Nur das Kollektiv schreckt den Bürger

Abschied vom bürgerlichen Christentum (4)

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Diese fünfteilige Reihe wurde ursprünglich 2015 für den Blog von Emergent Deutschland geschrieben und für die Veröffentlichung hier leicht überarbeitet.

In den ersten drei Teilen der Serie habe ich die Rahmenbedingungen dargestellt, unter denen sich das neuzeitliche Christentum entwickelte, und welche Begrenzungen es dabei in Kauf nahm. Heute geht es um Perspektiven: wie kann die bürgerliche Gefangenschaft der Kirche aufgebrochen werden?

Weil das Christentum von der Neuzeit weiterhin auf seinen spiritualistischen Irrweg fixiert wird, besteht die Perspektive natürlich darin, die Konzentration auf das Jenseits (welcher Art auch immer) zu überwinden und die Begegnung von Kirche bzw. Evangelium und Welt zu stärken. Und das geschieht ja gegenwärtig zum Glück bei vielen Gelegenheiten: Gemeindediakonie, Stadtteilorientierung, Fairtrade-Läden, Patenschaften zu sozialen Einrichtungen, Besuche in Gefängnissen, auch viele Elemente klassischer pastoraler Arbeit, Serve the City, Thematisierung der kirchlichen Milieugrenzen, Anwaltschaft für besonders verletzliche Menschengruppen, Einsatz für Steuergerechtigkeit, Flüchtlingsarbeit und vieles andere. Gerade in der Begegnung mit Flüchtlingen werden im Augenblick an der Basis wichtige Erfahrungen gemacht, die alte Mentalitäten aufbrechen können.

Trotzdem habe ich den Eindruck, dass das immer noch ein sehr mühsamer Prozess ist, der nicht flächendeckend begonnen hat. Warum ist das so? Liegt es einfach an der menschlichen Trägheit oder haben die Widerstände ein deutliches Profil?

Das Hauptproblem scheinen mir nicht die fremden Mentalitäten und Milieus zu sein, denen man begegnet, wenn man die kirchlichen Mauern verlässt. Nach einer ersten Verunsicherung werden daraus in der Regel sehr bereichernde Erfahrungen. Im toten Winkel der Aufmerksamkeit liegt aber meist eine andere, sehr elementare Frage: Wer macht es? Wer ist der Akteur?

Man kann das natürlich als Frage nach dem Zeitbudget und den Prioritäten der individuell Beteiligten verstehen. In erster Linie muss aber nach dem kollektiven Akteur gefragt werden. Zur Erinnerung: in der neutestamentlichen Briefliteratur sind die Adressaten mit wenigen Ausnahmen Gemeinden. Deren gesunde Entwicklung ist das zentrale Thema, mit der Ethik (auch der Sexualethik!) als Unterthema. Bürgerliches Christentum ist dagegen eher ethisch orientiert und richtet sich primär an den Einzelnen. Auch bei der heilsindividuellen “Entscheidung für Jesus” bleibt die Gemeindebindung etwas nachträglich Dazukommendes: sollte eigentlich schon sein, muss aber nicht unbedingt. Das spiritualistische Erbe (das sich nicht auf die Welt einlässt und deshalb keinen Akteur braucht) und die bürgerliche Angst vor der Dominanz kirchlicher Sozialgebilde behindern beide gemeinsam die Entstehung eines echten kollektiven Akteurs und lähmen so die neuzeitliche Christenheit.

Ohne kollektiven Akteur aber keine gesellschaftliche Relevanz. Und auch der Einzelne bleibt dabei im ethischen Dilemma: christliche Ethik ist keine Individualethik und muss vom Einzelnen – wenn er sie so (miss)versteht – immer als Überforderung erlebt werden, mit all den Folgen für Gewissen und Selbstwertgefühl. Schließlich braucht auch die beste Theologie eine Zielgruppe, an die sie sich wendet. Die meisten Probleme modernen Christentums schneiden sich in der Frage nach einem kollektiven Akteur, der von einer gemeinsamen Story und einem intensiven Kommunikationszusammenhang erzeugt wird. Hier liegt die entscheidende Blockade. Nur zur Klarheit: eine Kirchenorganisation ist nicht die Lösung dieser Frage.

Erst ein Christentum, das sich hemmungslos als real existierende Bewegung realer Menschen entdeckt, steht jenseits der Gefängnismauern bürgerlicher Christlichkeit. Erst so wird es seinen dringend benötigten Beitrag in den sehr realen Gefahren der Gegenwart leisten können. Es ist dann nicht mehr unverbindliches (bürgerliches) Publikum, aber auch keine (mittelalterliche) Heils- und Zwangsinstitution. Erst jenseits dieser unfruchtbaren Alternative hat man das bürgerliche Koordinatensystem hinter sich gelassen und betritt Neuland.

Damit es nicht auf dieser grundsätzlichen Ebene bleibt, folgt noch ein fünfter und letzter Teil. Die Stichworte sind dabei Selbstorganisation und eine dritte Art von Verbindlichkeit.

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. HG Unckell

    Über dieses sich als Akteur entdecken hat S. Peck, ein US-amerikanischer Autor, Therapeut und Friedensaktivist, sich viele Gedanken gemacht – seiner 2 Bücher dazu sind inzwischen auch ins Deutsche übersetzt.
    A different drum + A world, waiting to be born (Bezugsmöglichkeiten sind hier zu finden: https://gemeinschaftsbildung.com)
    S. Peck führt aus, viele tun am Anfang so, als würden sie schon Gemeinschaft leben, merken dann aber, wie sie in ein Chaos hineinkommen, aus dem, so die Beobachtung von S. Peck und den Prozessen, die er und seine Mitstreiter begleitet haben, es nur durch das Loslassen, die Leere, in die Gemeinschaftserfahrung geht.
    Das ist eine große Herausforderung und immer wieder ziehen es Menschen vor, zur Pseudogemeinschaft zurückzukehren, also dem so tun als ob.
    Gemeinschaftserfahrung in diesem Zusammenhang ist, wie vieles im geistlichen Leben, als Geschenk erfahrbar, es lohnt sich, sich dafür zu bereiten, gleichzeitig ist es nicht kontrollierbar.
    Das zeigt auch, warum Organisationsbemühungen nicht ausreichen können.

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