben, sind wir eigentlich nicht gemacht. Die ist nicht unser wahres Zuhause. Aber wir haben erlebt, dass es etwas anderes gibt. Zu diesem Zweck hat Gott uns ja dieses Modell Jesus gegeben, ein ungeheuer anziehendes Modell für richtiges, gutes Leben. Das Leben, für das wir bestimmt sind. Und Paulus sehnt sich danach, dass er endlich ganz mit Jesus zusammen sein kann, dass nichts mehr dazwischen steht, damit er ganz in dieses Modell Jesus hinein verwandelt wird. Er wünscht sich, dass er ganz befreit wird von der alten Art zu leben und dass er das neue Leben überstreifen kann wie ein neues Gewand. Er vergleicht das jetzige Leben in diesem Leib mit einem Zelt, in dem man nur provisorisch wohnt. Und er wünscht sich, dass es nicht mehr lange dauert, bis dieses Provisorium zu Ende geht und er endlich das Leben leben kann, nach dem er sich immer gesehnt hat – zuerst unklar und unbewusst, aber dann immer klarer. Wie schön wird es sein, wenn wir Jesus authentisch begegnen, so wie er wirklich ist, von Angesicht zu Angesicht, und nicht mehr angewiesen sind auf Erzählungen und Erinnerungen! Wie herrlich wird es sein, wenn die Welt von neuem unverhüllt Gottes Güte und Reichtum widerspiegeln wird!

Aber egal, wo wir sind, hier oder in der neuen Welt, das Motiv, Jesus Freude zu machen, ihm zu gefallen und mit ihm verbunden zu sein, das ändert sich nicht. Wer von diesem Motiv bewegt ist, der muss sich vor dem Gericht am Ende der Zeiten keine Sorge machen.