Die Sehnsucht, für die man alles tut
Predigt am 9. Juni 2002 zu 1. Korinther 9,20-23
»Alle, die ihr hungrig und durstig seid, kommt und esst, kommt und trinkt!« Das sagte der Prophet Jesaja – wir haben es vorhin in der Lesung gehört. Und er spricht da von dem Hunger nach der Gegenwart Gottes. Seit die Menschen sich von Gott abwandten und ihre eigenen Wege gingen, spüren sie, dass ihnen etwas fehlt. Es ist, als ob wir seit damals mit einem Vakuum in der Mitte unserer Person leben. Gott hat uns so geschaffen, dass wir in der Mitte unserer Person auf ihn hin orientiert sind. Und wenn uns von ihm abwenden, dann spüren wir einen großen Mangel.
Wir wissen vielleicht wirklich nicht, dass das ein Mangel an Gott ist. Stattdessen spüren Menschen vielleicht Unzufriedenheit. So viele Menschen laufen durch die Welt und gucken die ganze Zeit mürrisch und unzufrieden. Aber sie wissen nicht, was ihnen fehlt. Sie wissen nicht, dass es dieses Defizit ist, dieser Mangel an Gott in ihrem Leben.
Oder haben Sie sich mal gefragt, warum Menschen so leicht reizbar sind, warum sie so schnell beleidigt sind und anfangen zu streiten? Warum Menschen an anderen herumnörgeln und alles besser wissen? Warum Menschen andere so schnell angreifen oder kritisieren? Es gibt viele einzelne Gründe dafür, aber eigentlich immer kann man sagen: wenn sie Gott kennen würden, oder wenn sie mehr von ihm kennen würden, dann hätten sie anderes im Kopf, dann hätten sie größere Souveränität und müssten sich gar nicht so schnell über andere aufregen.
Es gehört zum Menschen, dass er auf Gott hin orientiert ist. So sind wir gebaut. Im Kern unserer Person haben wir ein Vakuum, ein Loch, eine Sehnsucht, ein Defizit, wie auch immer man das bezeichnen will. Da fehlt uns etwas, und wir werden nur heil und ganz, wenn Gott uns ausfüllt im Kern unserer Person. Wir sind so eingerichtet, dass wir noch nicht vollständig sind, wenn wir allein sind mit uns. Wir sind nur vollständig mit jemand anderem zusammen. Man kann sich das klarmachen am Verhältnis von Männern und Frauen, wo der eine ja auch ganz stark das Gegenüber des anderen braucht, und wo wir auch in einer tiefen Schicht unserer Person nicht vollständig sind ohne das Gegenüber des anderen Geschlechts. Das ist ein Bild, an dem wir uns klarmachen können, was es heißt, in unserem Kern auf jemand anders hin orientiert zu sein.
Und noch viel grundlegender, als Männer auf Frauen und Frauen auf Männer hin orientiert sind, noch viel grundlegender sind wir auf Gott hin geschaffen. Ohne ihn sind wir nicht ganz, nicht heil und glücklich. Und das ist nicht eine Sache unserer Entscheidung. Wir können uns wünschen, dass es anders wäre, aber das ändert nichts. Wir sind so eingerichtet. Ein dicker Mercedes kann sich wünschen, lieber ein Tretauto zu sein, aber er bleibt ein Mercedes. So können wir nichts daran ändern, dass wir auf Gott hin geschaffen sind. Wir können uns nur entscheiden, wie wir damit umgehen.
Manche Menschen versuchen ihr Leben lang, dagegen anzukämpfen. Sie verstehen das als schädliche Abhängigkeit und versuchen, sich unabhängig davon zu machen.
Andere akzeptieren das sozusagen zähneknirschend, dass sie an Gott nicht vorbeikommen und dass es ratsam ist, sich mit ihm gutzustellen. Aber das klingt natürlich irgendwie resignativ. Begeisternd ist das nicht. So wie sich eben mancher nach einigen schlechten Erfahrungen auch nur zähneknirschend damit abfindet, dass es Männer und Frauen gibt.
Aber eigentlich wäre es besser, wenn man da mit Freude und aus vollem Herzen Ja sagen würde. Wenn wir das fröhlich bejahen könnten, dass wir im Kern unserer Person Zugang haben zu den Möglichkeiten Gottes, zu seiner Welt und zu seiner Liebe. So wie man es ja hoffentlich auch aus vollem Herzen bejahen kann, dass es Männer und Frauen gibt, die gemeinsam den ganzen Reichtum des menschlichen Lebens miteinander entfalten können. So ist das in Wirklichkeit keine schmerzhafte Abhängigkeit, sondern es ist eine einmalige Auszeichnung, ein unschätzbares Geschenk, dass wir zentral auf den lebendigen Gott ausgerichtet sind und unser Innerstes mit ihm verbunden ist.
Einer, der das verstanden hatte, war Paulus. Der hatte einmal in überwältigender Weise die Gegenwart Gottes erlebt, und das hatte ihn völlig umgekrempelt. Er war schon vorher ein sehr religiöser Mensch gewesen, aber im Rückblick war ihm klar, dass das alles umsonst gewesen wäre, wenn Gott nicht in überwältigender Weise in sein Leben eingetreten wäre. Er hat von da ab sein Leben radikal für Gott gelebt. Er ist durch die ganze Welt gereist und hat überall Menschen gezeigt, wie sie auch Gott finden können. Und das Interessante ist, dass er nie danach gefragt hat: was bekomme ich denn dafür? Wird Gott das auch anerkennen und mir den entsprechenden Lohn geben? Seine Entdeckung war, dass er selbst das meiste davon hatte, wenn er anderen Menschen das Evangelium brachte. Er schreibt:
20 Wenn ich mit Juden zu tun hatte, lebte ich wie ein Jude, um sie für Christus zu gewinnen. Unter ihnen, die von der Befolgung des Gesetzes das Heil erwarten, lebte auch ich nach den Vorschriften des Gesetzes, obwohl ich selbst das Heil nicht mehr vom Gesetz erwarte – und das nur, um sie für Christus zu gewinnen.
21 Wenn ich dagegen mit Menschen zu tun hatte, die nichts vom Gesetz wissen, lebte auch ich nicht nach dem Gesetz, obwohl ich doch vor Gott nicht gesetzlos lebe; ich stehe ja unter dem Gesetz, das Christus gegeben hat – und auch das tat ich, um sie für Christus zu gewinnen.
22 Und wenn ich mit Menschen zu tun hatte, deren Glaube noch schwach war, wurde ich wie sie und machte von meiner Freiheit keinen Gebrauch – nur um sie für Christus zu gewinnen.
Ich stellte mich allen gleich, um überall wenigstens einige zu retten. 23 Das alles tue ich für die Gute Nachricht, das Evangelium, damit ich selbst Anteil bekomme an dem, was es verspricht.
Vielleicht merkt man, wie flexibel dieser Mann war. Der bewegte sich zwischen Kulturen und Mentalitäten hin und her, und überall konnte er sich Menschen verständlich machen. Die großen Städte damals, die waren ja Sammelpunkte für Menschen aus aller Herren Länder, für Soldaten und Händler, für Sklaven und Kunsthandwerker, für einen Haufen von Religionen und magischen Praktiken, für Seeleute und Geschäftemacher, für Einheimische und Leute aus Übersee, es wimmelte von Menschen aus allen Ecken des riesigen römischen Reiches. Und Paulus geht auf alle ein, ohne sich selbst zu verleugnen. Er versucht auf jeden Fall zu verhindern, dass Menschen durch kulturelle Schranken daran gehindert werden, Gott zu finden.
Man muss sich das vorstellen, was für eine Denkarbeit das ist, sich immer wieder auf andere Menschen einzulassen, die richtige Verständigungsebene zu finden und trotzdem nicht nur jedem das zu erzählen, was er hören will. Sich auf die Ängste und Gewohnheiten der Menschen einzulassen, ohne sie selbst zu übernehmen. Die Welt mit den Augen anderer sehen, sich in die Weltanschauung anderer hineinzudenken, und ihnen von ihrer Ausgangsposition her einen Weg zu Gott zu zeigen. Und dabei trotzdem selbst nicht Gott aus den Augen verlieren. Wie oft haben Christen ihre Kultur und ihren Lebensstil verbreitet und so getan, als ob man Gott nur findet, wenn man diesen Lebensstil und diese Kultur übernimmt.
Denn es kostet Kraft, immer wieder die sichere eigene Weltsicht aufgeben und darauf vertrauen, dass Gott auch von einer ganz anderen Ausgangsposition aus Menschen einen Weg zu sich bahnen wird. Das kostet Nachdenken, das kostet Enttäuschung, wenn der erste Versuch danebengeht. Das kann sogar gefährlich sein, wenn Menschen das falsch verstehen und sich wehren. Das ist immer mit Unsicherheit verbunden, wenn man den Graben zu einer anderen Kultur überwindet.
Und dieser Mann, der das alles macht, Paulus, der antwortet auf die Frage »Warum machst du das alles? Warum tust du dir das an? Du hast doch wirklich genug getan, lass doch jetzt die anderen ran.« – da antwortet er: ich wäre blöd, wenn ich das nicht machen würde. Das tue ich für mich. Ich bin es, der den meisten Gewinn davon hat. Ich würde das Evangelium nie so gut verstehen, wenn ich es nicht dauernd übersetzen müsste. Jedes Mal, wenn ich einen Schritt mit Gott tue, lerne ich ihn besser kennen, dann bin ich wieder näher dran.
Liebe Freunde, dieser Mann hat mehr mit Gott erlebt als wir alle, aber er sagt nicht: das reicht jetzt, ich kann es mal etwas langsamer angehen lassen. Er hat immer noch so einen großen Hunger danach, noch mehr von der Liebe und Kraft Gottes zu erfahren, und deshalb wird er sich wieder hineingeben in die Welt mit all ihren Problemen und ihrem Schmutz, in die ganzen Höhen und Tiefen des Lebens, weil er weiß, dass er da Gott finden wird, wenn er beharrlich genug nach ihm ruft. Er weiß, dass ihn das in Gefahren bringt, er weiß, dass er Angst haben wird, dass er schlechte Erfahrung machen wird, er weiß, dass Freunde ihn verlassen werden und Feinde ihn bedrohen werden, aber vor allem weiß er, dass Jesus da sein wird, wenn er auf seinen Spuren zu den Menschen gehen wird, und ihn, Jesus, möchte er nicht verpassen.
Wir alle wünschen uns ein möglichst sicheres Leben. Aber Paulus hat entdeckt, wie Gott sich gerade finden lässt mitten in den Unsicherheiten, mitten in Dingen, die uns auf den Leib rücken und Angst machen. Gerade da stoßen wir auf Gott, wenn wir nach ihm rufen. Und Paulus sagt: wenn Gott an solchen gefährlichen Plätzen zu finden ist, dann will ich da hin.
Versteht ihr, dass man sich so sehr nach der Kraft und Gegenwart Gottes sehnen kann, das man solche gefährlichen Plätze geradezu sucht, um Gott da zu erleben? Das wäre eine Art unverantwortliches geistliches Bungee-Jumping, wenn man das aus Mutwillen täte. Aber Jesus hat uns ja selbst in die Welt geschickt und hat uns versprochen, dass er da sein wird. Und es ist ja auch so, dass man einen Preis bezahlen muss, und jeder, der das aus reiner Abenteuerlust tut, der wird schnell ernüchtert werden.
Aber es gibt einen legitimen Grund, sich solchen Risiken auszusetzen: der Hunger danach, mehr von Gott zu kennen, Dinge mit ihm zu erleben, die man nicht erfährt, wenn man im sicheren Gehäuse bleibt.
Zu lange ist uns dieses Wagnis und diese Herausforderung nicht klar gewesen, und wir haben uns daran gewöhnt, dass wir nur trockene Überreste der Gegenwart Gottes bekommen und haben gedacht, das wäre schon Gott selbst. Aber allmählich verstehen mehr Menschen, dass man bei Gott überwältigende Dinge erlebt, Wunder, Freude, Weisheit, Befreiung.
Der große Hunger, den Gott in uns gelegt hat, er ist wirklich ein Hinweis auf mehr, ein Hinweis darauf, dass Gott für uns noch viel vorbereitet hat, und wir finden es, wenn wir aufbrechen.