Der Same der neuen Welt
Predigt am 21. November 2010 (Ewigkeitssonntag) zu 1. Korinther 15,35-38.42-44a
Nun könnte einer fragen: Wie werden die Toten auferweckt? Was für einen Leib werden sie haben? Was für eine törichte Frage! Auch das, was du säst wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt. Und was du säst, hat nicht die Gestalt, die entstehen wird, sondern es ist ein nacktes Samenkorn, z.B. von Weizen oder von etwas anderem. Gott gibt ihm aber die Gestalt, die er vorgesehen hat, und zwar jedem Samen seine eigene. …
So ist es auch mit der Auferstehung der Toten. Es wird verweslich gesät und unverweslich auferweckt. Es wird armselig gesät und herrlich auferweckt. Es wird schwach gesät und stark auferweckt. Ein irdischer Leib wird gesät und ein geistlicher Leib wird auferweckt.
Unser Leben ist ein Samen. Seine Bedeutung reicht weit über die Jahrzehnte hinaus, die wir auf der Erde verbringen. Alles, was wir hier tun, das bleibt und hat Bedeutung bis in die Ewigkeit. Was wir hier erleben, ist ein Vorspiel, und das eigentliche, große Leben kommt erst noch. Aber das heißt nicht, dass deshalb unser gegenwärtiges Leben zu vernachlässigen wäre: es ist ja gerade der Same und deshalb einmalig und unersetzbar.
Deshalb kommen wir heute zusammen und nennen die Namen derer, von denen wir uns im vergangenen Jahr verabschiedet haben. Sie sind nicht die Vergangenheit, an die wir uns mit Trauer erinnern, bis sie dann immer blasser wird und eines Tages fast ganz aus dem Gedächtnis der Menschen entschwunden ist. Nein, sie leben nun schon ihrer Zukunft entgegen und sind uns vorangegangen. Ihr Leben war der Samen, und jetzt hat es begonnen, sich zu entfalten zu dem Ziel, das es schon immer gehabt hat.
Gott hat es so eingerichtet, dass wir ihn zuerst in einem ganz normalen irdischen Leben kennen und lieben lernen sollen. Dazu hat er uns diese Zeit gegeben. Gott möchte, dass wir ihn kennen und verstehen, schon lange bevor wir ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten, dann, wenn unsere Jahre hier auf der Erde vorbei sind.
Verstehen Sie, Gott möchte nicht um seiner Größe und Macht willen geliebt werden, sondern um seines Herzens willen, um seines Charakters willen, einfach dafür, wie er wirklich ist. Deshalb will er uns in einem ganz normalen Leben begegnen und konfrontiert uns nicht mit seiner direkten und überwältigenden Gegenwart. Nur hin und wieder zeigt er uns ein bisschen davon, wie groß seine Macht in Wirklichkeit ist. Aber nicht zu viel, weil er uns nicht bestechen will. Er will nicht Menschen, die sich seiner Macht beugen, sondern Menschen, die seine Liebe erwidern.
Sie kennen vielleicht diese ganzen Geschichten von reichen und prominenten Menschen, die es schwer haben, wirkliche Freunde oder auch einen Lebenspartner zu finden. Das ist schon für uns alle nicht einfach, aber wenn man prominent oder reich oder beides ist, dann kommt ja noch die Frage dazu: geht es dem um mich, oder geht es ihm um mein Geld? Will er sich vielleicht einfach nur im Glanz meiner Berühmtheit sonnen oder schlimmstenfalls hinterher ein Buch über mich schreiben? Und dann gibt es die Geschichten, wie eine Berühmtheit sich als ganz normaler Mensch verkleidet und so die wahre Liebe findet.
Es ist verrückt, aber im Prinzip hat Gott das gleiche Problem. Natürlich hätten wir alle gern die besten Beziehungen zum Schöpfer und Lenker des Weltalls, damit er uns alle unsere Wünsche erfüllt und uns alle Probleme aus dem Weg räumt. Aber das ist natürlich noch keine Liebe zu Gott und seiner Person, sondern das sind noch sehr selbstsüchtige Wünsche.
Deshalb hat Gott beschlossen, uns mitten in einem alltäglichen Leben auf der Erde zu begegnen. Deshalb ist er Mensch geworden: so können wir ihn verstehen und werden trotzdem nicht von ihm überwältigt. Wer hinschaut, der merkt, wie das Leben Jesu randvoll gefüllt ist mit Gottes Gegenwart, Vollmacht und Kraft – und doch ist niemand gezwungen, das zu sehen. Aber das ist der wirkliche Sinn unseres Lebens hier: dass wir in dieser Zeit Bekanntschaft machen mit dem wahren und lebendigen Gott, damit auch unser Leben zu einem Samen wird, aus dem Gottes neue Welt emporwächst.
Das gibt dem menschlichen Leben seine einmalige Würde: dass es noch einmal neu geboren werden soll, dass es eine Bestimmung hat, die weit über das hinausgeht, was wir jetzt sehen. So viele Zeiten des Lebens werden unscheinbar gelebt, mühsam, unter Schmerzen, auch in Verwirrung und Streit. Paulus sagt: in Armseligkeit. Wer einen Menschen auf dem letzten Abschnitt seines Lebensweges begleitet hat, der hat oft miterlebt, wie wenig am Ende übrig bleibt von dem, was ein Mensch in seiner Kraft einmal gewesen ist. Ja, das gehört wirklich zu unserem Leben dazu, manchmal auch gerade zum letzten Teil des Lebens. Da ist so vieles schwach, vorläufig und traurig.
Und trotzdem ist kein Tag dieses Lebens umsonst oder überflüssig, weil es von der ersten bis zur letzten Minute dazu bestimmt ist, ein Same zu sein, aus dem etwas Größeres und Besseres wächst. Und manchmal können wir das wirklich sehen, wie da in einem Menschenherzen in Schwäche und Angst doch etwas Neues geboren wird, ein Durchbruch geschieht, der noch gefehlt hat, eine Schwelle überwunden wird, vor der einer sein Leben lang zurückgeschreckt ist; aber durch Gottes Gnade schafft er es noch ganz zuletzt.
Und wenn wir dann miteinander über einen Menschen nachdenken, der an sein Ende gekommen ist, dann schauen wir danach: was wird jetzt bleiben? Wo ist da Same, aus dem etwas wachsen soll, das Bestand hat in Gottes neuer Welt? Natürlich gibt es viele Dinge über einen Menschen zu sagen, der uns verlassen hat. Aber was uns tatsächlich froh machen kann, auch im Moment des Abschieds, das sind die Dinge, die wirklich bleiben werden, weil es Bausteine sind für Gottes neue Welt. Und es ist gut, wenn man davon etwas ahnen kann, auch wenn unser Urteil da immer sehr begrenzt und vorläufig ist. Es ist gut, wenn man hier und da etwas davon sehen kann, wie Gott seinen Weg mit uns geht und wie ein Mensch sich nicht sträubt und sperrt, sondern sich Gottes Begleitung und Führung gefallen lässt.
Wenn wir uns von einem Menschen verabschieden, dann schauen wir aber nicht nur zurück. Wir schauen auch nach vorn zu dem Tag, an dem wir einmal diese ganze Vorläufigkeit hinter uns gelassen haben werden. Dieses Bild vom Samen sagt ja auch: wir werden wirklich verwandelt werden, wir werden ganz anders sein, als wir uns jetzt kennen. An einem Samenkorn kann man ja auch noch nicht ablesen, wie einmal die ganze Pflanze aussehen wird. Es wird etwas Neues beginnen, das wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können. Es wird keine kontinuierliche Entwicklung sein, sondern es muss durch einen Bruch hindurch gehen, durch Sterben hindurch, wie ja auch ein Samenkorn weggeworfen wird: es wird der Erde anvertraut, es stirbt sozusagen, und nur so kann daraus etwas ganz neues und anderes werden. Ein Korn, das nicht dieses Wagnis des Ausgesät-Werdens erlebt, das wird ohne Perspektive vergehen oder verfaulen. Nur durch diesen Bruch hindurch kann es mit dem Korn weitergehen. Und das gilt für uns genauso. Damit wir in Gottes neue Welt kommen, muss die alte für uns zu Ende gehen.
Auferstehung bedeutet ja nicht, dass es irgendwie doch so weitergeht wie vorher. Wenn unser Leben in leicht veränderter Form immer weiterginge, jahrtausendelang oder in alle Ewigkeit – wissen Sie, was das bedeuten würde? Es wäre die Hölle, die reine Hölle. Es ist ja jetzt schon nicht immer leicht, mit uns selbst auszukommen. Von den andern ganz zu schweigen. Viele Menschen sind ja eher unglücklich mit sich selbst. Aber wenn wir uns, so wie wir sind, nun auch noch in alle Ewigkeit ertragen müssten – und die anderen auch! -, das wäre nicht auszudenken. Deswegen ist Gottes neue Welt komplett anders, so neu, dass wir sie uns allerhöchstens in Bildern vorstellen können.
Das heißt, ein bisschen wissen wir doch davon, wie das Auferstehungsleben aussieht, das ewige Leben, wie es auch heißt. Einer lebt ja schon als Auferstandener – Jesus. Und wenn er nach seiner Auferstehung seinen Jüngern gegenüber trat, dann hatten sie es im ersten Moment immer schwer, ihn zu erkennen. Er unterschied sich zu sehr von dem Jesus, den sie mit seinem irdischen Leib gekannt hatten. Und sie hatten ja auch überhaupt nicht erwartet, ihm jemals wieder zu begegnen, und als er dann plötzlich vor ihnen stand, dann dachten sie zuerst, er würde ihnen so begegnen, wie uns eben manchmal Tote noch für einen Augenblick begegnen – aber es ist eine unwirkliche Begegnung, und sie wird immer blasser. Deshalb musste Jesus seine Jünger erst überzeugen: nein, ich bin kein Gespenst, ich habe einen neuen Körper, einen Auferstehungsleib, und deshalb war das Grab leer, als ihr mich dort suchtet. Das Samenkorn ist verschwunden, weil aus ihm etwas Neues geworden ist. Aber ich bin es wirklich!
Das bedeutet für uns: Wir werden völlig verwandelt werden, aber wir werden immer noch wir sein, und deshalb nennen wir den Namen eines Menschen und schreiben ihn auf Grabsteine, gar nicht mal so sehr als Erinnerung, sondern als ein Zeichen der Hoffnung und als Ausblick in die Zukunft, die dieser Mensch und wir alle haben. Es wird nichts verlorengehen, es wird alles noch einmal zur Sprache kommen. Gott wird eines Tages danach schauen, ob Jesus in unserem Leben Raum gehabt hat und wo er unser Leben und unsere Taten geprägt hat.
Und all das Jesus-beeinflusste Leben, das er dann findet, dazu wird Gott sagen: ja, damit kann ich etwas anfangen. Das ist ein Same der neuen Welt, der nimmt teil an der Auferstehung meines Sohnes. Da ist etwas, das unterscheidet sich zwar von meiner Herrlichkeit immer noch, wie sich ein kleiner Same von einer großen Pflanze unterscheidet, es war alles ganz vorläufig und schwach und mit vielen Irrtümern behaftet, aber ich erkenne darin die Handschrift von Jesus, und deshalb lasse ich es gelten. Und ich erneuere es so, dass es erkennbar wird als Teil meiner Welt, die ich von Anfang an im Sinn hatte.
Können Sie sich vorstellen, wie froh wir dann sein werden über jede gute, gerechte und mutige Entscheidung, die wir jetzt treffen? Das ist jetzt manchmal bei Menschen so quälend und langwierig, und mit so vielen Ängsten verbunden: was werden die andern sagen? Was kommt da auf mich zu? Kann ich denn neu anfangen und ganz anders leben? Bringt das nicht mein Leben zu sehr durcheinander? Aber im Rückblick werden wir dann sagen: wie gut, dass ich mich damals durchgerungen habe, dass ich dem Ruf gefolgt bin, von dem ich im Herzen wusste, dass er von Gott ist. Wie gut, dass ich damals die richtige Entscheidung getroffen habe, dass ich etwas gewagt habe, dass ich den Schritt getan habe, von dem ich wusste, dass er richtig wahr. Wie schade, dass ich an so vielen andern Punkten nicht den Mut gehabt habe oder mich habe ablenken lassen, wie dumm, dass ich in meiner Zeitplanung andere Prioritäten gesetzt habe, dass ich zu wenig investiert habe an Gedanken und Energie und Fantasie. Aber diese Male, wo ich Jesus festgehalten habe mit meinem ganzen Herzen, mit all meiner Kraft und all meinen Möglichkeiten, wie dankbar und glücklich bin ich jetzt deswegen!
Das ist die Würde und Größe unseres Lebens, dass da ein Same gelegt werden soll, der auch jenseits der Grenzen dieser Welt noch Frucht trägt. Im Blick darauf sollen wir es lieben und mit Sorgfalt führen und es so gut wie möglich leben. Dann wird schon jetzt etwas von dieser Frucht zu sehen sein. Und wir werden schon jetzt Gott kennen und lieben, wenn er uns in Jesus begegnet und uns darauf vorbereitet, in der Welt zu leben, die ganz von ihm geprägt ist und in der Leid und Schwäche vergessen sein werden.