So viele haben ihn gesehen
Predigt am 11. April 2004 (Ostersonntag) zu 1. Korinther 15,1-11
1 Brüder und Schwestern, ich erinnere euch an die Gute Nachricht, die ich euch verkündet habe. Ihr habt sie angenommen; sie ist der Grund, auf dem ihr im Glauben steht. 2 Durch sie werdet ihr gerettet, wenn ihr sie unverfälscht festhaltet – und zwar dem Wortlaut entsprechend, in dem ich sie euch übermittelt habe. Anderenfalls wärt ihr vergeblich zum Glauben gekommen!
3 Ich habe an euch weitergegeben, was ich selbst als Überlieferung empfangen habe, nämlich als erstes und Grundlegendes: Christus ist für unsere Sünden gestorben, wie es in den Heiligen Schriften vorausgesagt war, 4 und wurde begraben. Er ist am dritten Tag vom Tod auferweckt worden, wie es in den Heiligen Schriften vorausgesagt war, 5 und hat sich Petrus gezeigt, danach dem ganzen Kreis der Zwölf. 6 Später sahen ihn über fünfhundert Brüder auf einmal; einige sind inzwischen gestorben, aber die meisten leben noch. 7 Dann erschien er Jakobus und schließlich allen Aposteln.
8 Ganz zuletzt ist er auch mir erschienen, der »Fehlgeburt«. 9 Ich bin der geringste unter den Aposteln, ich verdiene es überhaupt nicht, Apostel zu sein; denn ich habe die Gemeinde Gottes verfolgt. 10 Aber durch Gottes Gnade bin ich es dennoch geworden, und sein gnädiges Eingreifen ist nicht vergeblich gewesen. Ich habe viel mehr für die Gute Nachricht gearbeitet als alle anderen Apostel. Doch nicht mir habe ich das zuzuschreiben – die Gnade Gottes hat durch mich gewirkt. 11 Mit den anderen Aposteln bin ich in dieser Sache völlig einig. Wir alle verkünden die Gute Nachricht genau so, wie ich es gerade angeführt habe, und genau so habt ihr sie auch angenommen.
Dass Jesus auferstanden ist, darüber gibt es eine große Übereinstimmung in der ersten Christenheit und dann natürlich auch im neuen Testament. Das war der Startschuss, die Initialzündung, das einschneidende Erlebnis, das für die Jünger noch einmal alles veränderte. Die Überlieferung, die Paulus hier zitiert, die hat er sich nicht selbst ausgedacht, sondern die hat er in diesem Wortlaut von denen gehört, die selbst dabei waren. Das war höchstwahrscheinlich damals, als er etwa vier Jahre nach Tod und Auferstehung Jesu in Jerusalem war. Damals hat er mit Petrus und Jakobus gesprochen, und wenn die drei zusammen am Tisch saßen, dann saßen da drei Leute, von denen jeder seine eigene Begegnung mit dem auferstandenen Jesus hatte. Höchstwahrscheinlich damals, allerspätestens aber 14 Jahre danach, als Paulus zum zweiten Mal in Jerusalem war, da hat er diese Überlieferung kennen gelernt, dieses Glaubensbekenntnis. Und er sagt den Korinthern: das ist nicht irgendein Text, sondern da ist jede Formulierung gut überlegt, er ist auch nicht von mir, versucht bitte nicht, da noch dran rumzubasteln, da ist nichts mehr dran zu verbessern.
Das heißt, spätestens 18 Jahre nach Tod und Auferstehung Jesu gab es schon eine genau formulierte Zusammenfassung der entscheidenden Ereignisse. Höchstwahrscheinlich gab es die aber schon vier Jahre danach. Mit anderen Worten: das haben die zusammengestellt, als die Erinnerung noch ganz frisch war. Nicht irgendwann, als sich schon keiner mehr genau erinnern konnte. Sondern als die Leute alle noch lebten, und wenn jemand der Meinung gewesen wäre, dass die Formulierung nicht stimmte, dann hätte er es sagen können. Aber das hat niemand behauptet. Und als Paulus fünfundzwanzig Jahren nach der Auferstehung an die Gemeinde in Korinth schreibt, da kann er Ihnen immer noch sagen: wenn ihr es mir nicht glaubt, dann fragt die Leute selber, die es miterlebt haben, die meisten leben ja noch.
Paulus musste so präzise sein, weil er damit rechnen konnte, dass sie in Korinth seine Argumente sehr genau darauf abklopfen würden, ob sie stimmig sind. Es gab in Korinth Leute, die an der Auferstehung zweifelten. Jedenfalls an der kommenden Auferstehung von den Toten. Ob sie auch an der Auferstehung Jesu zweifelten, ist nicht ganz klar. Auf jeden Fall musste Paulus sich seiner Sache sehr sicher sein, wenn er den Korinthern lauter lebende Zeugen nannte.
Was hätten die alles erzählen können? Petrus, der hier mit seinem aramäischen Namen »Kephas« genannt wird, konnte erzählen, wie er zum Grab gelaufen war und es zuerst nur leer angetroffen hatte. Vielleicht hätte er auch gesagt: »also, wenn ich ehrlich sein soll, eigentlich hätten sie mich nicht als ersten in diesem Auferstehungsbericht nennen dürfen. Vor mir waren die Frauen am Grab, und wenn sie mich nicht geholt hätten, dann wäre ich gar nicht hingegangen. Ich wollte mit dem Grab nichts mehr zu tun haben. Ich war an diesem Morgen immer noch wie gelähmt. Dass Jesus tot war, das war so schrecklich – ich wäre vielleicht nach einem Jahr zu seinem Grab gegangen, aber nicht gleich danach. Außerdem – ich hatte ihn im Stich gelassen. Da kam mich nicht drüber weg. Und natürlich hatten wir alle Angst, dass sie am Grab eine Wache aufgestellt hatten. Es war nicht ungefährlich für uns, dort hinzugehen. Die Frauen hatten an dem Morgen mehr Mut als wir andern. Trotzdem haben wir sie nicht in diese Zusammenfassung aufgenommen. Wir wollten ja damit Menschen überzeugen, und bei vielen wäre das Wort von Frauen nicht als glaubwürdige akzeptiert worden. Auch vor Gericht wurde ihre Aussage nicht anerkannt. Da haben wir sie lieber weggelassen.
Und ich habe ja wirklich nicht nur das leere Grab gesehen. Jesus ist mir an diesem Tag tatsächlich selbst begegnet. Mir ganz allein. Das hat mich mehr verändert als die drei Jahre mit Jesus vorher. Oder, besser gesagt: das hat diese drei Jahre endgültig und unumkehrbar gemacht. Und am Abend, als wir alle zusammen waren und ich erzählt hatte, dass ich ihn gesehen hatte, da kam er noch einmal. Zu uns allen.«
An dieser Stelle hätten vielleicht die anderen weitererzählt. Sie hätten beschrieben, wie sie an diesem Tag hin und hergerissen waren zwischen dem Gefühl, dass nun alles aus ist, und diesen merkwürdigen und irritierenden Erlebnissen, von denen einige erzählten. Irgend etwas schien nicht zu stimmen, aber was? Ohne dass sie es selbst merkten, begann in ihnen ganz vorsichtig so etwas wie Hoffnung zu wachsen. Und dann dieser Moment, in dem mehr passierte, als sie sich jemals erträumt hätten: der Moment, in dem Jesus einfach unter sie trat. »Wir hatten die Türen verrammelt, das gab uns wenigstens ein bisschen das Gefühl von Sicherheit. Und trotzdem war Jesus auf einmal da, plötzlich stand er zwischen uns. Und er sagte ‚Schalom‘ zum Zeichen dafür, dass alles wieder gut war. Aber für uns war es ein Schock. Sogar noch nach dem, was Petrus erzählt hatte. Wir brachten einfach kein Wort heraus.. Als Jesus merkte, dass wir uns nicht sicher waren, ob er real war, da zeigte er uns seine verwundeten Hände und Füße. Und schließlich fing er an zu essen. Geister essen nicht, und Halluzinationen auch nicht. Der Fisch war hinterher wirklich verschwunden.« Und sie hätten erzählt, wie seine wohltuende Gegenwart immer stärker auf sie wirkte und der Schock einer unbändigen Freude wich.
Vielleicht hätten ja auch Kleopas und sein Freund davon erzählt, wie sie sich eigentlich schon von Jesus und der Gruppe der Jünger verabschiedet hatten. »Für mich war sofort klar: wenn Jesus tot ist, dann hat das alles keine Zukunft mehr. Dann sind wir in Jerusalem für nichts und wieder nichts in großer Gefahr. Also haben wir unsere Sachen gepackt und sind sofort aufgebrochen nach Hause. Gleich am Tag nach dem Sabbat, als man wieder reisen durfte. Leicht ist es uns nicht gefallen. Ich weiß noch, wie wir das Stadttor passierten. Einerseits waren wir froh, dass wir endlich raus waren aus Jerusalem. Aber ich weiß noch, wie ich gesagt habe: ‚hinter uns liegt die beste Zeit unseres Lebens. Glaubst du, dass jetzt noch irgend etwas kommen kann was besser ist als diese Zeit mit Jesus?‘ Ich wusste, dass es vernünftig war zu gehen, aber mir fiel jeder Schritt schwer. Und als Jesus dann zu uns stieß, habe ich ihn vor lauter Traurigkeit nicht erkannt. Ich war einfach zu. Ich habe nicht realisiert, dass mein Herz ihn ganz schnell wiedererkannt hat. Ich merkte nur, dass es mir gut tat, mit diesen Mann zu reden. Seine Worte trösteten mich. Deswegen haben wir ihn auch eingeladen, bei uns zu übernachten. Aber als er dann das Brot nahm und es brach, da gingen uns beiden gleichzeitig die Augen auf. Jesus hatte eine besondere Art, das Brot zu brechen. Kein anderer machte das so. Es war bei ihm immer so, als ob Gott selbst einem die tägliche Speise gab, persönlich, nicht nur im übertragenen Sinne. An dieser Art haben wir ihn erkannt. Es war kein Zweifel möglich. Er war es. Und uns war klar, was das bedeutete: sofort zurück nach Jerusalem. Wenn Jesus lebte, dann hatte es wieder einen Sinn, bei den andern in Jerusalem zu sein.«
Die Leute aus Korinth hätten vielleicht auch Jakobus befragen können. Er lebte damals auch noch, er wurde erst einige Jahre später in Jerusalem gesteinigt. Jakobus war der Bruder Jesu. Er gehörte zu denen, die Jesus am längsten kannten – schließlich war er mit ihm aufgewachsen. Aber er war nie ein Anhänger seines Bruders gewesen. »Ich bin ein Mensch,« hätte er vielleicht gesagt, »dem die Tradition sehr wichtig ist. Unsere Familie kann ihren Stammbaum bis zu König David zurückverfolgen. Wir sind nicht reich und spielen auch keine Rolle mehr in der Politik, aber für uns war immer klar, dass wir ernst machen wollten mit Gott. In unserer Familie haben alle Kinder das Gesetz von klein auf gründlich studiert. Ich liebe das Gesetz, und ich habe nie verstanden, weshalb mein großer Bruder mit den Antworten der Schriftgelehrten nicht zufrieden war. Als er dann weggegangen war und wir hörten, dass er ein aufsehenerregender Lehrer wurde, da waren wir alle entsetzt. Mir war gleich klar, dass die Nachbarn uns schief ansehen würden. In Nazareth sieht man das nicht gern, wenn einer neue Sachen aufbringt. Wunder sind ja ganz schön, aber muss man sich deswegen so viel Ärger ins Haus holen? Nein, ich war von den Ambitionen meines Bruders gar nicht begeistert. Einmal haben wir sogar versucht, ihn mit sanfter Gewalt nach Hause zu holen. Zwecklos. Wenn er sich zu etwas entschlossen hatte, dann machte er es auch.
Solange er lebte, hat er mich nicht überzeugt. Aber als er auferstanden war, da ist er zu mir gekommen. Er hätte stolz sagen können: na, was sagst du jetzt? Gib zu, dass ich Recht hatte! Aber er kam ganz ohne Triumph und ohne Besserwisserei. Er zeigte mir, dass ich immer noch einen Platz in seinem Herzen hatte. Und er hat mich überzeugt. Im Rückblick merke ich, dass mein Herz es schon immer richtig fand, was er sagte und tat. Es war mehr der soziale Druck gewesen, der mich auf Distanz hielt. Aber jetzt, wo er auferstanden war, hielten mich diese ganzen Bindungen nicht mehr. Und ich wusste, wo ich hingehörte: nach Jerusalem, in seine Gemeinde.«
Und so hätten sie alle erzählt, einer nach dem andern. Jedem war Jesus genauso begegnet, wie es für ihn richtig wahr. Maria Magdalena, die ihn schon beim ersten Wort erkannte. Thomas, der seine Finger in die Wunden legen wollte, um sich zu überzeugen, dass es wirklich Jesus war. Die fünf Jünger am See Genezareth, denen Jesus Fisch briet, weil sie müde, durchgefroren und hungrig waren. Die ganze Schar der Jüngerinnen und Jünger auf dem Berg. Die Frauen, die zum Friedhof gingen und sich dort den Schock ihres Lebens holten. Und viele andere wahrscheinlich, von denen wir heute nichts mehr wissen, aber Jesus ist zu ihnen gegangen und hat sie überzeugt: ich lebe.
Als letzter hätte sich schließlich Paulus eingereiht. »Bei mir« hätte er vielleicht gesagt, »lag die Sache noch mal anders. Ich war ein besonders harter Brocken. Bei Maria Magdalena hat ein einziges Wort gereicht. Mich musste Jesus ganz massiv stoppen. Er ist mir den Weg getreten, hat mich zu Boden geworfen, hat mich für ein paar Tage aus dem Verkehr gezogen. Ich hatte mich so verrannt in meiner Wut auf die Jesus-Leute. Aber Jesus hat meine Liebe zu Gott, die dahinter eigentlich verborgen war, neu ans Licht geholt. Ich war sein Feind, aber ein Satz von ihm hat mein Leben vom Kopf auf die Füße gestellt. Wenn ich von Gnade rede, dann denke ich daran: dass er mich aus der Sackgasse herausgeholt hat, in die ich mich gebracht hatte. Ja, ich habe ihn gesehen. Er lebt. Und wenn ihr mir nicht glauben wollt, dann lasst euch von andern erzählen, wie ich früher mit der gleichen Energie, mit der ich jetzt für Jesus arbeite, seine Gemeinde zu zerstören versucht habe.«
Ich könnte noch lange fortfahren. Jesus ist vielen erschienen, zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Situationen. So lange, bis sie wirklich überzeugt waren, dass er keine Einbildung war. Bis es ihr Herz erreicht hatte, damit sie es später nicht abtun konnten als merkwürdiges, aber unbedeutendes Erlebnis. Bis sie es nicht nur als Einzelne irgendwie glaubten, sondern bis sie als ganze Gruppe davon überzeugt waren.
Versteht ihr, dass die Auferstehung Jesu einerseits ein wirkliches Geschehen war, keine Einbildung, sondern harte Realität. Und auf der anderen Seiten bedeutete sie für jeden ein ganz persönliches Erlebnis, eine persönliche Begegnung, in der seine ganz eigene Geschichte mit Jesus weiterging. Aber jedesmal stand am Ende verändertes Leben. Eine neues Sicht der Welt. Und die große Freude darüber, dass es weitergeht mit seiner guten und heilsamen Gegenwart. Das Leben siegt. Die Auferstehung gilt der ganzen Welt, aber sie bedeutet für jeden von uns etwas ganz Persönliches. Er wendet sich uns zu, und das wird weitergehen bis ans Ende der Welt und darüber hinaus.