Die kopernikanische Wende des Glaubens

Die neue Sicht auf Paulus ist kein exegetisches Spezialproblem

Die neue Perspektive auf Paulus bewegt schon länger die Theologie, vielleicht mehr im englischsprachigen Raum als bei uns. Neben Krister Stendahl, E.P. Sanders und James Dunn ist hier insbesondere N. T. Wright, der (inzwischen ehemalige) anglikanische Bischof von Durham zu nennen. Kurz gefasst geht es um die Frage, ob die reformatorische Paulusinterpretation korrigiert werden muss, weil hier die Gegner des Paulus falsch dargestellt worden sind (das Judentum als Gesetzesreligion, deren Anhänger sich durch eigene Leistung die Gnade Gottes erwerben möchten). Diese Sicht tut den jüdischen Zeitgenossen des Paulus Unrecht und verfälscht seine eigene Position – so die Vertreter der new perspective. Denn wenn die Fragestellung des Paulus gar nicht die war, mit der Luther sich herumgeschlagen hat („wie kriege ich einen gnädigen Gott?“), dann kann man auch seine Antworten nur falsch verstehen, wenn man sie mit dem reformatorischen Ohr hört.

Diese neue Sicht auf Paulus wäre natürlich ein Bruch mit einer jahrhundertealten theologischen Tradition – und damit gut reformatorisch. Kein Wunder, dass es (wie gesagt, vor allem im englischsprachigen Raum) heftige Diskussionen gibt. Auf die Kritik (insbesondere von John Piper) hat Wright im vergangenen Jahr geantwortet mit seinem Buch „Justification. God’s Plan and Paul’s Vision„. In seiner Einführung macht er deutlich, dass es hier nicht um einige exegetische Spezialfragen geht, sondern um einen grundlegenden Neuansatz des theologischen Denkens.

Wright beschreibt folgende gedachte Szene: ein guter Freund hat durch irgendeinen unglücklichen Umstand nicht mitbekommen, dass die Erde um die Sonne kreist. Zufällig stößt du im Gespräch darauf und erklärst ihm unter Zuhilfenahme von Teetassen, Tellern, Schemata und astronomischen Büchern die kopernikanische Entdeckung, dass die Erde nicht im Mittelpunkt des Weltalls steht, sondern um die Sonne kreist. Der Freund ist bestürzt und kann es gar nicht glauben.

Mit diesem Bild macht Wright deutlich, um was es hier geht und warum es so heftige Kritik gibt. Immerhin stehen hier theologische Selbstverständlichkeiten auf dem Spiel, die seit dem Mittelalter fast von allen Theologen, von rechts bis links, geteilt wurden. Ich gebe hier ein längeres Zitat von Wright (Justification, S. 7-8) wieder, um den Stellenwert dieser Frage zu beschreiben:

Das theologische Äquivalent für die Vorstellung, die Sonne drehe sich um die Erde, ist der Glaube, dass es in der christlichen Wahrheit immer nur um mich und meine Rettung geht. Ich habe in den letzten Wochen Dutzende von Büchern und Artikeln zum Thema Rechtfertigung gelesen. Durchgehend sind die Verfasser, aus einer Vielzahl von theologischen Richtungen, davon ausgegangen und haben als selbstverständlich vorausgesetzt, die theologische Zentralfrage sei „was muss ich tun, um gerettet zu werden?“ oder (in Luthers Formulierung): „wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“, oder „wie komme ich in die richtige Beziehung zu Gott?“.

Bevor es nun böse oder erschrockene Reaktionen gibt: ich möchte nicht missverstanden werden – das persönliche Heil ist ungeheuer wichtig. Gott persönlich zu kennen im Gegensatz zu einem rein intellektuellen Zugang zu ihm ist eine Herzenssache jeden christlichen Lebens. Zu entdecken, dass Gott gnädig ist, und eben kein Bürokrat oder Tyrann, ist die gute Nachricht, die uns immer wieder überrascht und beflügelt. Aber wir sind nicht der Mittelpunkt des Universums. Gott kreist nicht um uns. Wir kreisen um ihn. Aus unserer Perspektive mag es so aussehen, als seien „ich und meine Rettung“ das Ein und Alles des christlichen Glaubens. Leider haben viele – viele hingegebene Christen! – diesen Weg gepredigt und gelebt. Und das Problem beschränkt sich nicht auf die Kirchen der Reformation. Es geht zurück auf die westliche Kirche des Mittelalters, es betrifft und schwächt gleichermaßen Katholiken und Protestanten, Liberale und Konservative, Hochkirchler und Volkskirchler. Aber eine Lektüre der Bibel in ihrer Gesamtheit ergibt eine andere Story:

Gott schuf Menschen für einen bestimmten Zweck: nicht einfach für sich selbst, nicht einfach, damit sie in einer Beziehung zu ihm leben könnten, sondern um durch sie, seine Ebenbilder, seine weise, freuden- und segensreiche Ordnung in der Welt aufzurichten. In der Schlussszene der Bibel, im Buch der Offenbarung, geht es nicht darum, dass Menschen „in den Himmel kommen“, um dort in einer engen und intimen Beziehung mit Gott zu leben. Es geht stattdessen darum, wie der Himmel auf die Erde kommt. Die persönliche Beziehung zu Gott, die dort tatsächlich im großen Bild vom neuen Jerusalem verheißen und gefeiert wird, mündet sofort in ein weiteres Ausgreifen, eine weitergehende Heilungskraft: der Strom mit dem Wasser des Lebens, der in der Stadt entspringt; und der Baum des Lebens, der dort aufwächst, und dessen Blätter den Völkern Heilung bringen.

Was gegenwärtig zur Debatte steht, ist nicht einfach das Feintuning von Theorien darüber, was nun genau bei der „Rechtfertigung“ geschieht. […] Sondern der eigentliche Punkt ist meiner Meinung nach, dass das ewige Heil von Menschen – obwohl es natürlich für diese Menschen äußerst wichtig ist – Teil eines größeren Zusammenhanges ist. Gott rettet uns vom gestrandeten Schiff dieser Welt; nicht, damit wir uns nun zurücklehnen und in seiner Gesellschaft die Beine hochlegen, sondern damit wir ein Teil seines Plans werden, die Welt zu erneuern. Wir kreisen um Gott und seine Ziele, nicht andersherum. Hätte die Reformation sich an den Evangelien ebenso abgearbeitet wie an den Briefen, dann wäre diese Verwechslung nie geschehen. Aber sie ist geschehen, und wir müssen uns dazu verhalten. Die Erde, und wir mit ihr, kreist um Gottes Sonne und seine Vorhaben für den ganzen Kosmos.

Hier geht es also nicht um neue Antworten auf alte Fragen, sondern um eine grundlegend andere Fragerichtung. Viele alte Streitpunkte sehen in dieser Perspektive ganz anders aus, neue Aufgaben kommen dazu. Die Kirchen würden sich nicht nur in ihrer Theologie, sondern in ihrer ganzen Sozialgestalt und ihrer Praxis grundlegend ändern, wenn diese Erkenntnisse auf breiter Basis rezipiert werden. Kein Wunder, dass heftig diskutiert wird.

Dieser Beitrag hat 12 Kommentare

  1. Hufi

    Danke für diese Zusammenfassung und das Zitat, Walter!

  2. Juebe

    Ich finde es unglaublich interessant, wie jüdische Basics nun in christliche Diskussionen Eingang finden.
    „Gott schuf Menschen für einen bestimmten Zweck: nicht einfach für sich selbst, nicht einfach, damit sie in einer Beziehung zu ihm leben könnten, sondern um durch sie, seine Ebenbilder, seine weise, freuden- und segensreiche Ordnung in der Welt aufzurichten.“ heißt auf jüdisch „Tikkun olam“, ein sehr grundlegendes Konzept jüdischer Existenz.
    Ich hoffe, Sie hatten noch eine schöne Urlaubszeit.

  3. Björn

    Na und dann würden wir uns in der wunderschönen Stadt Marburg sehen. Das wäre doch mal was. 🙂 Danke für die schöne Beschreibung. Wir lesen auch ne Menge Wright grad – schreibe an einem Paper für GT (Hallo Toby!) was mich auch enorm weiterbringt…

  4. k.

    hört sich nach einem spannenden paradigmenwechsel an. frage mich aber, ob die kreuzzügler ihre mission nicht genau in diesem sinn verstanden haben, oder z.b. die europäischen kolonialherren…?

    „…Teil eines größeren Zusammenhanges ist. Gott rettet uns vom gestrandeten Schiff dieser Welt; nicht, damit wir uns nun zurücklehnen und in seiner Gesellschaft die Beine hochlegen, sondern damit wir ein Teil seines Plans werden, die Welt zu erneuern…“

  5. Klara Wunsch

    Ich wandelt im Netz so vor mich hin und nichts zu suchen das war mein Sinn, dann stieß ich auf Paulus und fragte mich , sind nur die Theologen verückt ?
    Denn wer nach Gottes Plänen fragt ist häufig und schnell im Abgrund –
    und sieht nur noch Mauern und Schluchten und eigene Gedankenfluchten,
    du gleichst dem Geist den du begreifst nicht mir
    so sollten wir uns vor allem hüten vor schnelle Worten und alten Hüten
    und fragen was die Liebe sagt die Ursprung Ziel und Leben wagt.

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