Glaubt nicht alles, was ihr denkt!
Predigt am 3. März 2024 zu 1. Petrus 1,13-21
13 Deshalb umgürtet die Lenden eures Verstandes! Seid nüchtern und setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade, die euch bei der Offenbarung Jesu Christi geschenkt wird! 14 Als Kinder des Gehorsams lasst euch nicht von der Gier prägen, wie früher in eurer Unwissenheit! 15 Sondern wie er, der euch berufen hat, heilig ist, so sollt auch ihr in eurer ganzen Lebenspraxis heilig werden. 16 Denn es steht geschrieben: Seid heilig, weil ich heilig bin!
17 Und wenn ihr den als Vater anruft, der jeden ohne Ansehen der Person nach seinem Tun beurteilt, dann führt auch, solange ihr in der Fremde seid, ein Leben in Gottesfurcht! 18 Ihr wisst, dass ihr aus eurer hohlen, von den Vätern ererbten Lebensweise nicht um einen vergänglichen Preis losgekauft wurdet, nicht um Silber oder Gold, 19 sondern mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel. 20 Er war schon vor Grundlegung der Welt dazu ausersehen und euretwegen ist er am Ende der Zeiten erschienen. 21 Durch ihn seid ihr zum Glauben an Gott gekommen, der ihn von den Toten auferweckt und ihm die Herrlichkeit gegeben hat, sodass ihr an Gott glauben und auf ihn hoffen könnt.
Jesus kommt – deshalb gebraucht euren Kopf!
Das ist die Botschaft, wenn man diese Verse auf einen knackigen kurzen Punkt bringen will. Diese Botschaft erreicht uns aber in Worten, die es uns schwer machen, sie so klar und einfach auf den Punkt zu bringen. Die Menschen haben eben vor 2000 Jahren auf eine andere Art gedacht und gesprochen als wir. Ich habe schon versucht, das in der Übersetzung in unsere Gedankenwelt hinüberzuholen. Aber das ist nicht einfach, weil die Kirche diese Botschaft im Lauf der Zeit so verharmlost hat, dass wir gar nicht mehr verstehen, was für Kracher da drinstecken.
Weg mit den Hindernissen
Fangen wir also an: am Anfang heißt es »umgürtet die Lenden eures Verstandes«! Klingt jetzt merkwürdig, aber man muss wissen, dass die Leute ja früher so lange Gewänder trugen, die fast bis zum Boden reichten, und wenn man zum Beispiel ein Loch schaufeln will, dann waren die natürlich im Weg. Also hat man die hochgekrempelt und im Gürtel festgesteckt, so dass eine Art Minirock draus wurde, der einen nicht mehr bei der Arbeit behindert.
Und jetzt überträgt Petrus das auf unser Nachdenken und sagt: Weg mit den ganzen eingefahrenen Gedanken und Mustern in euren Köpfen, die euch am klaren Nachdenken hindern! All die Selbstverständlichkeiten, die Denktabus, mit denen Menschen sich in der Welt orientieren, die müssen alle auf den Prüfstand. Glaubt nicht alles, was ihr denkt! Ihr seid von eurer Gesellschaft geprägt, damals war das die antike Sklavenhaltergesellschaft, heute ist es die kapitalistische Gierstruktur, und die hat sich so in euren Köpfen festgesetzt, dass ihr es für völlig natürlich und normal haltet. Aber nein, »gürtet die Lenden eures Verstandes«, macht euch frei von den Denkmustern, die ihr mit der Muttermilch aufgesogen habt und die euch die Realität vernebeln! Denkt mal wirklich nach!
Vor ein paar Jahren hat Opel so einen Slogan erfunden »Umparken im Kopf«, vielleicht erinnert sich noch wer, und sie wollten damit sagen: wir sind ganz anders, als ihr denkt, wir wollen nicht mehr diese brave Auto-Durchschnittsmarke sein, von der es früher hieß »Jeder Popel fährt Opel«, nein, sondern wir sind ganz anders! Wild und frei; oder wie auch immer. Ich weiß nicht, wer ihnen das erfunden hat, aber das ist genau das, worum es im Christentum geht: Umparken im Kopf! Glaubt nicht alles, was ihr denkt!
Misshandelte Begriffe
Das geht natürlich nicht von heute auf morgen, man kann nicht mit einem Mal sein ganzes Gehirn auswechseln, aber um diesen Prozess geht es, wenn in der Bibel von »heilig sein« gesprochen wird. Auch »heilig« ist so ein Wort, das schrecklich misshandelt worden ist. Man stellt sich dabei so durchgeistigte Leute vor, die eine runde Leuchtscheibe um den Kopf haben und ein paar Zentimeter über dem Erdboden schweben. Aber in Wirklichkeit sind das Menschen, denen man dieses Umparken im Kopf schon deutlich abspüren kann. Meistens hat Gott sie dazu für eine Weile aus dem Verkehr gezogen, sie lebten in der Wüste oder waren im Gefängnis oder waren krank; Franz von Assisi hat irgendwo im einsamen Wald eine verfallene kleine Kapelle wieder aufgebaut. Bei uns war die Corona-Pandemie so eine Chance, wo Gott uns alle aus dem gewohnten Leben und Denken rausgeschmissen hat, und manche haben die Chance zum Neudenken auch ergriffen. Andere können es gar nicht erwarten, dass alles wieder „normal“ ist.
»Heilig« heißt in der Bibel: anders sein, die Welt realistisch sehen, von Gott her denken und z.B. nicht glauben, wir hätten ein Anrecht auf dieses relativ komfortable und sichere Leben, das wir im Vergleich zum Rest der Welt immer noch haben. Ich mache es mal an einem Beispiel, weil man in einer Predigt ja nicht komplett beschreiben kann, was christliche Lebenspraxis heißt. Wenn ich das versuche, dann sitzt ihr am nächsten Sonntag noch hier.
Ein Programm für die neue Welt
Also, was würde es bedeuten, wenn wir z.B. die Sicht der Bibel übernehmen, dass niemandem ein Stück Land wirklich gehört? Gott sagt ja: mir gehört das Land, und ihr seid meine Gäste, ihr seid Ausländer und Flüchtlinge, aber ich war so nett, euch Asyl zu geben und euch auf meinem Territorium leben zu lassen. Stellt euch mal vor, wie das die Diskussionslage in der unsäglichen Asyl- und Migrationsdebatte in diesem Sommer verändert hätte, wenn auch nur in den Köpfen der Christen diese biblischen Gedanken dringesteckt hätten! Was das für ein Umparken im Kopf wäre, sich klarzumachen: auch ein Volk kann mit dem Land, auf dem es lebt, nicht nach Belieben verfahren. Und wenn Gott uns Leute schickt, die auf der Flucht ihre Heimat verlassen haben, dann müssen wir zusammenrücken und eine Lösung finden, wie wir das hinkriegen.
Ich deute an dieser einen Stelle nur an, was konkret gemeint ist mit dem »Gürten der Lenden eures Verstandes« und mit dem »heilig sein«. Da steckt Dynamit drin. Das sind nicht irgendwelche verstaubten frommen Phrasen, sondern ein Programm für eine neue Welt, die da in unseren Köpfen und Herzen und Gemeinden heranwachsen soll. »Neue Schöpfung« nennt Paulus das.
Werdet besser als eure Väter!
Und wenn wir dann »Kinder des Gehorsams« genannt werden, dann ist damit eben nicht gemeint, dass wir brav und harmlos uns von jeder angeblichen Autorität sagen lassen sollen, was wir zu tun haben. Es geht um Gehorsam gegen Gott, und das ist was völlig anderes. Ein paar Verse weiter schreibt Petrus von der hohlen, sinnlosen Lebenspraxis der Väter, aus der die Christen dank Jesus rausgebrochen worden sind. Und das schreibt er in einer Zeit, wo alle in tiefer Ehrfurcht vor den Vätern und Vorfahren erschauerten, vor den toten wie vor den lebenden. In jedem Haus gab es den Hausaltar, wo die Fotos von Opa und Uropa und Ur-Uropa und so weiter hingen, und morgens nach dem Aufstehen hat man denen eine Kerze angezündet, und beim Essen bekamen sie auch einen Schluck Wein hingegossen, als Zeichen, dass sie immer noch dazu gehörten, und der jeweils aktuelle Vater wusste: irgendwann hänge ich auch da.
Aber dann schreibt Petrus: hört endlich auf, in Ehrfurcht zu erstarren in dieser sinnlosen Orientierung an den Vorfahren und ihren Traditionen! Gehorsam gegen Gott macht ungehorsam gegen über den Traditionen der Väter und auch ungehorsam gegenüber dem, was »das Dorf« sagt, oder wer auch immer mir etwas sagen will. Das ist leeres Blabla, heiße Luft, eine bombastische Fassade und nichts dahinter. Macht euch davon frei, übernehmt nicht die Traditionen und Neurosen eurer Väter, aber die der Mütter bitte auch nicht! Jesus ist dafür gestorben, dass ihr darauf nicht mehr reinfallt. Dank Jesus können wir einen gesunden Abstand gewinnen zu unserem ganzen scheinheiligen Erbe.
Und ganz ähnlich sind auch die Millionen Juden im Holocaust unter anderem dafür gestorben, dass wir verstehen, wie zerstörerisch speziell unsere deutschen Ängste und Neurosen sind. Gott sorgt immer mal wieder dafür, dass wir auf die tödlichen Konsequenzen unserer gottlosen Traditionen gestoßen werden. Und er hofft, dass uns das wenigstens ein Anstoß wird, unseren Kopf zu gebrauchen, um aus dieser zerstörerischen Traditionslinie auszubrechen. Gott ist euer Vater, sagt Petrus, und deshalb könnt ihr was Besseres mit eurem Leben machen als eure Ahnen. Die goldene Zeit liegt nicht in der Vergangenheit; sie liegt vor euch, ihr geht auf sie zu, auf die Zeit, wenn Jesus die ganze Welt erneuert. Und diese Erneuerung soll anfangen in euren Köpfen, Herzen und Gemeinden, weil man das allein nicht schafft, sondern nur gemeinsam. Wir brauchen Inseln des Neuen und Heilen in einer Welt, die in ihren kaputten Denkmustern gefangen ist.
Auch die Moderne ist schon Tradition
Jetzt muss man natürlich sagen, dass wir heute in einer etwas anderen Welt leben. Bei uns sind die Väter und die alten Traditionen längst nicht mehr so wichtig wie in der Zeit der ersten Christen. Viele wollen heute »modern« sein und mit der Zeit gehen. Nicht das Alte ist gut, sondern alles Neue. Und wenn einer sich nostalgisch nach der guten alten Zeit zurücksehnt, dann liegt die in der Regel nicht viel länger als 50 oder maximal 100 Jahre zurück, und auch damals wollten die Leute schon modern sein. Wir sind heute schon aus Tradition »modern«. Speziell in der Kirche glauben immer noch viele, alles wäre gut, wenn wir doch nur moderner würden und die alten verstaubten Bibelworte weniger wichtig nehmen würden.
Aber in der Bibel geht es nicht um diesen Scheinkonflikt »traditionell gegen modern«. Das ist auch so ein hohles Denkmuster, das wir hinter uns lassen müssen. Es geht um die Frage, ob wir vom lebendigen Gott bewegt sind oder von den toten Götzen. Und die Götzen heute sind auch nicht mehr irgendwelche Standbilder aus Holz oder Stein wie früher, sondern die heißen Sicherheit, Wachstum, Wohlstand, Vergnügen, Freiheit und Schönheit. Seit Jesus müssen die Götzen sich ein scheinbar menschenfreundliches Mäntelchen umhängen. Seit Jesus können sie nicht mehr so einfach Ruhm, Gewalt, Unterdrückung, Reichtum, Macht und Tod verherrlichen. Aber hinter den schönen Worten sind es immer noch die alten Götzen, die Zerstörer des Lebens, die Feinde Gottes, die seine schöne Schöpfung vergiften und verderben wollen. Und sie sind damit ja auch schon ziemlich weit gekommen, trotz all der Verkleidungen, die sie sich zulegen mussten.
Deshalb sagt Petrus: Gebraucht euren Verstand! Lasst euch nicht täuschen von den vielen Verkleidungen, die sich die Feinde des Lebens zugelegt haben. Auch die Nazis behaupten heute, sie würden die Demokratie verteidigen. Deswegen müsst ihr in Jesus Christus verankert sein, weil das klug macht. Wer wirklich eintaucht in Leben, Tod und Auferstehung Jesu, den kann man nicht mehr so schnell an der Nase herumführen.
Ein mutiger Mann
Ich will auch heute noch mal auf Alexej Nawalny zurückkommen, den sie in Russland totgemacht haben, und zu dessen Beerdigung am Freitag so überraschend viele mutige Menschen gekommen sind. Ich habe erst neulich verstanden, dass Nawalny seine Wurzeln in der Bibel hat. Ich zitiere aus seinem Schlusswort bei seinem letzten Prozess:
»Ich bin ein gläubiger Mensch. Bei der Anti-Korruptions-Stiftung und in meinem Umfeld werde ich eher damit aufgezogen, die Leute sind da meist Atheisten, und ich war auch mal einer, sogar ein ziemlich militanter. Aber jetzt bin ich ein gläubiger Mensch, und das hilft mir sehr bei dem, was ich tue. Es macht alles viel, viel einfacher. Ich grüble weniger, ich habe weniger Dilemmas in meinem Leben – denn es gibt da so ein Buch, das mehr oder weniger genau beschreibt, was man in welcher Situation zu tun hat. Es ist natürlich nicht immer einfach, sich daran zu halten, aber ich versuche es im Großen und Ganzen. Und deshalb fällt es mir wohl leichter als vielen anderen, in Russland Politik zu machen.«
Und dann beschreibt er, wie sie versuchen, ihn im Gefängnis durch Isolation zu brechen. Keiner redet mit ihm. Er soll sich einsam fühlen. Und er fährt fort:
»Aber das wirkt bei mir nicht. Und ich kann sagen, warum. Dieses “Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden” – das mag ja exotisch oder komisch klingen, aber in Wirklichkeit ist das aktuell die bedeutendste politische Idee in Russland.«
Wir leben hier in Deutschland in ziemlicher Sicherheit und können nur ahnen, warum in solchen Sätzen aus der Bergpredigt Kraft liegt, die Menschen auch in Putins Kerkern Freiheit und Trost schenkt – weil da nämlich Auferstehungskraft drinsteckt. Unsere Lage ist anders. Aber wir sollen genauso lernen, hinter die hohlen Fassaden zu sehen, seien sie modern oder traditionell. Das ist auch nicht einfach. Und es braucht Zeit und Kraft und unsere Priorität. Wir sollen dafür ebenso viel investieren, wie es Nawalny und andere in ihrem Land getan haben und tun. Darauf kommt es wirklich an im Leben. Es ist letztlich diese Kraft der Auferstehung, die uns aus dem hoffnungslosen Ordnungsgefüge dieser Welt herausbricht, damit wir in uns Platz für die Neue Welt haben, die von Gott her in unsere alte Welt kommt und uns befreit. Befreit auch zur Klugheit und zum realistischen Denken.