Gott ist nicht zwiespältig
Predigt am 19. Dezember 2010 (4. Advent) zu 2. Korinther 1,18-22
Man merkt es beim ersten Hören wahrscheinlich nicht, aber Paulus hat das geschrieben in einer tiefen Vertrauenskrise zwischen ihm und der Gemeinde in Korinth. Er hat diese Gemeinde gegründet, ohne ihn gäbe es sie gar nicht, aber wie Kinder manchmal heftig gegen ihre Eltern Sturm laufen, so gab es Leute in der Gemeinde, die heftig Opposition gegen Paulus machten. Es hat offene Auseinandersetzungen gegeben, Paulus ist übel angegriffen worden. Einmal ist er einfach abgereist, weil die Lage so verfahren war. Aber dann hat sich die Mehrheit der Gemeinde besonnen und einen klaren Trennungsstrich gezogen zu denen, die das Misstrauen gesät hatten.
Eigentlich hat es also ein happy end gegeben, alles ist wieder gut. Aber wer solche Konflikte kennt, der weiß, dass da immer etwas zurückbleibt, so ein heimliches Misstrauen: sollte nicht vielleicht auch Paulus irgendwie schuld sein an dem Konflikt? Kann das denn sein, dass nur eine Seite die Verantwortung hat? Das ist ja die bequeme Floskel, mit denen Menschen sich davor drücken, in eigener Verantwortung zu urteilen: irgendwie sind bestimmt beide schuld!
Und dazu kommt, dass Paulus seine Reisepläne ein paar Mal geändert hatte: erst wollte er kommen, dann wieder nicht, dann hat er stattdessen seinen Freund Titus geschickt, um den Konflikt nicht weiter anzuheizen; wahrscheinlich gibt es mindestens einige in Korinth, die sagen: mal redet er so und mal so, man kann sich auf ihn nicht verlassen! Also, wie das durch solche Konflikte oft passiert: das Vertrauen hat einen Riss bekommen, es wird nie wieder so wie vorher, das Misstrauen kann sehr schnell wieder aufflammen.
Und deshalb beschreibt Paulus in diesem Brief ausführlich seine Motive, die ihn zu den wechselnden Entscheidungen gebracht haben. Leider schreibt er oft nur in Andeutungen, die heute schwer zu verstehen sind. Denn so ein Brief konnte unterwegs in falsche Hände gelangen, da konnte man vieles nicht so klar sagen. Deshalb hat Paulus gerade die heiklen Sachen oft nur angedeutet, und für alle, die dabei waren, war es trotzdem klar; bloß wir heute haben ein Problem damit, das zu verstehen.
Aber anscheinend reicht es nicht, einfach nur zu erklären, wie es alles gemeint war. Wahrscheinlich haben in Korinth Leute gesagt: der Paulus ist so gut im Argumentieren, der kann dir alles plausibel machen, der kann dich besoffen reden, am besten lassen wir ihn einfach reden und denken uns unser Teil. Ja, tatsächlich, Paulus war jemand, der in seinem Kopf viele verschiedene Aspekte der Wirklichkeit gleichzeitig nebeneinander bedenken konnte. Deshalb müssen wir heute manchmal so knobeln, um seine Briefe zu verstehen. Der hätte wirklich, wenn er gewollt hätte, das Zeug zu einem richtigen Menschenverführer gehabt. Stattdessen hat er es geschafft, die ganze Widersprüchlichkeit der Welt auszuhalten und von Gott her zu durchdenken. Das ist dann manchen wohl schon damals zu hoch gewesen und deshalb unheimlich.
Aber ist es eine Lösung, dann zu sagen: das könnte gefährlich sein, dann bleiben wir lieber bei den einfachen Sätzen? Die Welt ist so kompliziert, da hilft auch Weggucken nicht. Und wenn man die Parole ausgibt: Vorsicht, der kann uns besoffen reden, dann breitet sich einfach nur diffuses Misstrauen aus, das kaum noch zu greifen ist, und es macht alles viel schwerer und raubt der Gemeinde ganz viel von ihrer Kraft. In jeder Gemeinde ist das gegenseitige Vertrauen das wichtigste Kapital. Davon lebt die Gemeinde, dass Menschen dort nicht Angst haben müssen, betrogen zu werden. Deswegen ist es so schlimm, wenn das Vertrauen durch lügnerische Menschen zerstört wird oder wenn Menschen es mit unverantwortlichem Reden untergraben.
Und am allerschlimmsten ist es, wenn Menschen sich daran gewöhnen, dass man niemandem glauben kann; wenn Menschen sich daran gewöhnen, dass es kein berechtigtes Vertrauen gibt. Dann wählen sie am Ende jeden Scharlatan, weil sie denken: man kann sowieso keinem trauen.
Paulus weiß: es reicht nicht, jetzt einfach zu erklären, weshalb er jeweils so und nicht anders gehandelt hat. Er muss tiefer ansetzen, um das Vertrauen neu aufzubauen. Und deshalb redet er über Gott: dass Gott nicht doppeldeutig ist, sondern zuverlässig und verlässlich. Er sagt: erinnert euch an den Gott, von dem wir von Anfang an geredet haben und an den ihr glaubt. Der ist nicht wankelmütig. Sondern der hält über viele Jahrhunderte an seinem Plan fest, ganz beständig bleibt er dran, und schließlich kommt Jesus, und der bestätigt noch einmal alles, was Gott bisher getan hat. Gott lässt ihn auferstehen und zeigt damit, dass er auch den Tod überwindet, genauso, wie er es immer angedeutet und angekündigt hat. Und wir, Silvanus und Timotheus und ich, wir haben von Anfang an alles getan, um euch für diesen Gott zu gewinnen. Wäre es da nicht widersinnig, wenn wir selbst dann hin und her gerissen, zwiespältig und unzuverlässig wären? Für diesen eindeutigen Gott tun wir alles, er beeinflusst uns, er schenkt uns den Heiligen Geist, mit ihm sind wir verbunden. Gibt es dann nicht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass seine Zuverlässigkeit auf uns abfärbt?
Die richtige Reaktion auf angeknackstes Vertrauen ist, sich neu am vertrauenswürdigen Gott zu orientieren. Selbst wenn es unwahrscheinlicher Weise so wäre, dass Paulus doch ein raffinierter Trickser ist, der Gott für seine Zwecke benutzt und die Leute mit glatten Argumenten besoffen redet, dann ist es auf alle Fälle richtig, sich die Zuverlässigkeit Gottes vor Augen zu führen. Denn das ist wirklich ein ganz starkes Argument: zu sehen, wie Gott über Jahrhunderte und Jahrtausende ganz beharrlich in dieselbe Richtung gearbeitet hat.
Er hat Abraham berufen, um eine neue, befreite Menschheit zu gründen. Er hat Abrahams Nachkommen aus der Sklaverei in Ägypten befreit. Er hat sie durch die Wüste in ein neues Land geführt, damit sie dort als freies Volk in Solidarität miteinander leben konnten. Und immer, wenn sie dort in Gefahr kamen, ihre Freiheit zu verspielen, hat er sie zurückgerufen. Er schickt Propheten, um sie an ihre Berufung zu erinnern. Und als sie trotzdem ein Machtstaat, ein Unterdrückerstaat werden, da zerschlägt er lieber diesen Staat, als sie zu einem Volk wie alle andern werden zu lassen, und sie finden sich als Gefangene fremder Mächte wieder. Und trotzdem bleibt er ihnen treu, er schickt neue Propheten und richtet sie wieder auf, er lässt sie überleben, wenn auch nicht mehr als eigener Staat. Er sorgt dafür, dass ihre Identität als Volk bewahrt bleibt. Und nach vielen Jahrhunderten des Wartens schickt er Jesus, und an dem kann man ganz eindeutig erkennen, worauf diese ganze Geschichte schon immer hinauslaufen sollte. Gott hat sie mächtig gemacht und er hat ihnen die Macht wieder entzogen – unterschiedlicher könnte Gottes Handeln nicht sein, aber es entspringt beides seinem Grundmotiv, ein freies Volk zu schaffen, das nach Gottes Art lebt. Und in Jesus ist die Art endgültig sichtbar geworden.
Oder wenn man sich die Bibel anschaut, da gibt es so unterschiedliche Bücher aus vielen Jahrhunderten, und weil die Menschen sich in dieser Zeit ändern, muss auch Gott anders mit ihnen sprechen. Es gibt in der Bibel Kriegsgeschichten, die blutig und schrecklich sind, und es gibt die Verheißung eines Friedensreichs, und es gibt Jesus mit der Bergpredigt – aber das sind keine Widersprüche, sondern die Menschen wandeln sich, sie können mehr verstehen, sie sind schon weiter gegangen auf dem Weg, und dann muss und kann Gott auch wieder neu und anders reden. Als Matthäus sein Evangelium schrieb, hatte er andere Leute im Blick als Markus, und deshalb erzählte er die Geschichte von Jesu auch anders. Aber der Weg, auf den Gott die Menschen bringen will, der bleibt gleich, durch alle Jahrhunderte hindurch. Das ist spätestens durch Jesus ans Licht gekommen. Er ist die Einheit in aller Unterschiedlichkeit. Und er ist die Bestätigung, dass Gott nicht launisch ist. Dass er auferstanden ist, das zeigt im Rückblick, dass Gott keine hohlen Sprüche gemacht hat, auch wenn seine Versprechen oft wie unglaubliche Übertreibungen aussahen.
Gott ist nicht launisch und unbeständig wie die anderen Götter. Die griechischen Götter gaben den Menschen oft Glück und Erfolg so, wie es ihnen am besten in den Kram passte, nach Lust, Laune und Tagesform. Und die Götter von heute, Konjunktur und Markt, vor denen sich alle fürchten und von denen viele alles erwarten, die sind genauso wankelmütig: mal gehen die Aktien nach oben, mal nach unten, mal gibt es die große Krise und dann wieder den Boom, und keiner kann sich sicher sein, was denn nun verlässlich ist. Aber der Gott Israels, der Vater Jesu Christi, der Gott des Paulus und seiner Gemeinden, unser Gott, der ist nicht launisch, sondern der bleibt ganz beständig auf seiner Linie.
Die große Bestätigung dafür ist Jesus. Der ist wie ein eindeutiger Beleg, dass Gott immer noch auf seinem Weg ist. Sie kennen das vielleicht, wenn man unterwegs ist und sich nicht sicher ist, dass man noch richtig geht, dann hält man Ausschau nach Wegzeichen, und dann merkt man: aha, jetzt sind wir an dieser charakteristischen Kreuzung, dann sind wir also immer noch auf dem richtigen Weg!
So ein deutliches Zeichen ist Jesus: Gott hat die Sache nicht aufgegeben, nein, die Richtung stimmt immer noch. Und das ist wichtig, weil der Weg ja noch längst nicht zu Ende ist. Wir haben vorhin in der Lesung den Lobgesang der Maria gehört: ein Lied, das die ganzen Verheißungen aus Israels Geschichte zusammenfasst in Sätzen wie: Gott stößt die Machthaber vom Thron und erhebt die Niedrigen! Das ist ja noch längst nicht geschehen. Immer noch warten so viele Niedrige und Arme darauf, dass Gott diese Verheißung endgültig einlöst, auf der ganzen Erde. Und deswegen ist es so wichtig, zu wissen, dass Gott seinen Weg nicht aufgegeben hat. Es war so unwahrscheinlich und unerwartet, dass Gott den gekreuzigten Jesus auferwecken würde – aber es ist geschehen. Das war die entscheidende Zwischenstation. Und es ist so unwahrscheinlich und kaum vorstellbar, wie Gott denn sein Friedensreich auf der Erde aufrichten wird, so dass die Unterdrückten und Ausgebeuteten frei werden und die ganze Kreatur jubelt über die Taten Gottes. Aber es wird geschehen. Gott ist immer noch auf seinem Weg. Er macht vieles anders als in den alten Tagen, aber sein Weg ist derselbe. Er bringt ihn voran, er wird nicht müde, er ist nicht wankelmütig.
Und das spiegelt sich wieder in Menschen wie Paulus – und hoffentlich auch in uns. Es kann sein, dass Paulus mal nicht persönlich kommt, sondern, um den Konflikt nicht weiter anzuheizen, seinen Freund Titus schickt, obwohl er es anders angekündigt hat. Das kann passieren. Er hält nicht an diesem Detail fest, weil er der großen Linie Gottes treu bleibt. Paulus – und hoffentlich sind wir es auch – ist in sich klar und eindeutig. Aber die Welt ist kompliziert, sie ändert sich dauernd, und man muss immer wieder neu Antworten darauf finden. Das war damals im römischen Reich auch schon so wie heute bei uns. Und man kann diesen dauernden Wandel natürlich als Ausrede nehmen, um sein Mäntelchen nach dem Wind zu hängen. Man kann aber auch in allen wechselnden Umständen an seiner Sache festhalten, seinen Weg weitergehen, seinem Auftrag treu bleiben. So macht Gott das. Und wir sollen uns an ihm orientieren, damit wir klare, eindeutige, aufrechte Menschen bleiben, Menschen, die in der Wahrheit gegründet sind und auch in wechselnden Zeiten ihren Weg, Gottes Weg, finden.