In Verantwortung für ein Netzwerk der Hoffnung
Predigt am 17. Juni 2012, am Tag der Einführung des neuen Kirchenvorstandes, zwei Tage nach dem Mord an vier Kindern in unserer Gemeinde, zu 1. Petrus 3,14c-16a
Das Wichtigste, was wir hier hören, ist, dass eine Gemeinde ein Ort gelebter Hoffnung ist. Nicht nur Einzelne sollen diese Hoffnung mit sich tragen, sondern es geht darum, dass eine ganze Gruppe von Hoffnung erfüllt und geleitet ist. Aber es ist keine Hoffnung, die sich auf die Zukunft konzentriert, sondern es ist eine sehr praktische Hoffnung, die das Leben im Großen und im Kleinen erfüllt.
Warum redet Petrus gerade von Hoffnung? Hoffnung ist ein elementares Lebensmittel. Ohne Hoffnung gedeiht nichts. Ohne Hoffnung wäre die Menschheit schon längst ausgestorben.
Ich muss mit Ihnen jetzt einen kleinen Umweg gehen, um zu erklären, warum das so ist. Vielleicht haben Sie irgendwann schon mal von den Marshmallows-Untersuchungen gehört, die amerikanische Sozialwissenschaftler angestellt haben. Man hat Kindern einen Marshmallow gegeben (Sie wissen, dieses klebrige, zuckersüße Zeug aus Amerika, das man zur Not auch grillen kann – bei uns wären das wahrscheinlich Schokoküsse), und hat ihnen gesagt: der ist für dich, du darfst ihn sofort essen, aber wenn du wartest und ihn jetzt nicht nimmst, kriegst du nachher zwei.
Und dann hat man die Kinder mit dem Zuckerklops allein gelassen und hat sie heimlich beobachtet. Und auf den Videos sieht man, wie es in den Kindern arbeitet, und die Finger zucken, und sie kämpfen mehr oder weniger heftig mit sich darum, was sie tun sollen. Und die einen greifen am Ende zu und stecken sich das Ding in den Mund, und die anderen entscheiden sich, durchzuhalten, es nicht anzurühren und am Ende zwei davon zu haben.
Und jetzt kommt es: man hat den weiteren Lebensweg dieser Kinder beobachtet. Und es ergab sich ein ganz deutlicher Zusammenhang: Die Kinder, die es geschafft haben, auf die zwei Marshmallows zu warten, die hatten später ein besseres Leben. Sie waren in der Schule besser, sie nahmen seltener Drogen, bekamen weniger ungewollte Kinder, wurden seltener kriminell usw.
Und jetzt ist die Frage: was bedeutet das? Müssen wir den Kindern mehr Disziplin eintrainieren, sie strenger reglementieren? Natürlich ist Disziplin nicht schlecht, aber ich glaube, dass uns dieser Versuch etwas anderes zeigt: nur Hoffnung lässt Leben gut werden.
Denn was ist es anderes als Hoffnung, wenn ein Kind den unmittelbaren Wunsch zurückstellt, damit es am Ende das Doppelte bekommt? Bei der Hoffnung geht es nicht so sehr um eine ferne Zukunft, sondern es ist das praktische Vertrauen, dass der, der sät, auch ernten wird. Hoffnung ist die Zuversicht, dass es sich lohnt, in diese Welt zu investieren. Hoffnung ist das Vertrauen, dass diese Welt nicht chaotisch und zufällig ist, sondern dass man sich trotz aller Verwerfungen auf sie verlassen kann.
Für Kinder kann das bedeuten: 10 Minuten die Finger vom Marshmallow lassen, im Vertrauen darauf, dass die Tante im weißen Kittel zu ihrem Wort steht und am Ende wirklich zwei davon rausrückt. Für Erwachsene kann es heißen: 20 Jahre und länger intensiv für einen heranwachsenden jungen Menschen verantwortlich zu sein, ganz viel vom eigenen Leben zu investieren, im Vertrauen darauf, dass sich das lohnt und Früchte trägt. Das ist praktische Hoffnung.
Die ganze Welt funktioniert nach diesem Hoffnungsprinzip von Saat und Ernte. Du kriegst die wirklich guten Dinge fast immer nur so, dass du etwas investierst – also Lebenszeit einsetzt, Mühe einsetzst, dein Herz mit etwas verbindest, und dann musst du warten, und du weißt noch nicht, ob es so kommt, wie du es dir gedacht hast, aber am Ende sagst du: ja, es hat sich gelohnt. Gut, dass ich es gewagt habe und dabeigeblieben bin.
Deswegen stellen alle schrecklichen, dunklen Ereignisse, auch die in unserem Ort, unsere Hoffnung in Frage: lohnt es sich wirklich, in Menschen zu investieren, wenn sie uns auf einmal genommen werden können? Ist die Welt tatsächlich vertrauenswürdig? Deswegen sind jetzt so viele unter uns verstört und sagen: ich kann das nicht begreifen. Ich glaube, dieser Satz: »ich begreife das nicht«, den wir in diesen Tagen so oft hören, der heißt eigentlich: ich habe mich darauf verlassen, dass die Welt vertrauenswürdig ist – sollte das etwa in Wirklichkeit ein schrecklicher Irrtum sein? Passt das noch zusammen mit meinem täglichen Vertrauen, dass es richtig ist, meine Aufgaben zu erfüllen und den Menschen verbunden zu sein, zu denen ich gehöre? Wenn mitten unter uns solch eine Finsternis lauern kann – kann mir einer sagen, warum es dann trotz allem richtig ist, heute etwas zu investieren für Morgen, heute zu säen für das nächste Jahr, heute einen Bund für ein ganzes Leben zu schließen, heute Kinder zu erziehen für eine Welt, die wir uns noch gar nicht vorstellen können?
Deswegen sollen wir als Gemeinde ein Zeichen der Hoffnung sein, ein Zeichen dafür, dass es richtig ist, Tag für Tag in das Morgen zu investieren. Es soll zu spüren sein, dass man dieser Welt immer noch vertrauen kann, weil sie Gottes Welt ist und er an ihr festhält, und dass Saat und Ernte nicht aufhören werden.
Ein Mensch kann viel ertragen, so lange er Hoffnung hat. Solange er weiß, dass es noch etwas anderes gibt als die Dunkelheit, in die er geraten ist.
Und es ist ja nicht so, dass nur wir Vertrauen und Hoffnung hätten. Aber wenn die Hoffnung so herausgefordert ist wie in diesen Tagen unter uns, dann muss ihr tiefster Grund genannt werden, und das ist die Auferstehung Jesu. Dass selbst einer wie Jesus von den grausamen Mächten zerstört wurde, das war die dunkelste Stunde der Welt, da war alles konzentriert, was es an Bösem gibt. Aber genau in dieser dunkelsten Stunde griff Gott ein und erweckte ihn vom Tode und zeigte, dass er an seinen Geschöpfen festhält und seine Welt nie aufgeben wird. Wäre das nicht passiert, dann wäre mit Jesus auch alle Hoffnung gestorben. Aber jetzt ist seine Auferstehung der innerste Kern aller Hoffnung. Sie ist der Grund, weshalb es richtig ist, dieser Welt zu vertrauen, auch mitten in Wirrnis und Schrecken, wie es Gott sei Dank ja in diesen Tagen viele unter uns tun.
Liebe Freunde, ich bin in diesen traurigen Tagen so vielen Menschen begegnet, die es einfach gut und richtig gemacht haben und geholfen haben, das Chaos zu begrenzen, das da plötzlich unter uns aufgebrochen ist. Die Polizistinnen und Polizisten, die selbst erschüttert waren und dennoch an vorderster Front all dem Fürchterlichen gegenüberstanden. Die später mit viel Freundlichkeit und Feingefühl der Familie beigestanden haben. Die Menschen aus dem Gesundheitswesen, die sich um die Lebenden und die Toten kümmern. Und auch mit den Menschen von den Medien habe ich keine schlechten Erfahrungen gemacht. Ich habe auch andere Dinge aus dem Ort gehört, aber die Medienleute, denen ich begegnet bin, waren respektvoll und fair. Und mehr als einer hat mir hinterher, als die Kamera aus war, gesagt: glauben Sie nicht, dass mir das hier leicht fällt, ich habe auch kleine Kinder, und ich möchte hier niemanden beschädigen.
Und dann alle aus unserem Ort und darüber hinaus, die am Freitagabend hier in der Kirche waren, wo wir entdeckt haben, dass wir zusammengehören in so einem Moment, und doch wohl auch sonst. Und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in vielen unterschiedlichen Zusammenhängen, die dafür sorgen, dass, wenn es nötig ist, die Kirche auch kurzfristig zu einem geschützten Ort der Hoffnung und des Trostes werden kann. Unsere Leute vom Kinder-Bibel-Morgen, die den Kindern gestern Morgen geholfen haben, wieder ein bisschen mehr mit all dem fertig zu werden.
Schlimmes ist unter uns passiert, aber angesichts dieses ganzen Schreckens ist auch ein großes Netzwerk der Hilfe und der Hoffnung sichtbar geworden. Das ist das Licht, das Gott angezündet hat und nicht verstecken wird – wir haben es vorhin im Evangelium (Lukas 8,16-17) gehört. Eine christliche Gemeinde ist ein Knotenpunkt in diesem Netzwerk, und wer im Kirchenvorstand ist, dessen wichtigste Aufgabe ist es, dieses Netzwerk der Hoffnung zu pflegen und wachsen zu lassen. Wir müssen auch über Malerarbeiten und Stühle reden, aber das Ziel von allem ist dieses Gewebe der Hoffnung, das die Welt und so auch unseren Ort durchziehen soll. Dafür sind wir da. Diese Dimension muss unter uns immer präsent sein.
Und das kommt nicht schon dadurch, dass wir »Kirche« heißen und im Turm die Glocken hängen, sondern das muss Stück für Stück gepflanzt, gepflegt und geübt werden. Tag für Tag, über viele Jahre, weil die Menschen schon viel zu oft von großen Sprüchen enttäuscht worden sind und es lange dauert, bis sie einem Laden wie unserem vertrauen. Und auch deswegen, weil wir selbst manches erst wieder entdecken und lernen müssen und das Gold des Evangeliums freilegen unter vielen Schichten von Traditionen und Missverständnissen.
Aber in all diesen vielen Tagen und Jahren muss einigen wenigstens immer klar bleiben, dass es hier um ernste, entscheidende Dinge geht, und manchmal um Leben und Tod. Das vergessen wir zu schnell in den unaufgeregten, scheinbar normalen Tagen. Aber wie in den normalen Tagen auch das Unglück ganz unauffällig in der Nachbarschaft heranwächst, so sollen wir in vielen normalen Tagen am Netzwerk der Hoffnung arbeiten, damit es da ist, wenn es gebraucht wird. Es geht auch in den unauffälligen Tagen immer um die ernsten, entscheidenden Dinge. Weil die Welt nämlich wirklich ein bedrohter und missbrauchter Ort ist.
Wir haben das beim Kirchenasyl 2002 – 2008 erlebt, und in diesen Tagen wird es wieder vielen unter uns deutlich. Hoffnung braucht man für die großen und die kleinen Dinge; man braucht sie schon angesichts eines Marshmallows, und man braucht sie noch viel mehr angesichts von vier toten Kindern und weit darüber hinaus. Es ist immer die gleiche Hoffnung, nur die Herausforderungen und die Tage sind unterschiedlich.
Und deshalb machen wir auch in Tagen des Erschreckens im Prinzip nichts anderes als das, was wir jeden Sonntag tun: uns neu festmachen in Gottes Treue zur Welt, die in Jesus konzentriert ist. Wir üben uns darin ein, uns mit Jesus zu verbinden. Wir erinnern uns an die große Geschichte, in die Gott uns hineingestellt hat.
Deswegen ist die Mitte des Netzwerkes der Hoffnung das Abendmahl. In ihm ist die Geschichte Jesu konzentriert zusammengefasst: sein Leben, sein Tod und Gottes Tat der Auferweckung. Wer im Kirchenvorstand ist, der muss verstehen, dass nichts so wichtig ist wie eine Gemeinschaft, die davon geprägt und belebt ist.
Es liegt eine tiefe Bedeutung darin, dass wir gerade jetzt, in diesen wahrlich nicht normalen Tagen, euch als neuen Kirchenvorstand einführen. Das erinnert uns daran: Es müssen Menschen da sein, die auch in den normalen Tagen schon arbeiten für die anderen Tage, die nicht ausbleiben werden.
Das tun wir nicht nur im Kirchenvorstand. Das tut de facto auch jeder, der zum Gottesdienst und in eine Gruppe kommt. Das tut de facto jeder, der mitdenkt, mit hilft, wer spendet, wer sein Kind zum Konfirmandenunterricht bringt, wer mit betet und sich mit verantwortlich macht. Aber dass dieses ganze Netzwerk lebendig bleibt und wächst und unter Bedrohungen standhalten kann, daran wollen wir auf jeden Fall im Kirchenvorstand in den nächsten sechs Jahre arbeiten.
Möge Gott uns dafür Einsicht und Solidarität geben.
„Weil die Welt nämlich wirklich ein bedrohter und missbrauchter Ort ist.“ Ja.