Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
wir begehen den Volkstrauertag in einem Jahr, das wie kaum ein anderes von Umwälzungen und Erschütterungen geprägt ist. Es hat begonnen mit dem arabischen Frühling, mit den Volkserhebungen in Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien. Dann wurden wir Zeuge, wie in Fukushima die Atomkraft ihre ganze zerstörerische Kraft zeigte, ausgerechnet in diesem leidgeprüften Land, das am Ende des zweiten Weltkrieges die Erfahrung von zwei Atombombenabwürfen machen musste. In Norwegen sahen wir mit Schrecken, zu welcher mörderischen Energie der Hass gegen alles Fremde und Unvertraute fähig ist, auch hier in Europa. Und schließlich erleben wir Woche für Woche, wie die Welt von den wirtschaftlichen Gewalten hin und her getrieben wird, die Menschen von ihren Fesseln befreit haben und nun nicht mehr bändigen können. Wer erinnert sich heute noch an die Lebensmittelskandale am Anfang des Jahres oder an Ministerrücktritte, die uns beschäftigt haben? Es ist, als ob das alles schon ewig zurückliegt, so viel ist inzwischen schon wieder passiert. Und das Jahr ist noch nicht zu Ende.
Mitten in diesen Unsicherheiten und Umwälzungen ist heute also der Volkstrauertag und erinnert uns daran, dass die Weltgeschichte auf die eine oder andere Weise schnell zu blutigem Ernst werden kann, eine Erfahrung, die uns in den vergangenen 66 Jahren hier in Europa durch unverdiente Gnade erspart geblieben ist. Zwei Drittel eines Jahrhunderts ohne Krieg und vergleichbare Katastrophen in unserem Land – ich wüsste nicht, dass es das jemals zuvor in unserer Geschichte gegeben hat.
Aber das hängt wohl auch damit zusammen, dass die Völker Europas nach den beiden großen Kriegen des vergangenen Jahrhunderts wirklich etwas gelernt haben: dass Krieg nichts sein darf, was immer mal wieder kommt, womit man sich abfindet und was man als letzte Möglichkeit gelegentlich in Kauf nehmen muss. Nein, Krieg darf nicht sein.
Deshalb haben unsere Väter und Mütter sich damals zwischen Gräbern und Ruinen geschworen: nie wieder Krieg, und sie haben es ins Grundgesetz geschrieben, und immer wieder haben wir es bekräftigt: von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen. Und es mag sein, dass in der Weltpolitik die Deutschen da als zögerlich und unsicher gelten, aber diese Erfahrung der mörderischen Kriege hat uns mit gutem Grund sehr zurückhaltend gemacht in Bezug auf Krieg und Gewalt. Das ist ein kostbares, teuer erkauftes Erbe, dass viele Menschen in unserem Land sich ganz sicher darin sind, dass es wenige irdische Güter gibt, die wichtiger sind als Frieden.
Aber zum Frieden gehört nicht nur diese Zurückhaltung gegenüber militärischer Gewalt. Zu den besten europäischen Traditionen gehört die Überzeugung, dass es auf den Geist ankommt, auf die Werte, von denen man lebt, auf die Stärke des Mitleidens, und dass diese innere Stärke auf lange Sicht mehr erreicht als militärische Macht. Der Fall der Mauer und die Umwälzungen in Osteuropa vor mehr als zwei Jahrzehnten haben uns das noch einmal deutlich bestätigt. In der Freiheitsliebe und Opferbereitschaft junger Menschen in den arabischen Ländern, in der erstaunlichen Gewaltlosigkeit auch im Angesicht tyrannischer Regime begegnen uns heute unsere eigenen besten Traditionen, und wir sind gefragt, ob wir sie wiedererkennen und um diese zarte Pflanze bangen, die da völlig überraschend aufgeblüht ist.
Und genauso sind wir gefragt, ob wir auch angesichts weltbewegender Krisen und Umwälzungen an unseren Überzeugung festhalten wollen. Wir haben Werte und Erfahrungen, die nicht nur für die Schönwettersituationen gedacht sind, sondern die uns gerade in schwierigen Zeiten Orientierung geben. Sie sind kein Luxus, sondern Überlebensausrüstung. Ein Volk ohne Vision geht zugrunde, heißt es in der Weisheit des Königs Salomo. Gerechtigkeit und Solidarität, Freiheit und Mitleid, sie sind Geschwister des Friedens, und es sind die unsicheren Zeiten, in denen sie sich bewähren werden, wenn wir ihnen trauen.
In diesem Sinn: Gott behüte unser Land und lasse uns im Frieden leben!