Die charismatische Tradition – ein Leben der Vollmacht
Predigt am 1. Februar 2004 (Die großen christlichen Traditionen III)
Die charismatische Tradition des christlichen Glaubens betont besonders, dass zum christlichen Glauben die Erfahrung des Heiligen Geistes gehört, und dass diese Erfahrung auch wirklich wahrnehmbar ist: von dem, der sie macht, aber auch von anderen. Wenn Sie an die Stelle aus der Apostelgeschichte denken (10,29 – 48), die wir gerade gehört haben, da ist der heilige Geist für alle Beteiligten ganz eindeutig wahrnehmbar. Es gibt dann eine kurze Auseinandersetzung um die Frage, ob diese Nichtjuden, die den Heiligen Geist empfangen haben, getauft werden sollen oder nicht. Aber dass sie den Geist empfangen haben, das bestreitet niemand. Das ist für alle eindeutig erkennbar.
Das ist deshalb wichtig, weil heute Menschen manchmal denken, man müsse an die Gegenwart des Heiligen Geistes unter Menschen glauben: man kann ihn zwar nicht wahrnehmen, aber man muss eben glauben, dass er da ist. Das ist im Neuen Testament nicht so. Dort ist die Erfahrung des Heiligen Geistes die Grundlage, gestritten wird nur über die Bedeutung dieser Erfahrung und über die Konsequenzen, die sich daraus ergeben.
Die Menschen, die man der charismatischen Tradition zurechnen kann, erleben die unmittelbare Gegenwart Gottes unter seinem Volk. Das ist in den späteren Zeiten des Christentums eben nicht mehr selbstverständlich. Der Heilige Geist ist sensibel, man kann ihn betrüben, dann vertreibt man ihn. Deshalb finden wir bei den Menschen der charismatischen Tradition immer wieder eine Zeit der Vorbereitung, bis es dann zum Durchbruch kommt und sie von neuem diese urchristliche Erfahrung der Gegenwart Gottes im Heiligen Geist machen.
Zu dieser Gegenwart Gottes gehören dann oft auch die neutestamentlichen Erfahrungen des Redens in neuen, anderen Sprachen. Gottes Gegenwart drückt sich auch körperlich aus. Und das bringt Menschen zum Staunen, zum Fragen, aber auch zum Spotten. Schon in der bekannteren Pfingstgeschichte sagen Menschen, die die Apostel unter dem Einfluss des Heiligen Geistes gesehen haben: die sind ja betrunken.
Schon bei Jesus wird immer wieder betont, dass sein Dienst im Heiligen Geistes geschieht. Er bekommt den Geist bei seiner Taufe. Der führt ihn dann in die Wüste, wo er vom Teufel versucht wird. Nachdem er dort die entscheidende Schlacht geschlagen hat, zeigt sich der Geist bei ihm in den Heilungen und den Dämonenaustreibungen, aber auch in seiner Weisheit, mit der er den Menschen ins Herz sieht, in seiner Unterscheidung der Geister.
Dann kam der Augenblick, in dem Jesus seinen Jüngern die Vollmacht gab, selbst loszugehen, Kranke zu heilen und Dämonen auszutreiben. Und als sie zurückkamen und Jesus berichteten, dass es alles geklappt hatte, da heißt es, dass Jesus im Heiligen Geist jubelte und sich freute, und er sagte seinen Jüngern: viele Propheten und Könige hätten das gerne miterlebt, aber ihr seid es, die dabei sein dürfen. Das war in Jesu Augen eiimg3.gifn Durchbruch, dass er seine Vollmacht an seine Jünger weitergeben konnte. Als das dann nach seiner Himmelfahrt endgültig geschah, da erkannte Petrus, dass nun die letzte Zeit angebrochen war. Ich denke, Jesus hat das damals schon gewusst, als seine Jünger von diesem ersten Probeeinsatz zurückkamen. Und deshalb war er so froh.
In der weiteren Geschichte des Christentums ist dieser Erfahrung dann nicht mehr selbstverständlich gewesen. Aber sie ist immer wieder aufgebrochen. Zum Beispiel bei Franz von Assisi. Franz lebte in einer Zeit, in der die Kirche eigentlich auf einem Tiefpunkt angekommen war. Es war die Zeit der Kreuzzüge, die mit Gewalt, Mord und Gemetzel, angeblich im Namen Gottes, die Botschaft Jesu in ihr Gegenteil verkehrten.
Franz war der Sohn eines Tuchhändlers aus Assisi in Mittelitalien. Er war ein lebenslustiger junger Mann, der die Musik liebte und Ritter werden wollte. Aber auf einem Feldzug gegen das benachbarte Perugia geriet er für ein Jahr in Kriegsgefangenschaft. Dort wurde er über dies krank und lernte auf diese Weise die dunklen Seiten des Lebens kennen. Nach diesen langen dunklen Monaten hatte Franz ein tiefes geistliches Erlebnis. In einer einsamen Höhle außerhalb von Assisi kam er zu der Gewissheit, dass er dem gekreuzigten Christos nachfolgen solle. Er verließ seine Familie und lebte als Einsiedler bei einer eingestürzten und verlassenen Kirche. Dort hörte er eines Tages vor dem Kreuz das Wort des Herrn: »geh und baue meine Kirche wieder auf!«. Das tat er, indem er zunächst ganz praktisch diese verfallene kleine Kirche wieder in Stand setzte.
Ebenfalls in diese Zeit seiner Lebenswende gehört die Geschichte, in der Franz von Gott aufgefordert wird, von seinem Pferd zu steigen und einen armen, zerlumpten Aussätzigen zu umarmen. Franz überwindet sich und tut es und erlebt zum ersten Mal in seinem Herzen eine unbeschreibliche, wunderbare Süße. Er erfährt die Kraft Gottes immer dann, wenn er auf jeden Schutz verzichtet und um sich so den dunklen Seiten der Welt aussetzt. Deshalb liebte er die Armut und wollte sich am liebsten von jedem Besitz trennen.
Sein Vater war über diese Veränderung im Leben seines Sohnes überhaupt nicht erfreut. Vor allem, weil sein Sohn auch Ware aus dem Geschäft des Vaters bedenkenlos an die Armen verschenkte. Auf dem Marktplatz von Assisi kam es schließlich zu einer dramatischen Szene. Der Vater verklagte seine eigenen Sohn vor dem örtlichen Bischof, woraufhin Franz sich von seinem Vater lossagte und erklärte, er habe nun nur noch den Vater im Himmel. Er warf seinem Vater alles vor die Füße, was er von ihm bekommen hatte, einschließlich der Kleider. Er lebte von da an in äußerster Armut, wanderte durch Städte und Dörfer und predigte das Evangelium. Viele junge Männer aus seiner ehemaligen Clique kamen zu ihm und schlossen sich ihm an.
So begann eine der größten geistlichen Bewegungen der Geschichte. Alles, was Franz tat, war von einer erstaunlichen Kraft des Heiligen Geistes begleitet. Es heißt, dass sogar die Tiere auf ihn hörten. Er soll den Vögeln gepredigt haben, und eine der bekanntesten Geschichten über ihn handelt davon, wie er einen Wolf zähmte. Der hatte die Einwohner von Gubbio in Angst und Schrecken versetzt. Franz machte sich sofort auf, um den Wolf zu suchen. Seine Freunde folgten ihm in sicherem Abstand. Als der Wolf sie kommen sah, fauchte er sie drohend an. Aber Franz sprach ihn bestimmt und freundlich an: »Bruder Wolf, komm her zu mir! Im Namen Christi verbiete ich dir, mir oder meinen Gefährten ein Leid anzutun.« Da legte sich der Wolf wie ein Lamm Franz zu Füßen. Franz redete mit ihnm und schlug ihm ein Abkommen vor: der Wolf sollte versprechen, nicht mehr zu erschrecken und zu töten, und die Menschen sollten versprechen, dem Wolf zuvorkommen zu begegnen und ihm das Nötige zu geben. Von diesem Tag an war Frieden zwischen den Menschen von Gubbio und dem Wolf.
Noch viele andere Geschichten gibt es von Franz, in denen deutlich wird, wie vertraut er mit Gott gelebt hat. Seine Geschichte wimmelt von Wundern, Visionen und erstaunlichen Begebenheiten. Kurz vor seinem Tod empfing er die Wundmale Jesu.
Diese letzte Zeit war für ihn aber auch eine Zeit der Enttäuschung, weil der von ihm gegründete Orden die strikte Orientierung an Armut und Demut nicht durchhielt. Franz hatte seine Bewegung schließlich als Orden in die Kirche integrieren müssen. Sonst hätte sie auf die Dauer wahrscheinlich nicht überlebt. So bestätigte der Papst die Regel dieses Ordens. Aber nach der Integration in die Kirche blieb seine Bewegung nicht das, was sie einmal gewesen war. So zog sich Franz in seinen letzten Jahren aus der Leitung zurück. Am Ende ließ er sich in seine Lieblingskapelle bei Assisi tragen und starb dort, nackt und auf dem Boden liegend, um auch im Tode Jesus ähnlich zu sein. Dort wurde er auch begraben.
Über der kleinen Kapelle wurde die große Basilika einrichtet. Das zeigt auch symbolisch, wie sehr die Großkirche diese Bewegung unter ihre Kontrolle gebracht hat. Dennoch konnte so dieser Impuls von Franz überleben. Ein Autor unserer Tage, der ein Buch über ihn geschrieben hat, nannte dieses Buch: »Der letzte Christ«. Ich glaube aber eher, dass dies nicht das Ende war, sondern dass hier der Anfang gemacht wurde zu einer Rückkehr zu den Wurzeln des Christentums, zurück zu Jesus. Als das Christentum eigentlich nicht mehr tiefer sinken konnte, leitete Gott eine Wende ein. Und dieser Strom der Erneuerung ist von Jahrhundert zu Jahrhundert stärker geworden.
Deshalb möchte ich nun noch von einem Ereignis aus der charismatischen Tradition des Christentum erzählen, dass uns zeitlich viel näher ist und erst knapp 100 Jahre zurückliegt. im Mittelpunkt steht ein schwarzer Amerikaner namens William J. Seymour. Seine Eltern waren beide noch Sklaven gewesen. Als er 1870 in New Orleans geboren wurde, war die Sklaverei in Amerika zwar schon abgeschafft, aber in den Südstaaten gab es für einen schwarzen keine Gelegenheit, irgendeine Art von Bildung zu bekommen. Seymour ging deshalb in den Norden, nach Indianapolis. Er schloss sich einer der wenigen Gemeinden an, die keine Rassentrennung praktizierten. Die Gemeinde gehörte zur sogenannten Heiligungsbewegung, die in ihren Wurzeln auf John Wesley zurückgeht, von dem ich vor zwei Wochen erzählt habe. Seymour begann herumzureisen und zu predigen und kam auch wieder in den Süden, nach Texas. Dort bekam der Kontakt zu einem weißen Evangelisten namens Charles Parham. Parham hatte in Houston eine Bibelschule eingerichtet, allerdings nur für Weiße. Aber er erlaubte Seymour, außerhalb des Unterrichtsraumes zu sitzen und den Unterricht durch einen geöffneten Türspalt zu verfolgen. Seymour nahm diese Demütigung in Kauf, weil er bei Parham etwas hörte über das Reden in unbekannten Zungen. Eine Studentin der Bibelschule hatte einige Zeit vorher diese Erfahrung gemacht, und Parham und seine Studenten verbreiteten diese neue Erfahrung.
Kurze Zeit später wurde Seymour von einer kleinen Gebietsgruppe in Los Angeles eingeladen, um dort christliche Versammlungen abzuhalten. Es kann jedoch zu Konflikten, als Seymour auch über seinen neuen Erkenntnisse, nämlich das Leben in fremden Zungen und die Heilung durch Gott predigte. Schließlich verriegelten einflussreiche Mitglieder der Gruppe die Tür des Versammlungshauses. Seymour zog sich daraufhin mehrere Tage lang zum Fasten und Beten zurück. Er war ein Mann des Gebets.
Kalifornien war damals ein Schmelztiegel fast aller Völker, Rassen und Religionen der Welt. Und es sammelten sich hier auch viele Menschen, die sich nach einer neuen Erfahrung mit der Kraft Gottes sehnten. Damals lag etwas in der Luft, und viele Menschen spürten es. 1905 hatte es in England, in Wales, eine große Erweckung gegeben, zu der Pastoren und Prediger aus der ganzen Welt strömten, um auch etwas davon zu bekommen. In Los Angeles lebte damals Frank Bartleman, der durch die Nachricht von dieser Erweckung wie viele andere in großer Erwartung versetzt wurde. Bartleman war Ende 1904 mit seiner Familie nach Los Angeles gekommen. Wenige Tage nach ihrer Ankunft starb seine älteste Tochter. Die Familie war so arm, dass Bartleman mit dem kleinen Kindersarg auf den Knien mit der Straßenbahn zu einem billigen Friedhof fahren musste, um dort seine Tochter eigenhändig zu begraben. All dies ließ ihn nur noch mehr nach einer neuen und ganz anderen Begegnung mit Gott Ausschau halten. 1906 traf er auf Seymour.
Seymour war inzwischen mit den verbliebenen Mitgliedern seiner Gruppe in ein Privathaus umgezogen, in die Bonnie Brae Street. Am 9. April 1906 hatte Seymour ein Mitglied dieser Gruppe gesalbt, ihm die Hände aufgelegt und für ihn gebetet. Da begann der auf einmal im Heiligen Geist zu reden. Die beiden gingen zum abendlichen Gebetsgottesdienst in diesem Haus, und alles Seymour über die Pfingstgeschichte predigte, hob dieser Mann die Hände, öffnete seinen Mund und versetzte alle mit einem Strom von Sprachenrede in Erstaunen. Sofort erlebte fast die ganze Gruppe das gleiche. Eine junge schwarze Frau ging ans Klavier, obwohl sie gar nicht Klavier spielen konnte, und spielte und sang fehlerlos in sechs verschiedenen Sprachen. Drei Tage lang blieb die Gruppe beieinander, lobte Gott und betete ihn an und erlebte eine unbeschreibliche Freude. Mittlerweile hatten sich vor dem Haus Menschenmengen eingefunden, die sich andächtig zuflüsterten, dass Gottes Macht wieder so herabkomme wie in der Apostelgeschichte. Am dritten Tag hatte Seymour selbst eine tiefe Begegnung mit Gott.
Am 18. April war die Gruppe zum ersten Mal in der Zeitung. Die Los Angeles Times brachte auf ihrer Titelseite einen Bericht, in dem sie als eine neue Gruppe wahnsinniger Fanatiker dargestellt wurden. Am selben Tag, an dem dieser Artikel erschien, wurde Kalifornien von einem gewaltigen Erdbeben erschüttert. San Francisco wurde beinah völlig zerstört und Tausende von Menschen starben. Frank Bartleman verteilte eine Schrift, in dem dieses Erdbeben als Gericht Gottes gedeutet wurde. Der Zulauf wurde so stark, dass sie neue Räume brauchten. Sie fanden schließlich eine ehemalige Kirche, die inzwischen als Lagerschuppen benutzt wurde. Wenn man die Bilder heute sieht, dann fragt man sich, wie die sich in so einer Bruchbude versammeln konnten. Man saß auf Brettern, die auf alte Fässer gelegt wurden. Aber dieses Gebäude in der Azusa Street wurde zur Keimzelle einer Bewegung, die heute etwa 600 Millionen Menschen erreicht hat. Die Pfingstbewegung ist im 20. Jahrhundert der Teil der Christenheit gewesen, der mit Abstand das größte Wachstum erlebt hat.
Einer der Gründe dafür ist sicherlich, dass hier eine Gemeinschaft war, in der die Rassentrennung überwunden war. In der Azusa Street arbeiteten Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe zusammen. Das Team war zu einem großen Teil weiß, aber der Leiter war ein Schwarzer.
Dadurch hatte Seymour es aber auch in der weiß dominierten Gesellschaft schwer. Eine der frühesten Spaltungen der Pfingstbewegung verursachte ausgerechnet Charles Parham. Er hatte nicht nur aus taktischen Gründen eine rein weiße Bibelschule gegründet, er hatte auch Kontakte zum Ku-Klux-Clan und empfand die gemischte Gemeinde in der Azusa Street als widerlich. Von Seymour eigentlich zur Unterstützung herbeigerufen, trennte er sich schnell von ihm und gründete in der Nähe eine eigene Gemeinde.
Dies war einer der Gründe dafür, dass Seymour in der Pfingstbewegung bald an Einfluss verlor, was ein großer Verlust war, weil er ein fähiger Leiter war. Er starb 1922, und einige sagen, er sei an gebrochenem Herzen gestorben.
Trotzdem hat sich die Pfingstbewegung auf allen Kontinenten ausgebreitet, ganz besonders in der Dritten Welt. Diese Wiederentdeckung der Wirklichkeit des Heiligen Geistes ist im Grunde zum großen Teil ein Geschenk der schwarzen Amerikaner und ihrer authentischen Frömmigkeit an die Weltchristenheit. Es hält sich durch von Petrus im Haus des Kornelius über Franz von Assisi bis zur Azusa Street: der Heilige Geist ist mit Vorliebe dort, wo die Grenzen von Kultur, Klasse und Hautfarbe überschritten werden.
William Seymour definierte als zentrale Gabe dieses Aufbruchs nicht das Zungenreden, sondern die Liebe, die sich in dieser Gemeinschaft authentisch verwirklichte.