Seth Godin hat ein neues Buch geschrieben: Linchpin. Ein Linchpin ist die Radachse, im übertragenen Sinn: das, womit alles andere steht und fällt. Was ist nach Godin diese Achse? Kunst. Kunst ist der Unterschied, auf den es ankommt. In einer Welt, in der alles standardisiert werden kann, in der jede Arbeit irgendwo noch etwas besser und billiger erledigt wird, wird Kunst zum wichtigsten Unterscheidungsmerkmal: weil sie die Quelle für echte Wertschöpfung ist.
Allerdings versteht Godin „Kunst“ in einem sehr weiten Sinn. Es geht nur noch am Rande um Pinsel, Leinwand, Noten oder die Theaterbühne. Wir würden vielleicht eher „Kreativität“ sagen als „Kunst“. Aber das würde wohl schon Godins These verwässern.
Alles kann Kunst werden: das Design eines neuen i-Gerätes sowieso, aber auch die Virtuosität, mit der ein Kellner in seinem Restaurant alle Probleme meistert und den Gästen das Gefühl gibt, einen großartigen Abend verbracht zu haben. Kunst kann bedeuten, einen neuen Webdienst wie Twitter zu entwickeln oder Schülern eine inspirierende Lernerfahrung zu ermöglichen. Kunst, sagt Godin, ist ein überraschendes persönliches Geschenk, das Menschen verändert. Vorher hätte es keiner vermisst, aber wenn es da ist, sind Menschen begeistert. Das Wort „great“ fällt immer wieder: Menschen können in der Begegnung mit solcher Kunst großartige Erfahrungen machen.
Deswegen hat Kunst immer mit dem Bruch von Regeln zu tun, die vorher galten. Sie bedeutet das Risiko, ausgelacht oder angefeindet zu werden. Sie weitet unseren Horizont. Kunst ist immer ein Geschenk, weil man sie nicht per Arbeitsvertrag einfordern kann. Sie beginnt da, wo die Vorschriften zu Ende sind.
Um es auf meinen Bereich zu übertragen: eine dogmatisch richtige Predigt zu halten, über die sich niemand beschweren wird, ist keine Kunst. Aber so eine Predigt wird auch niemanden inspirieren. Sie ist vorhersehbar, wenn man die theologischen Fundamente kennt. Eine Predigt wird zu Kunst, wenn sie Menschen entlässt mit einer neuen Sicht der Welt und sie die Freude Gottes an der Vielfalt des Lebens spüren lässt. Künstler ist auch, wer als Kulturarchitekt an einer neuen Gemeindekultur arbeitet.
Soweit vielleicht nichts allzu Neues. Der Clou bei Godin ist aber, dass er sagt: was früher das Geschäft einiger weniger kreativer Wilder war, das ist heute eine Notwendigkeit für jeden, der auf die Dauer etwas erreichen will. Wer nur etwas ausführt, was sich in Pflichtenheften und Handbüchern vorschreiben lässt, der ist jederzeit ersetzbar. Aber wer den Menschen etwas Unerwartetes, Überraschendes und Faszinierendes schenkt, der erzeugt wirkliche Werte und wird zum „Linchpin“ jeder Organisation. Andersherum ist jede Organisation angewiesen auf die Linchpins in ihren Reihen, wenn sie Wirkung erzielen oder neue Märkte öffnen will.
Godin vertraut auf das schöpferische Potential, das in jedem Menschen angelegt, aber oft durch innere und äußere Blockaden lahmgelegt ist. Ich weiß nicht, ob er von christlichem Gedankengut beeinflusst ist. Aber seine Gedanken passen sehr gut zusammen mit dem biblischen Bild des schöpferischen Gottes, der völlig Neues, bisher nie Gesehenes erschafft und den Menschen nach seinem Bilde macht: ebenfalls mit einem unerschöpflichen schöpferischen Potential.
Aber was hindert uns daran, unserer Kreativität zu vertrauen und sie fließen zu lassen? Godin nennt es die „resistance“. Es ist das Zurückschrecken vor der eigenen schöpferischen Kraft und unserer möglichen Größe. Godin verortet diesen Widerstand in der Amygdala, einem sehr alten Teil des Gehirns. Hier sitzen Instinkte wie Furcht und Konformität. Dieses Reptilienhirn kennt viele Wege, um uns den Mut zu nehmen. Wir wollten die Welt ändern und sind schließlich froh, wenn wir mit dem Lesen der Emails nachkommen. Wer neue Wege gehen will, muss diesen instinktiven Widerstand gegen das Wagnis des Unbekannten überlisten. Denn der Widerstand kommt von innen und von außen zugleich: aus dem eigenen Reptilienhirn und von den besorgten, Amygdala-bewegten Mitmenschen.
Alle, die lieber die Sicherheit des Altvertrauten und Bekannten schätzen, werden sich dem Wagnis in den Weg stellen. Sie werden damit aber auch sich (und ihre Organisation) austauschbar und ersetzbar machen. Gerade in den Zeiten einer weltweiten Konkurrenz kommt es nun auch ökonomisch gesehen auf die Linchpins an: Menschen, die die überkommenen Selbstverständlichkeiten in Frage stellen und ihre Mitmenschen mit einer überragenden Gabe überraschen.
Weil Kunst eigentlich unbezahlbar ist, hat sie immer ein Element des Schenkens in sich. Ein Linchpin arbeitet deshalb auf der Basis einer Geschenkökonomie. Dazu mehr in einem weiteren Post.
Ein sehr interessantes und nachdenkenswertes Posting. Freue mich sehr, dass Sie wieder im Netz zugange sind. Ihre Beiträge haben mir gefehlt.
Ja, von Weihnachten bis Ostern ist bei mir immer der meiste Stress. Aber schön, dass Sie noch schauen!