Furcht ist nicht in der Liebe
Predigt am 7. Juni 2015 zu 1. Johannes 4,16b-21
16 (b) Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm. 17 Darin ist unter uns die Liebe vollendet, dass wir am Tag des Gerichts Zuversicht haben. Denn wie er, so sind auch wir in dieser Welt. 18 Furcht gibt es in der Liebe nicht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht. Denn die Furcht rechnet mit Strafe(,) und wer sich fürchtet, dessen Liebe ist nicht vollendet. 19 Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.
20 Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht. 21 Und dieses Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben.
Gott ist Liebe – das ist ein vertrauter Vers, irgendwie kennen tun ihn wahrscheinlich viele von uns, immer wieder wird er als Konfirmationsspruch ausgesucht. Ja natürlich ist Gott Liebe, was sollte er sonst sein? Ab und zu fragt einer vielleicht, wie so ein liebevoller Gott schlimme Dinge zulassen kann, und es gibt Leute, die deswegen an Gott irre geworden sind. Aber auch die sind in der Regel der Meinung, dass Gott, sollte es ihn doch geben, ein lieber Gott sein müsste. Was denn sonst?
Lieblose Götter
Als der 1. Johannesbrief geschrieben wurde, war es aber überhaupt nicht selbstverständlich, dass Gott Liebe ist. Die Götter außerhalb des jüdischen und christlichen Bereichs waren alles mögliche, aber nicht liebevoll. Sie waren öfter mal gewalttätig, auch untereinander trugen sie ihre Konflikte mit List und Tücke aus. Der griechische Dichter Homer erzählt, wie im trojanischen Krieg die eine Götterpartei die Griechen und eine andere die Trojaner unterstützte. Zoff im Götterhimmel! Zeus, der oberste Gott, liebte schöne Menschenfrauen, aber das ist nicht die Liebe, von der Johannes schreibt. Heute würde Zeus wahrscheinlich wegen Missbrauchs Schutzbefohlener angezeigt. Die babylonischen Götter, so wird erzählt, schufen Menschen, damit es jemanden gibt, der ihnen die Dreckarbeit abnimmt. Auch das ist kein Zeichen von Liebe.
In so einer Welt ist das eine unglaubliche, eine verrückte Botschaft: Gott ist – ausgerechnet Liebe! Und dann muss man noch hinzusetzen, was Johannes an anderen Stellen des Briefes immer wieder schreibt: es geht um kein schwammiges warmes Gefühl, sondern was Liebe ist, das wird an Jesus sichtbar. Also seine Bergpredigt, seine heilende Ausstrahlung, sein Vertrauen auf den Segen, der in der Welt zu finden ist: das alles beschreibt, wie Gott ist. Die Macht hinter allem; das, was hinter dem Universum steht, auch hinter dem Urknall, wenn es ihn gegeben hat, ist Liebe von der Art, wie wir sie an Jesus sehen. Das ist das Geheimnis der Welt. Die Welt ist nicht neutral, sie wird nicht von ungerührten Naturgesetzen regiert. Sie ist aus Liebe geschaffen, sie ist dafür da, dass dort Liebe stattfindet, und dass sie von Liebe erfüllt ist. Sie hat eine innere Richtung. Und wir selbst sind von Gott ins Leben gerufen, damit wir Liebe empfangen und üben – gemeinsam mit allen Kreaturen.
Eine Gemeinschaft verkörpert Gottes Liebe
Diese Macht hinter allem, die von unserem Wort »Gott« bezeichnet wird, ist natürlich unsichtbar – wer das Universum schafft, kann nicht ein Teil des Universums sein, das ist ja wohl logisch. Aber damit wir trotzdem wissen können, wie Gott ist, hat er es doch geschafft, ein Teil der Welt zu werden, ein Mensch: Jesus. Der verkörpert Gott. Und Jesus hat erst in zweiter Linie Worte über die Liebe hinterlassen. In erster Linie hat er eine Gemeinschaft von Menschen gegründet, die als Kollektiv die Liebe darstellen, so wie Jesus es als Individuum getan hat. Menschen kennen Gott nicht, bis sie einer Gemeinschaft begegnen, die Gottes Liebe verkörpert. Und spätestens das ist auch für uns heute nicht vertraut und selbstverständlich: Menschen, die Gott nicht kennen, sollen einer Gemeinschaft begegnen, die seine Liebe verkörpert? Nicht Einzelnen, sondern einer Gemeinschaft, die von Liebe geprägt ist? Wirklich?
Johannes formuliert das so, dass Menschen in der Liebe »bleiben«. Das heißt, sie haben Anteil an der Bewegung der Liebe Gottes durch die Welt. Und dann bleibt auch Gott in ihnen, d.h., er ist die Energie in ihrer Bewegung. Es gibt einen Gleichklang zwischen Gott und Menschen. Sie ziehen am gleichen Strang, sie arbeiten Hand in Hand am selben Projekt. Die Menschen in der Gemeinschaft Jesu und Gott sind in Solidarität verbunden, und deswegen haben sie keine Angst vor Gott.
Eine extrem erfolgreiche Gemeinschaft – ohne Angst
In anderen Religionen haben die Menschen Angst vor dem Zorn Gottes, vor den Launen der unberechenbaren Götter, die man mit Opfern freundlich stimmen muss, oder sie haben Angst vor dem unberechenbaren, launischen Schicksal. Nur die Christen sagen: warum sollen wir vor Gott Angst haben? Wir sind Freunde, wir arbeiten zusammen, wir haben das gleiche Ziel. Angst vor Gott – wieso? Er ist doch die Energie, die uns bewegt und aus der wir leben!
Und das hat tatsächlich funktioniert. Diese Gemeinschaft, die Jesu gegründet hat, hat die Welt grundlegend verändert. Dass es uns als selbstverständlich erscheint, dass Gott Liebe ist, ist ein Zeichen dafür. Dass unser Grundgesetz in seinem ersten Satz sagt: die Menschenwürde ist unantastbar, darüber hätten römische Kaiser gelacht wie über einen guten Witz. Aber heute kann man das sogar vor Gericht einklagen.
Wir sind gewohnt, eher skeptisch über die real existierende Kirche zu sprechen, viele schämen sich sogar dafür, für die meisten ist sie kein Hoffnungsträger, und da gibt es ja auch Gründe für. Aber zunächst einmal muss man sagen: diese Bewegung von Menschen, die auf Jesus zurückgeht und Gottes Liebe so verkörpern soll, wie es Jesus selbst tat, die ist extrem erfolgreich gewesen. Sie hat drei Jahrhunderte lang dem römischen Imperium widerstanden, dem mächtigsten Reich, das es bis dahin gab. Und sie hat es am Ende überwunden. Sie hat die Entwicklung der Kultur gepusht, sie hat barbarische Völker zivilisiert. Und sie konnte das, weil sie im Einklang mit Gott lebte und auf die Liebe als Fundament der Welt gesetzt hat. Ich könnte stundenlang davon erzählen.
Die fatale Rückkehr der Furcht
Dummerweise ist dann tatsächlich etwas Entscheidendes dazwischen gekommen. Die Furcht vor Gott hat sich wieder eingeschlichen. Irgendwann ist das gekippt, so dass Menschen nicht mehr sagten: wir arbeiten mit Gott zusammen, wir gehen ohne Sorge auf den Tag des Gerichts zu, im Gegenteil, dann sehen wir ihn endlich! Wir sind jetzt ein Herz und eine Seele mit Gott, wieso sollten wir da Angst vor seinem Gericht haben? Wir warten doch darauf, dass Gott endlich Recht spricht und Gerechtigkeit auf der Erde schafft.
Aber irgendwann begannen sie wieder, sich vor Gott zu fürchten, und Furcht ist überhaupt keine gute Motivation, um zu lieben. In der Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus, die wir vorhin als Lesung gehört haben (Lukas 16,19-31), hat Jesus darüber gesprochen: der Reiche schmort in der Hölle, weil er die Flüchtlinge vor seiner Haustür im Mittelmeer absaufen lässt, und er schlägt Abraham vor, er solle doch den armen Lazarus zu seinen Brüdern schicken, damit sie gewarnt sind und nicht auch noch zur Hölle fahren. Der Gedanke dahinter ist: wenn einer von den Toten zurückkäme und persönlich bezeugen und drastisch ausmalen könnte, wie schrecklich es in der Hölle ist, dann können die Menschen gar nicht anders, als nach Gottes Willen leben.
Und immer wieder haben ja Menschen versucht, andere mit der Angst vor der Hölle zu Gott zu bringen. Aber das ist das reiche-Leute-Rezept: halte die Menschen in Furcht, dann tun sie, was sie sollen. Drohe deinen Dienern mit der Peitsche, dann werden sie springen und dir jeden Wunsch von den Augen ablesen. Drohe ihnen mit Hartz IV, und sie werden schlechte Arbeitsverhältnisse und miese Löhne in Kauf nehmen. So denken Leute, die herrschen, und der reiche Mann, von dem Jesus erzählt, scheint ja aus so einem Oberschicht-Clan zu stammen.
Höllenangst schafft keine Liebe
Aber Jesus lässt Abraham antworten: nein, das funktioniert nicht. Man kann nicht Liebe mit Furcht erzwingen. Wenn du dich Gott unterwirfst, weil du Angst vor der Hölle hast, das ist keine Liebe. Damit wirst du keine Verkörperung der Liebe Gottes. Das spezifisch Christliche ist ja gerade, dass wir frei sind von der Gerichts- und Höllenangst. Du kannst nicht Menschen für das Christentum gewinnen, indem du ihnen Angst vor dem Gericht machst. Das ist genau die Heiden-Angst, von der die Leute Jesu frei sind. Furcht ist nicht in der Liebe, jedenfalls nicht in der Liebe, die Jesus verkörpert.
Und ich glaube, da liegt einer der Gründe dafür, dass das Christentum inzwischen einen Teil seiner ursprünglichen Dynamik eingebüßt hat. Die Furcht hat sich wieder eingeschlichen bei den Leuten Jesu. Dieses spontane Gefühl: Gott und wir, wir arbeiten Hand in Hand an einem gemeinsamen Projekt, wir in ihm und er in uns, das wird untergraben, wenn Menschen eigentlich aus Angst vor Gottes Gericht dabei sind.
Zum Glück ist es dann oft so, dass Menschen im Laufe der Zeit entdecken, dass es einfach schön ist, mit Gott zusammen zu sein, und dann wird die Liebe eines Tages ihre wahre Motivation, und sie lassen die Furcht hinter sich. Aber irgendwie werden sie sie doch nicht ganz los, und sie verunreinigt dauerhaft die Liebe, und deshalb kann dann die Christenheit nicht die Verkörperung der Liebe Gottes sein, zu der sie berufen ist.
Martin Luthers Wirkungsgeschichte
Das berühmteste Beispiel dafür ist natürlich Martin Luther: der hat als junger Mann eine Höllenangst vor dem Gericht Gottes gehabt. Die mittelalterliche Kirche hat ja diese Angst bewusst geschürt, damit sie die Leute unter Kontrolle hatte und die bereitwillig zahlten. Und dann hat Luther entdeckt: Gott ist ganz anders! Gott ist an unserer Seite. Er ist gar nicht scharf darauf, dass wir in der Hölle braten. Er ist unser Freund. Und das war so eine Befreiung, da hat Luther sein Leben lang von gezehrt.
Aber er hat dann leider gedacht, jeder andere müsste auch immer erst durch diese Angst hindurch, die er selbst erlebt hat. Und in der Folge haben auch die evangelischen Prediger den Menschen zuerst Angst vor dem Gericht Gottes gemacht, um ihnen anschließend die Vergebung zuzusprechen. Und so ist auch in der evangelischen Kirche immer diese Angst drin geblieben und hat die Liebe verunreinigt. Und dauernd ist die selbstquälerische Frage da: liebe ich auch genug? Falle ich nicht hoffnungslos hinter dem Anspruch Gottes zurück?
Und ganz viele Menschen werden ihres Glaubens nicht 100%ig froh, weil der immer noch mit Furcht kontaminiert ist. Und sie zweifeln: kann das denn sein? Einfach so – nur wir in Gott und Gott in uns? Verharmlosen wir Gott da nicht? Kann man die Furcht einfach so weglassen?
Jesus kann auf Furcht verzichten
Aber in der Liebe, die Jesus verkörpert, ist keine Furcht drin. Gar keine. Diese Liebe hat andere Wurzeln. Die entspringt aus der Begegnung mit der Liebe Gottes, die die ganze Welt bewegt und in der Bewegung Jesu Gestalt annimmt. Und wir müssen da sehr aufpassen, dass sich nicht doch wieder diese Logik des reichen Mannes einschleicht: halte sie in Angst, dann tun sie, was sie sollen.
Aber so tickt Gott nicht. Jesus braucht das nicht, dass er Menschen Angst macht. Die Leute sind zu ihm gekommen, weil er so gut war. Sie sind mit ihm gegangen, weil sie gerne bei ihm waren. Und deshalb haben sich später die Menschen, wenn es gut ging, auch der Gemeinde angeschlossen: weil sie merkten, dass dort die Wahrheit über die Welt und ihr Leben zu Hause war, nämlich die Liebe, und dass es deshalb gut tut, dazu zu gehören.
Hinter allem steht die Liebe. Sie bewegt die Welt. Sie ist in Jesus verkörpert und in seiner Gemeinde, in der er lebt. Wer da dazu gehört, verlernt die Furcht. Die Furcht vor dem schrecklichen richtenden Gott und die Furcht vor allen Menschen, die uns Angst machen wollen.