Die Zeit verstehen
Predigt im Besonderen Gottesdienst am 28. März 2004 mit Johannes 7,1-9
1 Danach zog Jesus in Galiläa umher. Er hielt sich von Judäa fern, weil die führenden Männer dort ihn töten wollten. 2 Das jüdische Laubhüttenfest stand vor der Tür. 3 Da sagten seine Brüder zu ihm: »Du solltest nicht hier bleiben, sondern nach Judäa gehen, damit deine Anhänger dort die großen Taten zu sehen bekommen, die du tust. 4 Wenn jemand bekannt werden möchte, versteckt er sich nicht. Wenn du schon solche Taten vollbringst, dann sorge auch dafür, dass alle Welt davon erfährt!« 5 Denn nicht einmal seine Brüder schenkten ihm Glauben.
6 Jesus sagte zu ihnen: »Meine Zeit ist noch nicht da. Für euch dagegen passt jede Zeit. 7 Euch kann die Welt nicht hassen; aber mich hasst sie, weil ich als Zeuge gegen sie bestätige, dass ihr Tun böse ist. 8 Zieht doch ihr zu diesem Fest hinauf! Ich gehe nicht zum Fest, weil meine Zeit noch nicht da ist.«
9 Das sagte er zu ihnen und blieb in Galiläa.
Zu wissen, was heute jeweils dran ist, gehört zu den wichtigsten Fähigkeiten, die man im Leben entwickeln sollte. Man kann ein Ziel nur dann auf dem geraden Weg ansteuern, wenn man es erkannt hat. Aber andersherum stimmt es auch: diese Fähigkeit, zu erkennen, was die Stunde geschlagen hat und was jetzt dran ist, die bekommt man nur, wenn man entschlossen ist, das dann auch umzusetzen und zu tun. Das Gespür dafür, was jetzt dran ist, das fällt einem normalerweise nicht einfach so zu, sondern das lernt man, indem man es ausprobiert und dabei auch erst manche Fehlentscheidung trifft.
Noch wichtiger ist aber die grundlegenden Bereitschaft, überhaupt darauf zu achten, was denn jetzt eigentlich dran ist. Die Bibel spricht von den verschiedenen »Zeiten« und meint damit, dass jede Zeit ihre besondere Bestimmung hat. Es gibt eine Geschichte, wo Jesus von seinen Brüdern dazu gedrängt wird, nach Jerusalem zu gehen und dort öffentlich seinen Anspruch anzumelden (Johannes 7,1-13). Und Johannes vermerkt dazu: auch seine Brüder glaubt nicht an ihn. Das heißt, die wollen ihn zur falschen Zeit in einen Konflikt drängen, einfach, um mal zu sehen, was dann passiert. Und Jesus antwortet ihnen: »Meine Zeit ist noch nicht da. Für euch dagegen passt jede Zeit.« Oder, wie Luther es prägnant übersetzt: »Meine Zeit ist noch nicht da, eure Zeit ist allewege.« Das bedeutet: Leute, die kein Interesse haben, die machen sich auch keine Gedanken über den richtigen Zeitpunkt. Die reden aus so einer gewissen Beliebigkeit heraus, sie sagen »man müsste irgendwann mal« oder »du solltest eigentlich«, aber sie können nie mit Vollmacht sagen: »jetzt ist die richtige Zeit gekommen.«
Bei Jesus klingt das ganz anders. Derselbe Jesus, der später genau weiß, dass jetzt der Moment gekommen ist, um nach Jerusalem zu ziehen, der hat vorher genau so klar gewusst, dass die Zeit dafür noch nicht gekommen ist. Verständnislose Leute, die kein Gespür für solche Zusammenhänge haben, die würden wahrscheinlich sagen: erst will er nicht gehen, und am Ende wieder doch, was soll das? Dann hätte er doch gleich gehen können! Aber ich hoffe, Sie verstehen den Unterschied: Jesus hat auf Gott und seine Zeiteinteilung geachtet hat und war bereit, sich danach zu richten.
Die andere Seite davon ist: als die Stunde gekommen war, war Jesus auch bereit, auf seinen Tod zuzugehen. Weil er sein Leben lang gelernt hat, auf Gottes Zeitansage zu achten, deshalb hatte er dann auch die Kraft, zu sagen: ja Vater, wenn es dein Wille ist, werde ich es tun.
Und auch dazu hat er sich endgültig erst in dem Moment entschieden, als die Zeit der Entscheidung gekommen war. Erst im Garten Gethsemane, unmittelbar vor seiner Verhaftung, ist diese Entscheidung gefallen. Auch da könnten oberschlaue Leute wieder sagen: das ist doch unlogisch, er wusste doch, was ihn in Jerusalem erwartet, er hat es seinen Jüngern schon längst angekündigt, wieso muss er sich dann noch einmal entscheiden? Aber das ist theoretisch gedacht. Es sind zwei verschiedene Dinge, ob einer es aus der Distanz ankündigt: »ich werde in Jerusalem leiden und sterben«, oder ob er diesen letzten Schritt tut, nach dem es kein Zurück mehr gibt, nämlich sich bewusst den Feinden in die Hände zu geben. Und den Entschluss dazu hat er erst unmittelbar vorher endgültig gefasst, keine Minute zu spät, aber auch keine Minute zu früh.
Dieses Wissen darum, welche Stunde jetzt ist, und die Bereitschaft, danach zu handeln, das ist elementar für ein Leben, dass sein Ziel erreichen soll. Gerade auch, weil man als Christ auch in Konflikte mit seiner Umwelt gerät, muss man wissen, wann man nachgeben sollte und wann man fest bleiben muss.
Uns fällt es immer leichter, wenn es gar nicht anders geht. Wenn uns gar nichts anderes übrig bleibt, als diesen unangenehmen Weg der Auseinandersetzung zu gehen. Wenn es gar nicht anders geht, dann packt uns manchmal der Mut der Verzweiflung. Und besser dieser Mut als gar keiner. Aber noch besser ist der Mut, der keinen Druck und keine Zwangslage braucht, um eine Aufgabe anzugehen.
Offensichtlich war es für die Jünger und die anderen Begleiter Jesu erschreckend, wie er konsequent auf sein Ziel losging. Diese Entschlossenheit konnten sie nicht verstehen, sie machte ihnen Angst.
Und natürlich war es auch nicht so, dass Jesus leichten Herzens auf den Tod zugegangen wäre, weil er ja wusste, dass ihm nichts passieren konnte. Es sind ja zwei unterschiedliche Dinge: durch Meditieren der Heiligen Schrift, durch beten und hören Gottes Art immer besser verstehen, das ist das eine. Das andere ist dann, diese Erkenntnis auch durchzuhalten und es zu wagen, der Einsicht ganz praktisch zu vertrauen. Wird Gott wirklich treu sein? Wird er retten aus Tod und Vergehen? Jesus hat vor der Probe Angst gehabt. Aber einer musste diese Probe machen. Jesu ganzer Weg hätte auf dem Spiel gestanden, wenn er die letzte Probe gescheut hätte, die Begegnung mit der nackten, brutalen Macht, und mit dem Tod.
Die Welt ist wie eine Ebene mit mit lauter Erhöhungen, und auf jede Erhöhung hat jemand eine Burg gebaut. Von da aus beherrscht er das umliegende Flachland. Und man kann im flachen Land wenig gegen den Willen des Burgherrn erreichen. Erst wenn die Burg gefallen ist, erst dann kann sich in der Umgebung etwas ändern. Und was ist die höchste Burg, die alle anderen Burgen überragt und schützt? Das ist der Tod. Die Macht und der Tod. Solange der Tod unbesiegt ist, solange wird alles Leben in seinem Schatten gelebt, und dieser Schatten fällt auch auf unsere hellsten und freundlichsten Tage. Und solange der Tod unbesiegt ist, herrschen auch die Menschen, die über den Tod verfügen können. Die die Macht haben zu töten.
Hätte Jesus nicht den Kampf aufgenommen um dieses zentrale, härteste Bollwerk in unserer Welt, alle seine früheren Erfolge hätten ihm nichts genutzt, und über kurz oder lang wären sie kassiert worden, so wie das Meer einen Damm aus Sand wegspült, den man am Strand aufgeschüttet hat. Es hätte nichts genutzt, abzuwarten und zu hoffen, dass die Flut nicht kommt. Es hätte irgendwann nichts mehr genutzt, noch länger in Galiläa herumzuziehen, und der Auseinandersetzung mit dem Zentrum in Jerusalem auszuweichen. Deshalb ging Jesus voran, und die anderen folgten ihm mit Entsetzen und Furcht.
Ich denke, es ist klar, dass Jesus der einzige war, der diesen Kampf aufnehmen konnte. Aber von diesem Kampf her erscheinen jetzt auch die Kämpfe in unserem Leben in einem anderen Licht. Denn all die Festungen und Bogen, auf die wir in unserem Leben und in unserem Herzen stoßen, die haben ja jetzt keinen Rückhalt mehr bei dem zentralen Bollwerk, beim Tod . Ihr stärkste Verbündeter ist gefallen. Und das heißt: es gibt gute Aussichten, wenn wir die Herrschaft all der kleineren Burgherren in unserem Leben abstellen wollen.
All die vielen kleineren Dinge, vor denen wir uns fürchten, – und wenn es ein heikles Gespräch ist, vor dem wir ausweichen -, die können wir mit viel mehr Mut und Zuversicht angehen in der Erinnerung, dass Jesus viel größere Gegner besiegt hat, und mit ihm und mit seiner Kraft in unserem Leben haben wir Anteil an diesem Sieg.
Deshalb sollen wir herausfinden, was denn die strategischen Punkte in unserem Leben sind, die Burgen, die Festungen. Oft haben wir uns schon so daran gewöhnt, dass wir sie kaum noch spüren. Und wenn wir sie identifiziert haben, dann heißt es: an Jesus denken, wie er seinen Blick fest auf das Ziel Jerusalem richtet und nicht zögert und mitten hineingeht in das Dunkel, in die Konfrontation, die weh tut.
Ich glaube nicht, dass er sich einen genauen Plan gemacht hat. Keiner weiß vorher, wie das alles nun genau laufen wird . Wir wissen es erst recht nicht. Viel wichtiger ist es, loszugehen, die Sache anzupacken und darauf zu vertrauen, dass Gott uns dann schon weiterhelfen wird. Zum Glück gibt es immer mehrere gute Wege zum Ziel, nicht nur einen richtigen Weg. Wir können darauf vertrauen, das die Welt nicht aus lauter Fallen und Feinden besteht, sondern dass es immer noch Gottes gute Schöpfung ist. Manchmal müssen wir aber erst in hautnahen und beängstigenden Kontakt mit der Welt kommen, um es zu merken.
Ganz wichtig ist, dass wir anscheinend die Kraft zu solchen Entscheidungen immer erst dann bekommen, wenn es so weit ist. Wenn ich noch einmal an die Szene ganz am Anfang denke, da war zum Schluss der Moment gekommen, wo für die Frau alles stimmte: sie hatte Zeit, und sie hatte Energie, und das wäre wirklich der Moment gewesen, das schlimmste Gerümpel in der Garage zu entsorgen. Nur leider hat sie sich davon dann doch abbringen lassen.
Aber so wird es oft sein, dass man vieles eine ganze Zeit voraus plant, aber wenn es dann so weit ist, dann muss man sich noch einmal innerlich vergewissern, dass Gott grünes Licht gegeben hatte. Dass er will, dass wir diesen Weg gehen. Und dann sollten wir uns von nichts und niemand davon abbringen lassen.