Wintereinbruch
Predigt im Besonderen Gottesdienst am 11. November 2012 zu 1. Thessalonicher 5,2-6
Der Gottesdienst begann mit einer Theaterszene, in der ein Mädchen völlig unerwartet erfährt, dass sein Vater versetzt wird und sie ins Ausland umziehen müssen. In der anschließenden Begrüßung hieß es:
Am Titel »Wintereinbruch« ist zugegebenermaßen auch das kalte Wetter im Oktober schuld gewesen. Aber gemeint ist damit natürlich nicht ein meteorologisches Phänomen, sondern es ist ein Bild dafür, dass uns manchmal völlig unerwartet Ereignisse überfallen, die die Welt kalt und dunkel machen.
So wie eben gerade die Anne von einem Moment zum anderen sich mit dem Gedanken vertraut machen musste, ihr Zuhause und ihre Freunde zu verlieren. Und sie tut das, was wir meistens in so einem Moment tun – sie sagt: das kann gar nicht sein, das ist unmöglich. Ich mache weiter wie bisher. Ich nehme das gar nicht zur Kenntnis.
Als Lesung war im weiteren Verlauf des Gottesdienstes Matthäus 14,22-33 zu hören: die Geschichte davon, wie Jesus (und später auch Petrus) auf dem Wasser des heftig aufgewühlten Sees Genezareth geht.
Es muss unter den ersten Christen ein paar Szenarien gegeben haben, von denen sie häufig erzählten, und eins davon geht so: die Jünger im Boot auf dem See Genezareth, Jesus ist weg oder schläft, und dann bricht überraschend ein heftiger Sturm los, der auch die erfahrenen Fischer an die Grenze ihrer Seemannskunst bringt. Und sie schreien nach Hilfe.
Das Interessante ist, dass Jesus dann immer irgendwie da ist, aber gleichzeitig irgendwie auch nicht. Mal schläft er, mal kommt er erst später nach. Einmal tut er so, als wolle er sich gar nicht um die Jünger kümmern. Und genau so erleben wir es ja, wenn uns so ein Wintereinbruch überfällt: Niemand ist da, der etwas ändern kann, wir sind dem Schrecklichen ganz allein ausgesetzt. Und diese Sturmgeschichten arbeiten alle daran, dass wir lernen zu sagen: Moment mal, eigentlich müsste Jesus jetzt hier irgendwo in der Nähe sein. Lass uns mal kräftig rufen.
Diese Sturmgeschichten arbeiten daran, dass wir nicht einfach nur sagen: Wir sind zum Spielball für Gewalten geworden, die größer sind als wir. Ob das nun tatsächlich ein Sturm ist wie Sandy oder eine andere Katastrophe, eine Krankheit, eine gesellschaftliche Krise, ein schrecklicher Unfall, ein Verlust oder ein Abschied, wie wenn die Eltern umziehen und man kann nichts daran ändern.
Die Lösung ist dann aus der Sicht des Neuen Testaments nicht, dass jemand sagt: es ist alles nur ein böser Traum, mach dir keine Sorgen, das wird schon wieder. Sondern man muss dann immer die Geschichte noch einmal neu ansehen und sie so erzählen, dass Jesus mit drin ist. In den Krisen und Brüchen ist Jesus auf verborgene Weise mit dabei. Das ist vielleicht am schwersten zu verstehen, weil wir eigentlich gedacht haben, Jesus ist doch der, der die Leute beruhigt und tröstet.
Stattdessen verschärft er in manchen Geschichten noch den Stress. So eine Geschichte haben wir vorhin in der Lesung (Matthäus 14,22-33) gehört: so richtig mit Schreien fangen die Jünger erst an, als sie Jesus auf dem Wasser gehen sehen. Sie denken: o nein! Ein Monster! Als ob der Sturm allein nicht schon schlimm genug wäre!
Jesus, der über die aufgewühlten Wellen einfach hinwegschreitet, erscheint ihnen wie ein Gespenst. Wir sind so fixiert auf die Übermacht der zerstörerischen Mächte und Gewalten, dass es uns unheimlich wird, wenn einer sich einfach darüber hinwegsetzt. Und als Petrus sich später von Jesus animieren lässt, selbst so eine Art Sturmsurfer zu werden, die wütende Gewalt der Elemente unter seine Füße zu nehmen, da verliert er am Ende doch die Nerven und Jesus muss ihn aus dem Teich ziehen.
Wir kennen uns in diesen Etagen der höheren Macht so schlecht aus, dass es für uns ganz schwer ist, da Freund und Feind zu unterscheiden. So ist das auch in einem anderen Text des Paulus, aus dem ersten Thessalonicherbrief, den ich jetzt gleich vorlese. Auch da zitiert Paulus so etwas wie ein urchristliches Sprichwort, das man häufiger so oder ähnlich in der Bibel findet: Jesus kommt »wie der Dieb in der Nacht«. Also unerwartet, und so, dass man zuerst gar nicht merkt dass er da ist. Auch da muss man erst mal klären, wer Feind ist und wer Freund:
4 Ihr aber, Geschwister, lebt nicht in der Finsternis, und deshalb wird euch jener Tag nicht wie ein Dieb überraschen. 5 Ihr alle seid ja Menschen des Lichts, und euer Leben wird von jenem kommenden Tag bestimmt. Weil wir also nicht zur Nacht gehören und nichts mit der Finsternis zu tun haben, 6 dürfen wir auch nicht schlafen wie die anderen, sondern sollen wach und besonnen sein.
Diese Verse erzählen davon, dass die gleiche Sache Menschen als schrecklich und furchteinflößend erscheinen kann, aber andere warten geradezu darauf. Ist das ein logischer Widerspruch? Nein, wir erleben das immer oft genug: wenn irgendwo ein diktatorisches Regime stürzt, dann ist das für manche ein Alptraum und für andere das Eintreffen einer lange gehegten Hoffnung. Die eine denkt: o nein, ich soll wegziehen und alle meine Freunde verlieren, und jemand anders sagt sich: Endlich komm ich raus aus dem Kaff. In unserer Welt, wie wir sie kennen, ist Stabilität eine zweideutige Sache. Die einen leben damit gut, und die anderen leiden unter der Stabilität ungerechter Verhältnisse.
Bei der Anne vorhin in der Szene war es sicher nicht so, dass andere darunter gelitten hätten, wenn sie weiter in Ilsede bleibt; aber kann es nicht sein, dass sie irgendwann, in fünf Jahren vielleicht, sagt: was für ein Glück, dass meine Eltern damals trotz meines Protests mit mir umgezogen sind! So viele Erfahrungen, die ich damit gemacht habe, in einem anderen Land zu leben! Ich kann mich jetzt in drei Sprachen unterhalten und in zwei anderen wenigstens verständigen. So viele Freunde, die ich inzwischen hier gefunden habe. Was hätte ich alles versäumt, wenn ich mich damals durchgesetzt hätte und da geblieben wäre!
Aber man hätte ihr diesen Schmerz des Abschieds auf keine Weise ersparen können. Und man hätte ihr nicht garantieren können, dass es ihr in Warschau so gut gefallen würde. Manche Dinge muss man am eigenen Leib erfahren, und wenn es gut geht, dann lernt man sie fürs Leben.
Krisen und Veränderungen müssen am Ende nichts Schlimmes sein, auch wenn sie sich zuerst furchtbar anfühlen. Das ist schon bei unseren Alltagserfahrungen so, aber es ist erst so, wenn Jesus ins Spiel kommt. Du denkst: ach du meine Güte, ein Räuber ist im Haus! Und in Wirklichkeit ist es Jesus, der die Welt erneuert. Dieselbe Sache, aber für die einen ist sie ein Horror, und die anderen freuen sich und sagen: endlich! endlich geht diese Zeit der Unterdrückung zu Ende! Endlich kommt Bewegung in die Welt!
Es war auch für die frühen Christen nicht immer einfach, zwischen den zerstörerischen Kräften und Jesus zu unterscheiden. Deswegen haben sie diese Geschichten erzählt, vom Sturm, in dem Jesus auf einmal drin war, aber er hat erstmal den Stress noch erhöht. Oder sie haben sich mit solchen Parolen ermutigt: Jesus kommt wie der Dieb in der Nacht. Hab nicht so viel Angst, der Einbrecher könnte sich als Jesus herausstellen. Und wenn es tatsächlich zu einer kritischen Situation kommt: Jesus ist nicht weit! Er ist wahrscheinlich schon da. Ruf ihn, er wird dich aus dem Teich ziehen.
In den Versen aus dem ersten Thessalonicherbrief spitzt Paulus das zu und sagt: die anderen müssen Angst haben, wir nicht! Wir sind die, die mit Krisen und Gefahren umgehen können. Wir leben sowieso dauernd mit dem Gedanken, dass Jesus kommt und die Ordnung der ganzen Welt umstürzt, da werden wir uns doch von ein paar Terroristen oder einer Wirtschaftskrise nicht ins Bockshorn jagen lassen. Die anderen reden sich die Situation schön und wiegen sich in Sicherheit, und wenn es dann kracht, dann wachen sie auf und wissen nicht, was zu tun ist. Wir sind wach. Wir sind vorbereitet. Wir sind die, die auf den Wellen des Orkans surfen – jedenfalls so lange, bis wir Jesus aus dem Blick verlieren und dann auch im Teich liegen.
Es gibt aber noch ein Problem. Alle Krisen, auch wenn sie Befreiungen sind, auch wenn sie einer bedrückenden Stabilität ein Ende machen, richten Zerstörung an, sie sorgen für Leid und Schmerz. Und manche Krisen, mache Abschiede und Verluste sind einfach nur zerstörerisch. Sie hinterlassen verwundete, verstörte Menschen, für die nichts besser geworden ist. Und auch aus dem zeitlichen Abstand sieht es nicht anders aus.
Deswegen hat Paulus in den Versen vorher davon gesprochen, dass die Toten auferstehen werden. Der Tod ist ja die entscheidende Krise allen Lebens, und die christliche Urerfahrung war: in dieser Krise ist Gott nicht am Ende. Als Jesus starb, hat er ihn auferweckt. Und er wird weitermachen, bis er die ganze Welt aus den Klauen des Todes befreit hat, und er wird allen Schmerz ausgleichen, er wird alle Tränen abwischen.
Weil wir von Gott erwarten, dass er die Zerstörungen, Schmerzen und Brüche heilt, die in dieser schlimmen Welt geschehen, deshalb haben wir die Hände frei, um das zu tun, was wir jetzt können. Wir können Realisten sein, wir müssen uns nichts schön reden, wir fallen nicht herein auf die Parolen von Frieden und Sicherheit, wir wissen, dass es in Wirklichkeit noch schlimmer ist, aber deswegen überrascht uns nichts mehr, oder jedenfalls nicht lange, und wir können jetzt schon mitten im Sturm ruhig bleiben, wir können Wunden heilen und Menschen einen Schutzraum bieten. Wir können auch in kritischen Momenten Freund und Feind auseinander halten, jedenfalls nach dem ersten Augenblick des Erschreckens, der auch uns nicht erspart bleibt.
Dazu werden diese Geschichten erzählt, damit wir an ihnen üben, die Wirklichkeit zu entziffern. Wir sollen durch die Erfahrungen der Jünger Jesu vorbereitet sein auf die Stürme, wenn sie kommen, und wir sollen vor allem sofort anfangen, nach Jesus Ausschau zu halten. Er ist in den Stürmen mit dabei, manchmal sorgt er sogar dafür, dass wir in sie hineingeraten. Egal, was er tut, wir sollen ihn wiedererkennen, wir sollen lernen, Freund und Feind auseinander zu halten.