Alle Posts zum Buch: | Teil 1 | Teil 2 | Teil 3 | Teil 4 |
Rosa bringt ja zunächst einmal eine Beschreibung: die Beschleunigung ist ein Faktor, den eine kritische Theorie der Gesellschaft nicht ignorieren darf. Die Zeit ist ein viel zu wichtiges Thema, als dass man es politisch vernachlässigen dürfte. Letztlich sind auch die ökologischen Probleme Folge der gesellschaftlichen Beschleunigung. Denn durch unsere Geschwindigkeit sind wir für die Natur zu schnell geworden. Wir verbrauchen pro Zeiteinheit mehr, als sie nachliefern kann.
Wie kann aber eine Antwort darauf aussehen?
Das Problem entsteht ja daraus, dass wir die Zeit nutzen, um (auf allen möglichen Gebieten) schneller zu sein als die Konkurrenz. Und das ist inzwischen gar keine bewusste Entscheidung mehr, sondern ein Habitus. Scharf und sicher überspitzt gesagt: Es geht nicht mehr darum, Brot zu backen, Computer zu programmieren, Menschen seelsorgerlich zu beraten, Kunstwerke zu schaffen, Gemeinden zu bauen, und was es noch für schöne Dinge gibt, sondern das alles ist verzerrt vom Konkurrenzkampf, nicht nur dem ökonomischen. Die Konkurrenzlogik frisst die unterschiedlichen Zeiten unterschiedslos in sich hinein.
„Zeit“ oder „Zeiten“?
Die berühmte Stelle im Prediger Salomo (3,1-9) spricht ja nicht von „der“ Zeit, sondern stattdessen von spezifischen „Zeiten“: eine Zeit zum Weinen, eine Zeit zum Lachen, eine Zeit zum Suchen, eine zum Verlieren usw. Zeit ist eben nicht Geld. Ein Euro mag ein Euro sein (obwohl in Wahrheit in jedem Euro eine lange Geschichte menschlicher Beziehungen verborgen ist – Geld ist auch eine Abstraktion wie die chronologische Zeit, aber das verfolgen wir jetzt nicht weiter), aber eine Stunde ist nicht wie die andere. Es gibt immer nur auf besondere Weise gefüllte Zeit. Zeiteinheiten sind nicht gegeneinander zu verrechnen, weil sie immer wieder anders gelebt werden: unter anderen Bedingungen, in unterschiedlichem Geist, mit je anderer innerer Disposition für Konzentration, Arbeit, Ruhe, Beziehungen. Und wer versucht, gegen die Bestimmung der Stunde zu leben, verschwendet sinnlos seine Energie: „Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.“
Diese Gedanken des Predigers stammen aus der Zeit der hellenistischen Durchdringung Alt-Israels, als die „moderne“ Geldwirtschaft engültig daran ging, die Welt der freien Bauern in die Welt der Großgrundbesitzer und Tagelöhner zu verwandeln, die wir aus den Evangelien kennen. Es war eine frühe Zeit der Globalisierung, als man sich nicht mehr auf die herkömmlichen Regeln des Zusammenlebens verlassen konnte. Die politisch-moralisch fundierte „Thorarepublik“ (wie Ton Veerkamp sie nennt) war nicht stark genug, um sich der gewaltsamen Öffnung des Landes zu widersetzen.
Die Antwort des Predigers darauf ist: versuche nicht, im Hamsterrad mitzuhalten, sondern lebe! Leben ist kein ewiger Kampf. Deshalb entzieh dich dem Hamsterrad. Widme dich intensiv der gegenwärtigen Zeit, vor allem, wenn du eine Gelegenheit zur Freude hast. Wer weiß, wann sie wiederkommt? Iss und trink, freue dich am Leben mit deiner geliebten Frau, und wenn die Gelegenheit günstig ist, setz deine Pläne entschlossen um. Aber tu das alles im Bewusstsein, dass es nicht in deiner Macht steht, die Zeiten zu ändern. Gottes Wege sind gut, aber wir verstehen sie nicht wirklich (das ist der leicht depressive Zug in den Gedanken des Predigers).
Um solche Zusammenhänge geht es auch, wenn Paulus oder der Seher Johannes davon sprechen, dass „eine Tür geöffnet wird“: Gelegenheiten, die sich auftun und genutzt werden sollen. Nur der Ton ist viel hoffnungsvoller. Durch die Auferstehung Jesu ist eine andere Zeit angebrochen, Gottes Wege sind weniger verborgen, und es gibt mehr Möglichkeiten, als sich nur in eine Nische zurückzuziehen und sich dort von der irrsinnigen Beschleunigung der Welt so gut wie möglich abzuschirmen. Das bringt für Paulus aber auch mehr Stress: die Beschreibung seiner Belastungen (im Umkreis von 2. Kor. 11,28 etwa) ist eindrucksvoll und hat nichts mehr mit einer ausgewogenen work-life-balance zu tun. Und auch von Jesus wird erzählt, dass sie zeitweise so überlaufen waren, dass die Mahlzeiten ausfallen mussten. Jesus wusste dann aber auch, wann die Zeit gekommen war, gemeinsam mit den Jüngern segeln zu gehen. Also nicht: Gelassenheit vs. Stress, sondern immer noch: Erkenntnis der jeweiligen Zeiten.
Der Gott der Fülle
Das alles bündelt sich in der Bergpredigt Jesu, wenn Jesus in Matth. 6 die Basis seines Handelns enthüllt: die grundlegende Güte des Schöpfers, der seinen Segen bedenkenlos an Gerechte und Ungerechte verschenkt. Nicht der Mangel regiert die Welt, sondern sie lebt aus der Fülle. Die Konsequenz ist: sorget nicht! Gott wird für euch sorgen. Das war damals für eine stärker agrarische Gesellschaft formuliert, der Kampf um die besten Plätze war noch viel offener gewaltförmig, dafür aber auch nicht soo allgegenwärtig. Aber auch damals schon schien solche Sorglosigkeit dem gesunden Menschenverstand widersinnig.
Im Ergebnis steht eine scharfe Alternative im Raum: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ Gott bringt Fülle, der Mammon Sorge und Mangel. Deshalb war das Zinsverbot über viele Jahrhunderte Konsens in der Kirche, bis die jungen bürgerlichen Rebellen aus der FDP Aufklärung sich gegen diese Einengung ihrer individuellen Freiheit empörten und das „oder“ durch das „und“ ersetzten: nicht mehr die alten, verknöcherten dogmatischen Fronten, sondern ein flexibles „sowohl als auch“.
Eine Frage des Weltbilds
In seriöserer Formulierung: Am Beginn der Neuzeit stand u.a. der Glaube, dass man mit dem Mammon einen Pakt schließen, ihn zähmen und in Dienst nehmen könne. Man müsse gar nicht im traditionell-christlichen Sinn gut sein (also das Interesse des Nächsten im Sinn haben). Denn die Verfolgung des je eigenen Interesses auf dem Markt ergebe am Ende durch die Regie einer „unsichtbaren Hand“ einen viel größeren Nutzen für alle als eine noch so altruistische Moral (und also wohl auch Politik). Seit damals gelten Moralisten (heute sind das die „Gutmenschen“) als Toren oder Schlimmeres. Die aktuelle Fortschreibung dieses Glaubens ist die neoliberale Überzeugung, dass „die Märkte“ es schon richten werden, und dass man die politisch-moralische Sphäre deshalb schrumpfen möge, damit von dort aus die Märkte kaum noch kontrolliert werden können. Und so bringt die Konkurrenz aller mit allen inzwischen nicht nur die Menschen aus dem Takt, sondern nun auch die Biosphäre in gefährliches Ungleichgewicht.
Am Ende ist es eine Frage des Weltbildes: gehe ich von einer Konkurrenz aller gegen alle aus, wo der Gewinn der Einen der Verlust der Anderen ist? Oder sehe ich eine grundlegende Verbundenheit aller Geschöpfe, die aus der fundamentalen Liebe des Schöpfers entspringt? Ist mein Gegenüber der Markt, der keine Gnade kennt, oder der Vater im Himmel, der auch über Ungerechte regnen lässt?
Nun, das ist jetzt für manche vielleicht nicht praktisch genug. Obwohl in der protestantischen Tradition ja eigentlich der Glaube (und damit die Frage, welche Realität wir voraussetzen) vor den Werken kommen sollte. Aber deshalb lasse ich noch einen fünften Post zum Thema folgen.