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Über Zeit und persönliche Zeitökonomie denke ich nach, seit ich beruflich arbeite. Einer meiner ersten Aha-Erlebnisse im Pfarramt war: es gibt jede Menge guter Möglichkeiten – nicht die Ideen sind der begrenzende Faktor, sondern die (fehlende) Zeit, um sie umzusetzen. Aber warum ist das so, welche Mechanismen stecken hinter der allgegenwärtigen Zeitknappheit, die ja wahrlich nicht nur ich empfinde?
Soziologische Zeitforschung
In diesem Urlaub habe ich mit großer Begeisterung „Beschleunigung und Entfremdung“ von Hartmut Rosa gelesen. Rosa schreibt sonst wesentlich dickere Bücher als dieses Bändchen von knapp 150 Seiten. Und das Thema Zeit und Beschleunigung beschäftigt ihn schon lange. Vermutlich ist dies Buch so etwas wie die Quintessenz seiner Arbeit zum Thema. Und tatsächlich folgt bei ihm eine hilfreiche Einsicht auf die andere.
Zunächst geht er der Frage nach: ist der Eindruck überhaupt zutreffend, dass die Welt sich im Großen und im Kleinen immer mehr beschleunigt? Und ist das überall gleichermaßen der Fall? Rosa unterscheidet zwischen technischer Beschleunigung (… vom Reiter zum Jet …), Beschleunigung des sozialen Wandels (… früher ein Leben lang bei einer Firma, heute noch nicht ml ein Leben lang denselben Beruf …) und Beschleunigung des Lebenstempos (… immer mehr in immer weniger Zeit erledigen …). Wie schon oft bemerkt, müsste die technische Beschleunigung eigentlich zu einer Zunahme der Zeitressourcen führen. Tut sie aber nicht. Warum? Weil die Wachstumsrate dessen, was wir tun, die Zeitersparnis durch technischen Beschleunigung mehr als auffrisst (… die Waschmaschine erspart mit dem wöchentlichen Waschtag jede Menge Arbeit, dafür wechseln wir die Wäsche nun viel häufiger …).
Der Beschleunigungs-Kreislauf und seine Motoren
Rosa beschreibt einen Kreislauf dieser drei Arten von Beschleunigung: die Beschleunigung des Lebenstempos lässt uns nach technischen Hilfsmitteln Ausschau halten, die Zeit ersparen. Diese technische Beschleunigung führt zu einer Beschleunigung des sozialen Wandels (Paradebeispiel: gesellschaftliche Verschiebungen durch Computer/Internet), und wer mit diesem beschleunigten Tempo mithalten will, muss dazu wiederum sein Lebenstempo erhöhen. Dieser Zirkel ist ein geschlossenes, sich selbst beschleunigendes System.
Dabei kann keine der drei Beschleunigungsarten als Ursache identifiziert werden. Eine bedingt die andere. Die eigentlichen Motoren für die soziale Beschleunigung sitzen woanders. Es ist vor allem der Wettbewerbsdruck des kapitalistischen Marktsystems, der die Beschleunigung befeuert: Wer sich eine Pause gönnt, oder wer es versäumt, die neuesten Errungenschaften der technischen Entwicklung zu implementieren, der fällt zurück. Beschleunigung führt zu Wettbewerbsvorteilen. Da aber alle beschleunigen, hält man im Durchschnitt seine Position. Ist man etwas besser (=schneller) als der Durchschnitt, dann zieht man an anderen vorbei, ist man zu langsam, dann fällt man zurück.
Prägendes Wettbewerbs-Paradigma
Diese Logik des Wettbewerbs ist inzwischen aber nicht mehr auf die Wirtschaft beschränkt, sondern frisst sich gerade in alle Bereiche der Gesellschaft hinein. Es gibt einen Konkurrenzkampf um Bildungsabschlüsse und Jobs, um Güter des demonstrativen Konsums (Autos, Urlaubsfotos auf Facebook, …), Erfolg der Kinder, Attraktivität (eigene und des Partners), gelesene Bücher, gesehene Filme usw. Wettbewerb wird zum vorherrschenden Prinzip der Allokation von Ressourcen in allen Bereichen des sozialen Lebens. Auch Kunst und Religion sind davon nicht mehr ausgenommen.
Flankiert wird der Wettbewerb von der modernen weltanschaulichen Entscheidung, dem Leben vor dem Tod die entscheidende Bedeutung zuzuschreiben. Damit wird das Leben zur letzten Gelegenheit, die man dann auch möglichst intensiv nutzen, d.h. mit möglichst vielen Qualitätserfahrungen füllen möchte. Beschleunigung ist ein Mittel dazu und wird so zu einem Äquivalent für die Verheißung des ewigen Lebens. Es ist allerdings ein eher dürftiger Ersatz, denn das Verhältnis zwischen den realisierten und den verpassten möglichen Optionen unseres Lebens wird am Ende des Tages durch die Beschleunigung eher schlechter sein.
In jedem Fall wird durch die Ausbreitung des Wettbewerbs-Paradigmas die ganze Gesellschaft zur Beschleunigungsgesellschaft, weil alle sich dauernd in vielen Lebensbereichen auf einem „rutschenden Hang“ vorfinden, wo Stillstand zu Rückschritt wird. Gibt es aber Gegenkräfte der Entschleunigung? Dazu mehr im nächsten Post.