Gottes Kerngeschäft: Rettung, sogar für Sünder des Geistes
Predigt am 27. Juni 2004 zu 1. Timotheus 1,12-17
12 Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt, 13 mich, der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben.
14 Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist. 15 Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, um Sünder zu retten, unter denen ich der erste bin. 16 Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, dass Christus Jesus an mir als erstem alle Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben.
17 Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen.
Paulus beschreibt sich selbst als ein Beispiel dafür, worum es eigentlich geht, wenn Gott ins Leben eines Menschen tritt. Er sagt: ich bin der erste aller Sünder! Und das heißt nicht, dass er im Wettbewerb: »wer ist der größte Sünder?« den ersten Preis gemacht hätte, sondern dass man an ihm eine Art Grundmuster ablesen kann, worum es bei Sünde geht, und dass er auch gerne dafür zur Verfügung stehen will.
Nun ist Paulus ja eigentlich nicht das gewesen, was man sich normalerweise unter einem Sünder vorstellt. Er war gerade einer, der die Regeln eingehalten hat, einer von den Frommen, der Grundsätze hatten und einer von den vermutlich wenigen, die sich auch immer daran gehalten haben. Aber er hatte etwas viel Schlimmeres getan: er hatte die erste christliche Gemeinde verfolgt und sich damit gegen das zentrale Handeln Gottes unter den Menschen gestellt. Dabei hatte er dann allerdings auch bemerkenswerte Zielstrebigkeit und Brutalität entwickelt. Aber er hatte es, wie wir heute sagen würden, »gut gemeint«: er war der Überzeugung, dass die Christen falsch von Gott redeten und deshalb beseitigt werden müssten.
Man sieht daran, dass es gar nicht so abwegig ist, wenn es heißt: »Was ist das Gegenteil von gut? – Gut gemeint!«. Dass einer es gut meint, ist noch keine Garantie dafür dass er nicht tatsächlich katastrophale Dinge anrichtet. Viele der größten Massenmörder aller Zeiten haben gedacht, dass sie das Richtige und Notwendige tun, das, was für ihre Nation und ihr Volk richtig ist oder unerlässlich für den Fortschritt der Menschheit. Und Jesus hatte ernsthafte Probleme nicht mit denen, die kriminelle Dinge taten, die ein betrügerisches oder unordentliches Leben führten, sondern mit denen, die im Namen Gottes versuchten, die Menschen zu kontrollieren.
Wenn wir an »Sünder« denken, dann haben wir die Sünden des Fleisches vor Augen: alles Kriminelle, was man unter anständigen Menschen sowieso nicht tut; unordentliche Lebensweise; Gewalt; Habgier, die auffällig wird; sexuelle Verwirrung, egal, wo man da im Einzelfall die Grenze zieht. Wenn wir uns dagegen Jesus anschauen, dann sehen wir, dass das alles bei ihm eher ein Randthema ist. Warum? Weil das nicht so schlimm wäre? Weil man so was ruhig tun darf? Nein – sondern weil das für Jesus kein großes Problem war. In seiner Gegenwart haben die Menschen all diese Sachen gar nicht gemacht, weil es für alle klar war, dass das nicht passte. Und das hielt auch danach an. Als Jesus z.B. den betrügerischen Zöllner Zachäus besuchte, da musste er mit ihm überhaupt nicht über seine erpresserischen Geschäfte reden. Zachäus war klar, dass er nicht mehr so weitermachen konnte, und nach dem Essen sagte er das auch.
Wirkliche Probleme hatte Jesus dagegen mit den Sünden des Geistes: etwa mit dem Hochmut der Leute, die draußen standen und sich beschwerten, dass Jesus zu so einem wie Zachäus überhaupt hingeht. Mit der Kritisiererei derer, die sich aufregten, dass er mit den Sexarbeiterinnen aß und redete. Mit der selbstgerechten Empörung. Mit der Geldgier, die er Mammon nannte.
Alle Sünden trennen uns von Gott; aber die Sünden des Geistes sind die Schlimmeren und Gefährlicheren, weil sie die Menschen viel fester im Griff haben und weil ihre Folgen erst viel später deutlich werden. Wahrscheinlich wäre Paulus ohne seine Bekehrung im Alter ein unerträglicher Nörgler geworden, oder ein sturer Dogmatiker oder ein grausamer Großinquisitor. Aber damals, als er die Christen verfolgte, war er kein betrübter oder zerknirschter Sünder, sondern ein dynamischer junger Mann, der entschlossen war, mit seinem Leben und seinen großen intellektuellen Gaben Gott zu gehorchen. Und jedesmal, wenn er wieder jemand hinter Schloss und Riegel gebracht hatte, schlief er ausgezeichnet.
Erst im Rückblick beschreibt Paulus sich selbst als besonders hartnäckigen Sünder, eben weil er keine Sünden des Fleisches vorzuweisen hatte, sondern gerade mit den besten Absichten sich um so entschiedener gegen Gott gestellt hat. Und er sagt: wenn Jesus sogar mich da herausholen konnte, dann wird er das doch wohl bei euch erst recht schaffen. Ihr habt doch bloß gemordet, betrogen, gestohlen, unordentlich gelebt – versteht doch: wenn Jesus sogar einen religiösen Hardliner wie mich rumgekriegt hat, dann können eure Sünden für ihn doch wirklich kein Hindernis sein, und auch für euch gibt es einen Weg.
Aber auch wenn Paulus ein besonders schwerer Fall war, an ihm wird doch Typisches über die Sünde sichtbar: z.B. dass er es in Unwissenheit getan hat. Genauso hat Jesus bei seinem Tod gesagt: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Das war keine Schönrederei, sondern Menschen, die sündigen, wissen normalerweise wirklich nicht, was sie tun – so unglaublich das ist. Entweder machen sie sich nicht klar, was sie tun, oder sie haben irgendeine Entschuldigung, und sei sie noch so erbärmlich.
Bei den Sünden des Geistes ist das sowieso so, aber auch bei den Sünden des Fleisches gibt es genügend Muster, sich zu entschuldigen: Entweder haben die anderen angefangen, oder Menschen handeln in der Überzeugung, dass es für sie keine Alternative gibt: mir blieb nichts anderes übrig, ich musste das tun! Sünde stellt sich immer dar als eine Sache, wo man keine Wahl hat: wenn ich ein bisschen von meinem Leben haben will, dann muss ich das eben tun. Wenn ich so in Bedrängnis bin, dann kann ich nicht anders. Der Reiz war so stark, ich konnte mich nicht wehren.
Als Paulus von Gott umgedreht worden war, da heißt es über ihn: es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Er bekam eine andere Sichtweise. So wie Zachäus die Welt und sich selbst anders sah, als Jesus bei ihm zu Besuch war. Wenn Jesus in unser Leben tritt, dann haben wir eine Alternative. Vorher sagen wir: meine Politik ist die einzig realistische! Hinterher sagen wir: o, es geht tatsächlich anders!
Jesus ist gekommen und rettet Sünder, indem er sie in ein anderes Leben ruft und ihnen einen Weg aus der Sünde heraus ermöglicht. Und Paulus schaut zurück und sagt: was hat Gott nur alles gemacht, wie hat er sich engagiert, bis mir die Augen für diesen neuen Weg aufgegangen sind. Jetzt bin ich sogar sein Apostel. In mir ist Glauben gewachsen, Vertrauen auf Gottes Möglichkeiten, Liebe zu den Menschen. An mir können Menschen ablesen, was bei Gott alles möglich ist. Sogar Menschen, die gar nicht wissen, wo ihre Probleme liegen, sogar Menschen, die denken, sie wären total auf dem richtigen Weg, sogar Menschen, die gar nicht unter ihrer Sünde leiden, noch nicht mal unter den Folgen – sogar da ist Gott nicht machtlos.
Es ist Gottes Barmherzigkeit, dass er uns einen anderen Weg zeigt, damit wir nicht alternativlos ein Unheil nach dem anderen anrichten. Deswegen preist Paulus am Ende Gott, den ewigen König, den, der regiert: Gott hat die Welt so geschaffen, dass wir immer eine Alternative haben. Es gibt keine Situation, in der wir wirklich gezwungen wären, etwas Falsches und Schlechtes zu tun. Und Gott durchbricht die Bindungen, in denen wir gefangen sind und die unsere Augen verblenden, so dass wir diese Alternative nicht sehen.
Die Gemeinde ist deshalb von Gott geplant als eine Umkehrgemeinschaft, wo wir uns gegenseitig helfen, die Möglichkeiten zu sehen, die Gott für unser Leben hat. So wie Paulus mit seinem Neuanfang ein Muster wurde für andere, so sollen wir voneinander und miteinander lernen. Nicht bei allen von uns gibt es so ein deutlich übernatürliches Eingreifen Gottes wie bei Paulus, aber wenn wir uns gegenseitig voranhelfen mit den Worten und der Solidarität und dem Gebet und der Seelsorge, die wir aufbringen können, dann ist das immer noch wunderbar genug.
Natürlich müssen wir das tun, nicht bloß es behaupten. Davon, dass man irgendwo das Schild »Gemeinde Jesu« aufhängt, passiert es noch nicht. Das kommt auch nicht von selbst. Gott nimmt uns das nicht ab – alles dafür zu tun, dass bei uns Menschen für ihr Leben eine praktische Alternative sehen können: dass Annahme und Freundschaft gelebt wird; Wahrheit ausgesprochen wird; dass Abhängigkeiten gebrochen werden, egal ob offen oder versteckt; dass Arme einen Platz im Leben finden und Verfolgte eine Zuflucht; dass niemand Angst haben muss vor Besserwisserei und Verurteilung wenn er ehrlich über sein Leben nachdenkt; dass Menschen mit verwirrtem Geist klarer werden; dass es Menschen gibt, zu denen ich gehen kann und fragen: »war das richtig, was ich da getan habe, oder was wäre besser gewesen?«; dass Menschen nicht mehr hilflos all den Einflüssen gegenüberstehen, denen wir täglich ausgesetzt sind, sondern Urteil und klare Sicht bekommen; ja, dass Menschen von Existenzangst befreit werden ebenso wie von vielen anderen Ängsten, weil sie eine starke Gemeinschaft erleben, die Zugang hat zur Kraft Gottes; – dass da wirklich ein Raum ist, wo Gott zu finden ist mit der Lebensalternative, die er bringt. Was ist vergleichbar mit der Schönheit des Weges, den Gott für unser Leben vorgesehen hat, diese gelebte Alternative, die wir in der Gemeinde Jesu finden sollen.
Das muss im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen, dass dies wirklich passiert. Überall erleben die Menschen: es gibt keine Alternative. Dir bleibt keine Wahl. Und dann gehen sie auch nicht mehr zum Wählen, aber das ist keine Lösung. Sondern sie müssen diese gelebte Alternative finden, die Jesus in die Welt gebracht hat. Niemand außer uns weiß, dass es das gibt.
Gottes Kerngeschäft ist es, Sünder zu retten aus ihrem Glauben, es gäbe keine Alternative. Und in diesem Geschäft will Gott uns als Geschäftspartner, die sein Engagement teilen.
Sünde macht Menschen schwach. Das erste, wofür Paulus dankt, ist, dass Gott ihn stark gemacht hat und ihm seine Aufgabe gegeben hat, seine Berufung. Er war auf einem schlimmen Irrweg, und Jesus hat aus ihm einen Apostel gemacht. Je schlimmer bei uns die Dinge stehen, um so mehr Gnade, Energie und Fantasie wird Gott aufbieten, um auch aus dem Schlimmsten etwas sehr Gutes zu machen. Paulus ist ein Muster dafür, damit wir sehen, was Gott kann, und dann mit aller Energie dafür den Weg frei machen.