Es ist noch nicht lange her, da habe ich auf den 11. September 2001 oder die Finanzkrise verwiesen, um zu belegen, dass sich unsere Welt sprunghaft und unvorhersehbar verändert. Für kirchlich Interessierte kamen dann 2010 der Käßmann-Rücktritt und die plötzliche tiefe Krise der katholischen Kirche hinzu. Jetzt gibt es ein neues, spektakuläres Beispiel: Ägypten bzw. die ganze, in Bewegung geratene arabische Welt. Wie üblich: (fast) keiner hat es kommen sehen, keiner ist vorbereitet, keiner weiß, wo es hingehen wird. Aber alle wollen auf einmal mitmischen. Tariq Ramadan, Islamwissenschaftler in Oxford und Enkel des Gründers der Muslimbruderschaft, findet in der Frankfurter Rundschau sehr deutliche Worte für den Umgang mit der ägyptischen Volksbewegung:
Hinter der opportunistischen Rede von Demokratie, Freiheit und Menschenrechte werden kaltblütig die zynischsten Kalküle gemacht. Von Washington bis Tel Aviv, von Kairo bis Damaskus, Sanaa, Algier, Tripolis und Riad gibt es nur eine Sorge: Wie kann man diese Bewegung unter Kontrolle bringen, wie kann man aus ihr Profit ziehen? Denn wer will schon in Ägypten und in der arabischen Welt ernsthaft eine wirkliche, transparente und unabhängige Demokratie? Wer – außer den Völkern und der Zivilgesellschaft – hat denn Interesse daran, dass die Massenproteste ihre Ziele erreichen: Freiheit, ein Leben in Würde, wirkliche Demokratisierung?
Der Eindruck, dass die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz leicht im Interessengewirr der Machteliten unter die Räder kommen könnten, verstärkt sich, wenn man in der FAZ eine Darstellung der zerklüfteten ägyptischen Machtlandschaft liest (Dank an Ingo Zwinkau für den getwitterten Hinweis auf diesen instruktiven Artikel! Unbedingt Lesen!). Die Widersprüche zwischen den ägyptischen Machteliten haben einen Raum geöffnet, in dem sich der Protest entfalten kann. Wenn erst hinter den Kulissen die Reihen wieder geschlossen worden sind, dann könnten die Demonstranten schnell sehr allein dastehen.
Aber was heißt eigentlich allein? Sollten uns nicht jetzt die Augen aufgehen für einen neueren Typ gesellschaftlicher Umwälzung, der sich schon seit einigen Jahrzehnten herausbildet und in unterschiedlichen Kulturen/Systemen ganz unterschiedliche Formen annimmt? Bei dem nur eine Seite (die „pharaonische“ nämlich) Gewalt einsetzt? Und der dann auch ganz unterschiedliche Ausgänge gefunden hat? Stehen die jungen Ägypter nicht in einer Linie mit den Demonstranten vom Platz des Himmlischen Friedens in Peking 1989 und den Volksbewegungen in Osteuropa, die zum Fall der Mauer führten? Müsste man nicht sogar die Linien noch weiter zurückverfolgen bis zum Prager Frühling von 1968?
Jedes Mal eine ähnliche Grundkonstellation: eine unbewegliche Führung aus älteren politbürokratischen Herren, die die Gesellschaft fest unter Kontrolle zu haben scheinen. Über Jahrzehnte scheint sich nichts zu bewegen. Aber auf einmal – keiner hat es vorausgesehen! – passiert das Unglaubliche: das Volk geht massenhaft auf die Straße. Für kurze Zeit entsteht ein neuer gesellschaftlicher Konsens, gegen den die Machteliten entweder nicht oder nur mit allerbrutalster Gewalt ankommen. Wozu das am Ende führt – Okkupation, Blutbad, Wiedervereinigung, nationale Befreiung … – hängt vom Geschick der Akteure und den konkreten Konstellationen ab.
Woher kommt aber dieser neue Konsens, der ja gerade nicht künstlich organisiert wird, sondern sich spontan erhebt – angestoßen durch ein eher zufälliges Ereignis? Das Interessante ist, dass das keine typischen Klassenkonflikte sind, wie wir sie aus dem klassischen Kapitalismus kennen. Es ist weniger der soziale Status als jüngeres Alter und bessere Ausbildung, die den Kern der Protestierenden prägen. Es scheint also der Widerspruch zwischen (nennen wir es erst einmal so:) der Entfaltung der menschlichen Geisteskräfte und ihrer Hemmung durch die geistlose Macht zu sein, der heimlich einen großen Teil der Gesellschaft ergriffen hat. Das ist nicht neu; Geist und Macht standen schon immer in einem Spannungsverhältnis. Neu ist die rasante Entwicklung des gesamtgesellschaftlichen Bildungsniveaus, wie sie die Industriegesellschaft mit sich bringt. Das reichte schon ohne Internet zum Prager Frühling und später zum Mauerfall; internetgestützt kommt jetzt das, was die DDR 1989 erlebte, auch in den entwickelteren Staaten des Südens an.
Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht noch an Rudolf Bahro. Er hat schon vor 1977 eine Analyse des DDR-Sozialismus verfasst, die den Widerspruch der kreativen, aber auch der technischen Intelligenz zur Gängelung durch die herrschaftssichernde Bürokratie in den Mittelpunkt stellt. Er hat das Dilemma beschrieben, in das jede autoritäre Staatsführung gerät, die aus wirtschaftlichen Gründen für eine gute Ausbildung der künftigen Funktionäre (und heute auch für Internetanschluss) sorgen muss. Unweigerlich wird dabei schwer kontrollierbare „überschüssige Qualifikation“ erzeugt, die lange Zeit atomisiert bleibt und sich nur in Meckern, innerer Kündigung und ähnlichem zeigt. Aber – inzwischen haben wir es immer wieder erlebt – diese überschüssige Qualifikation kann wie aus heiterem Himmel massenhaft Gestalt annehmen und die Straßen füllen.
Ziehen wir die Linie nun weiter. Was sich hier in ganz unterschiedlichen Gestalten regt – können wir nicht seine Züge sogar wiederfinden in dem, was Richard Florida als „Aufstieg der kreativen Klasse“ bezeichnet? Kreativität wird zunehmend zum zentralen Produktionsfaktor, auf den kein Unternehmen mehr verzichten kann. Der Umfang der Kreativarbeit wächst rasant, die Entwicklung des menschlichen Geistes beschleunigt sich, und das hat unmittelbare Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Reichtum.
Aber auch hier zeigen sich die Widersprüche zwischen den Kreativen und ihren Produktionsverhältnissen. Florida schreibt über die hochentwickelten Industriestaaten, Staaten ohne Pharaonen und Politbürokraten. Aber einen vergleichbaren Feind gibt es bei bei ihm und ähnlichen Autoren auch: die Wirtschaftsbürokratie mit ihren Meetings und Statusritualen, die Gift für die Krativität sind (kirchliche Funktionsträger – obwohl in der Regel leidensfähiger – könnten ähnliches berichten). Der Ausweg ist dann nicht der friedliche Protest im Zentrum der Hauptstadt, sondern die Gründung der eigenen Firma, die 4-hour-workweek und ähnliches. Die Konstellationen unterscheiden sich also erheblich. Aber die Kraft dahinter ist hier wie dort der Überschuss „menschlichen, auf kein abstraktes Funktionieren für begrenzte Zwecke reduziblen Bewusstseins“ (Bahro), das in Zeiten des Internets immer stärker zum kollektiven Bewusstsein wird.
Wir sind alle Ägypter. Das ist keine moralische Aussage, kein Appell, sondern eine Diagnose.
Und sollte – Fragen ist ja erlaubt – dieses sich immer mehr ausweitende „menschliche Bewusstsein“ nicht vielleicht auch der materielle Kern dessen sein, was wir in verschiedenen Versionen als Postmoderne diskutieren? Eine enorme Ausweitung des menschlichen Geistes, die Raum schafft für viele unterschiedliche Weltanschauungen, Religionen, Fernsehprogramme, Ernährungsstile usw.? Und wäre „Kirche für das 21. Jahrhundert“ dann also eine Kirche, die sich mit diesem enormen Entwicklungsschub des menschlichen Geistes verbündet, anstatt ihn ängstlich zu kanalisieren? Eine Kirche, die nicht verwirrt die Augen verschließt vor diesem menschlichen Kompetenzzuwachs, sondern ihn in einem Umfeld der Freiheit willkommen heißt? Eine Kirche, die sich daran erinnert, dass schon in den Gemeinden des römischen Reiches die missachtete Kreativität der Sklaven, Frauen, Barbaren und auch der Funktionäre (ja, ja!) einen Freiraum fand? Eine emergente Kirche, die entdeckt, dass die Gemeinde Jesu sich selbst organisieren kann, weil der Heilige Geist schon immer den menschlichen Geist gebildet und befreit hat?
Und was bedeutet es, dass nun ausgerechnet in Ägypten, dem biblischen Beth Abdim, dem Sklavenhaus, die Freiheit aufbricht? Sollte das vielleicht ein Zeichen der Endzeit sein, das die einschlägigen Publikationen bisher übersehen haben? Fragen über Fragen. Die Beispiele für unvorhersehbaren, rasanten Wandel werden uns nicht ausgehen.
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