Lange Zeit gehörte für mich dieser Abschnitt aus der Bergpredigt (Matthäus 6, 22-23) zu den Textstellen, mit denen ich nicht so viel anfangen konnte. Nicht schlecht, nicht ärgerlich, aber was bedeutet er eigentlich, und warum steht er ausgerechnet dort?
Als wir gestern mit einigen Leuten über die Stelle sprachen, hat sich das geändert. Der entscheidende Gedanke dabei war, dass man das Sehen hier nicht als ein passives Zur-Kenntnis-nehmen verstehen darf. Das Auge bildet nicht einfach ab, was ist, sondern spielt eine aktive Rolle in der Konstruktion der Wirklichkeit. Und das prägt dann die ganze Existenz (den „Leib“) und die davon ausgehenden Handlungen. Zumal der Mensch ein Augentier ist, dass sich zu 80% mit den Augen in seiner Umwelt orientiert.
Dieser Gedanke hat weitreichende Konsequenzen. In unserer Kultur gilt als grundlegende Rezeptionstheorie die Unterscheidung zwischen Tatsache und Bewertung – also in journalistischer Begrifflichkeit: Meldung und Kommentar. Dies ist ein Niederschlag der naturwissenschaftlichen Sichtweise, die sich mit einem gewissen Absolutismus in allen Bereichen der Gesellschaft als die alleinseligmachende verkauft. Wenn aber die „Tatsachen“ schon eine Konstruktion des Auges sind, und zwar eine moralisch nicht neutrale („Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein“, v. 23), dann fallen die eigentlichen Entscheidungen schon längst vor dem „Kommentar“, der Bewertung: Was will ich (wollen wir, sollen wir, müssen wir …) sehen und was nicht? Was schafft es in die Schlagzeilen und was nicht? Die entscheidenden Fragen sind nicht durch „Faktencheck“ lösbar.
Es ist hilfreich zu sehen, dass eine erkenntnistheoretische Konstruktion, die sich in unserem Umfeld als alternativlos präsentiert, biblisch überhaupt nicht zwingend ist. Alternativen liegen in dieser Tradition bereit, man muss sie nur – sehen wollen.
Der krönende Abschluss des Ganzen ist dann natürlich der Vers 24: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ Das steht nicht zufällig hier (so als ob Matthäus noch ein paar Schnipsel unterzubringen gehabt hätte), sondern ist ein Anhaltspunkt, um welche Entscheidung es in der ganzen Bergpredigt geht. Und direkt hinter der Erkenntnistheorie der Verse 22-23 sagt dieser Vers: was wir sehen hängt von den Mächten ab, die uns beeinflussen (dürfen). Was also sieht ein Bankberater, zu dem ein Kunde kommt: die Bedürfnisse des Kunden oder die Provision? Auf was schaut eine ganze Gesellschaft (deren „Auge“ die Bewusstseinsarbeiter, Theorieproduzenten und Journalisten sind): Auf die persönlichen Macken von Politikern oder auf ihre Konzepte und Abhängigkeiten? Auf die Lebensbedingungen von Hartz IV-Beziehern oder auf die Außenhandelsbilanz? Auf den Teller oder in die Tierfabriken? Alles etwas plakativ, aber ich glaube, die Richtung ist deutlich.
„Dies ist ein Niederschlag der naturwissenschaftlichen Sichtweise, die sich mit einem gewissen Absolutismus in allen Bereichen der Gesellschaft als die alleinseligmachende verkauft.“
Eine Sichtweise verkauft sich nicht selbst, das können nur Menschen. Die Naturwissenschaft geht davon aus, dass Modelle, deren Vorhersagen mit den Beobachtungen übereinstimmen, am nützlichsten sind. Die Naturwissenschaften zeichnen sich aus, durch eine bestimmte erkenntnistheoretische Grundlage. Daraus folgt, dass andere Sichtweisen eben nicht naturwissenschaftlich sind. Mit Absolutismus, hat das allerdings wenig zu tun, allein durch die Sprache und die Bezeichnung der Erkenntnisse als Theorie, zeigt auf, dass hier kein Anspruch auf absolute Wahrheit besteht.
Anders die Kirche, die tatsächlich selig spricht und ihre Sichtweise als die einzige zum Wege der Erlösung preist. Wenn man Absolutismus kritisiert, dann sollte wohl der Anspruch der Kirche als erstes ins Auge fallen.
„dann fallen die eigentlichen Entscheidungen schon längst vor dem “Kommentar”, der Bewertung: Was will ich (wollen wir, sollen wir, müssen wir …) sehen und was nicht?“
Ganz recht, schon die Entscheidung zum Glauben an die Bibel, beeinflusst die Bewertung der darin enthaltenen Aussagen. Bevor man sich dafür entscheidet, sollte man sich eigentlich diese Frage stellen. Doch da scheint die Kirche ein Interesse daran zu haben, schon vor dieser Möglichkeit die Entscheidung, durch eine Taufe kurz nach der Geburt, zu übernehmen.
„Der krönende Abschluss des Ganzen ist dann natürlich der Vers 24: “Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.”“
Daran sollte sich vielleicht auch mal der Vorstand der Kirche erinnern… http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/vatikanbank-die-umstrittene-bank-des-papstes-a-876033.html
Hallo Richard, natürlich war das eine Kritik am Absolutheitsanspruch naturwissenschaftlicher Theoriebildung. Der Trick dabei ist doch gerade, dass diese Sichtweise (bzw. ihre Vertreter) sich als anderen (z.B. religiösen) Sichtweisen überlegen darstellt, ja geradezu als einzig realistische Sichtweise (mindestens in ihrer massenwirksamen Vulgärversion): was nicht naturwissenschaftlich darstellbar ist, gerät schnell in den Verdacht, nicht wirklich real (bzw. rein subjektiv) zu sein. Und dies ist doch nun wirklich die vorherrschende Ideologie in unserer Gesellschaft. So sehr, dass sie nicht mehr als ein Realitätszugang unter mehreren gilt, sondern als einzig vernünftiger.
In dieser Situation jetzt als Retourkutsche die Befreiungsrhetorik vergangener Jahrhunderte gegen eine unterdrückerische Kirche zu bemühen, ist doch wohl in einer säkularen Gesellschaft wie der unseren irgendwie überholt. Wenn ich jedenfalls irgendwo Vertrauen genieße, tue ich das kaum noch als kirchlicher Amtsträger, sondern das muss ich mir hart erarbeiten, und es kann schnell wieder weg sein.
Das naturwissenschaftlich-rationale Denken wäre ja nicht die erste Befreiungsbewegung, die immer noch die alte Freiheitsrhetorik bemüht, während sie schon längst die Gesellschaft dominiert.
Und zur Vatikanbank: dafür bin ich nicht zuständig. Wende dich an die Verantwortlichen. Wie die den ganzen Kram da mit ihrem Anspruch vereinbaren, ist mir auch schleierhaft. Aber soll ich dir hier Wissenschaftler, die Forschungsresultate fälschen, unter die Nase reiben? Das wäre genauso daneben.