Wann beginnt es?
Predigt am 27. November 2005 (1. Advent) zu Offenbarung 5,1-10
1 In der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, sah ich eine Buchrolle. Sie war innen und außen beschrieben und mit sieben Siegeln verschlossen.
2 Und ich sah einen mächtigen Engel, der mit lauter Stimme fragte: »Wer ist würdig, die Siegel aufzubrechen und das Buch zu öffnen?« 3 Aber es gab niemand, der es öffnen und hineinsehen konnte, weder im Himmel noch auf der Erde, noch unter der Erde.
4 Ich weinte sehr, weil niemand würdig war, das Buch zu öffnen und hineinzusehen. 5 Da sagte einer der Ältesten zu mir: »Hör auf zu weinen! Der Löwe aus dem Stamm Juda und Nachkomme Davids hat den Sieg errungen. Er ist würdig; er wird die sieben Siegel aufbrechen und das Buch öffnen.«
6 Da sah ich direkt vor dem Thron, umgeben von den vier mächtigen Gestalten und vom Kreis der Ältesten, ein Lamm stehen. Es sah aus, als ob es geschlachtet wäre. Es hatte sieben Hörner und sieben Augen; das sind die sieben Geister Gottes, die in die ganze Welt gesandt worden sind. 7 Das Lamm ging zu dem, der auf dem Thron saß, und nahm die Buchrolle aus seiner rechten Hand. 8 Und als es sie genommen hatte, warfen sich die vier mächtigen Gestalten und die vierundzwanzig Ältesten vor dem Lamm nieder. Jeder Älteste hatte eine Harfe und eine goldene Schale mit Weihrauch; das sind die Gebete der Menschen, die zu Gottes heiligem Volk gehören. 9 Sie sangen ein neues Lied:
»Du bist würdig, das Buch zu nehmen
und seine Siegel aufzubrechen!
Denn du wurdest als Opfer geschlachtet,
und mit deinem vergossenen Blut
hast du Menschen für Gott erworben,
Menschen aus allen Sprachen und Stämmen,
aus allen Völkern und Nationen.
10 Zu Königen hast du sie gemacht
und zu Priestern für unseren Gott;
und sie werden über die Erde herrschen.«
Die Offenbarung denkt in Bildern. Man müsste sie mal verfilmen, mit den heutigen Spezialeffekten wäre das bestimmt eine tolle Sache. In diesem Kapitel sind die Bilder vor allem das Lamm und der Löwe.
Das Lamm ist ein Bild für etwas Zartes, für etwas Wehrloses. Es ist auch etwas Freundliches, aber vor allem ist es ein Bild für die schwachen Geschöpfe, die schutzlos den Stärkeren ausgeliefert sind. Und vor allem ist dies tatsächlich ein geschlachtetes Lamm, ein Opferlamm, hier auf diesem Bild ist es gemalt mit zusammengebundenen Beinen, es kann sich nicht wehren und muss ertragen, was man mit ihm tut. Es steht für die Schutzlosen, die jeder Gewalt und jedem Missbrauch ausgeliefert sind.
In der Offenbarung ist es aber gerade das Lamm, dem das Buch mit den sieben Siegeln übergeben wird. Das Buch mit den sieben Siegeln ist Gottes Plan für die Weltgeschichte. Dieses Buch ist eigentlich eine Schriftrolle, und sie ist außen und innen beschrieben, d.h., sie ist prall voll, beide Seiten reichten kaum. Aber weil sie versiegelt ist, deshalb kann man gerade ein bisschen auf der Außenseite lesen, aber das allermeiste versteht man nicht. Ist das nicht genau die Art, wie wir die Weltgeschichte erleben? Es ist schrecklich viel los, ein bisschen verstehen davon wir, aber das meiste bleibt uns ein Buch mit sieben Siegeln.
Und so ist tatsächlich die Weltgeschichte ein großes Rätsel. Wo soll die hin laufen? Gibt es einen Sinn, vielleicht sogar eine Weiterentwicklung zum Besseren? Oder werden eben doch immer wieder die Schwachen, die Lämmer, zum Opfer? Wenn Gott sich etwas dabei gedacht hat, dann muss er sich ziemlich anstrengen, um sein Ziel noch zu erreichen, so denken wir.
Und tatsächlich hat Gott sich etwas gedacht bei der Weltgeschichte. Sein Plan steht in dem versiegelten Buch, nur: keiner kann es öffnen. Öffnen bedeutet nicht, dass man jetzt endlich Neugier befriedigt bekommt, sondern öffnen bedeutet: diesen Plan ausführen, wie ein Testamentsvollstrecker ein Testament eröffnet und vollzieht. Gibt es irgendjemanden, der das kann? Und es ist scheinbar niemand da. Es ist ein guter Plan, den Gott hat, aber keiner kann ihn ausführen. Und Johannes, der diese Vision hat, die er dann später als „Offenbarung“ aufgeschrieben hat, Johannes weint, weil jetzt scheinbar alles verloren ist. Und dann bekommt er gesagt: „Es gibt einen, nämlich den Löwen aus dem Stamm Juda.“
Also ein Löwe, das Symbol für Kraft und Stärke. Wenn einer es kann, dann er. Aber als Johannes wieder hinschaut, da ist es wieder das Lamm, dem das Buch mit den sieben Siegeln übergeben wird. Das Lamm kann das Buch öffnen und verstehen und seinen Inhalt vollstrecken. Und es stellt sich heraus, dass das Lamm und der Löwe eins sind. Für uns sind das Gegensätze: das schutzlose Lamm und der gefährliche, reißende Löwe. Hier in der Offenbarung sind das aber beides Codewörter für Jesus. Symbole für Jesus. Jesus ist der Löwe von Juda, wild, stark, kein zahmer Löwe. Er ist aber auch das Lamm, das geopfert wird und sich nicht wehrt; er ließ es geschehen, dass sie ihn kreuzigten. In Jesus ist das keine Widerspruch, sondern es gehört zusammen. Jesus übt seine wirkliche Macht gerade so aus, dass er den Herrschern und Machthabern nicht auf ihre Art antwortet. Jesus lebt und herrscht in der Kraft Gottes, und deshalb kann er auch Gottes Plan für die Welt durchführen.
Vorhin haben wir diese Geschichte gehört, wie Jesus auf dem Esel nach Jerusalem kommt, und die Menschen bereiten ihm einen begeisterten Empfang wie einem König, einschließlich rotem Teppich aus ihren Kleidern. Auch da sind beide Elemente beieinander: der König, der auf einem Esel reitet, also sozusagen Fahrrad fährt. Der König, der keine Soldaten schicken kann, aber in den Herzen der Menschen regiert. Es gibt grundsätzlich zwei Arten, wie man Menschen beeinflussen kann: indem man sie zu etwas zwingt mit Vorschriften und einem Machtapparat, um diese Vorschriften auch durchzusetzen – oder indem man die Herzen der Menschen gewinnt.
Ein ganz schönes Beispiel dafür ist jetzt gerade als Film in die Kinos gekommen: Merry Christmas heißt dieser Weihnachtsfilm der anderen Art, der von einer wahren Begebenheit aus dem ersten Weltkrieg erzählt. Weihnachten 1914 liegen sich an der Westfront deutsche, englische und französische Soldaten im Schützengraben gegenüber. Der Krieg hat auf allen Seiten schwere Verluste gefordert, die Siegesgewissheit des Anfangs ist verfolgen.
Und dann entdecken die Soldaten auf der anderen Seite der Front einen Christbaum und hören Weihnachtslieder. Zuerst glauben sie, das wäre eine Falle, aber am Ende singen sie mit, sie verlassen ihre Schützengräben und gehen aufeinander zu, im Niemandsland zwischen den Gräben treffen sie sich und nehmen vorsichtig Kontakt auf. Schließlich passiert das, was jeder General fürchtet: die Soldaten feiern miteinander Weihnachten, sie beschenken sich und verabreden einen Waffenstillstand für den nächsten Tag. Schließlich feiern sie Gottesdienst miteinander, bunt gemischt, drei feindliche Nationen miteinander. Versteht ihr, dazu sind Gottesdienste da: dass wir hier auf der Erde schon etwas davon ahnen, wie Gott die Dinge sieht, und dass wir es erleben. Friede auf Erden. Im Himmel ist das dann sicher viel formvollendeter, mit Harfen und Weihrauchschalen, aber hier auf der Erde sollen wir im Schatten von Gewalt und Ungerechtigkeit Gottesdienst feiern, damit wir unser Herz stark machen und die Vision von dem Lamm im Herzen tragen, das am Ende siegen wird und die Weltgeschichte zu ihrem Ziel führen wird, mit der Stärke und dem Mut eines Löwen. Es ist so entscheidend, dass du dein Herz stark machst und verankerst in der Wirklichkeit Gottes hier unter uns. Die Herzen entscheiden darüber, was mit dieser Welt geschieht, und Gottes Plan mit der Welt läuft über die Kraft menschlicher Herzen, die befreit und wiederhergestellt werden. Wenn Herzen kalt bleiben oder wenn sie den Menschen geraubt werden, dann hat Gottes Plan einen schweren Schlag erlitten. Aber Gott hat versichert, dass er seinen Plan auf jeden Fall durchführen wird, und Jesus ist fähig dazu. Jesus schafft es, dass mitten zwischen den Schützengräben Menschen Weihnachten feiern.
Wenn wir also in der Kirche vom Lamm Gottes hören und nachher singen „Ehre dem Lamm“, dann ist das keine religiöse Lyrik fürs festliche Gemüt, sondern damit ist gemeint, dass Jesus die Macht hat, solche Dinge zu realisieren, wo Menschen den Apparaten geraubt und für Gott gewonnen werden. Kurz vor dem Ende erzählt die Offenbarung dann auch davon, wie die Stadt Babylon fällt. Babylon ist der Deckname für Rom, die Großmacht und Hauptunterdrückerin damals. Die Machtzusammenballungen, die die Menschen gefangen halten, werden am Ende fallen und die neue Erde wird beginnen.
In dem Film „Merry Christmas“ wird dann auch erzählt, wie die Militärapparate reagieren. Die Befehlshaber auf allen Seiten sind in heller Aufregung, als sie erfahren, was da passiert ist. Sie wechseln schleunigst die Truppenteile aus, weil sie Angst haben, dass die jetzt auch nach Weihnachten nicht mehr aufeinander schießen. Der englische Militärpfarrer, der den Gottesdienst geleitet hat, kriegt großen Ärger mit seinem kirchlichen Vorgesetzten. Dafür hat man ihn schließlich nicht eingestellt, dass er „Friede auf Erden“ so wörtlich nimmt. Am Ende quittiert er seinen Dienst. Aber welcher Pfarrer kann schon von sich sagen, dass er einmal so einen Weihnachtsgottesdienst leiten durfte?
Und nun kommen wir zur Frage: wann beginnt das?
Erste Antwort: das weiß keiner von uns, weil für uns das Buch der Weltgeschichte mit sieben Siegeln verschlossen ist. Und wenn Christen immer mal wieder meinen, sie könnten wenigstens ungefähr sagen, wann diese Welt an ihr Ende kommt, dann ist das ihr Problem, aber es ist nicht biblisch, und bis jetzt hat sich da noch jeder getäuscht.
Zweite Antwort: Aber die neue Welt Gottes bricht immer wieder ein in unsere Welt und bringt sie durcheinander. Das ist mit Advent gemeint: Jesus kommt, wie eine Flut brandet er gegen die Küsten der Welt, überraschend und ungeahnt kommt er, und nichts ist vor ihm sicher. Er führt einen Stamm von Leuten an, die wenig Respekt haben vor den Uniformen und den Regeln und den Apparaten und Hierarchien, weil sie etwas so viel besseres kennen. Ein Stamm von Leuten, die die Weltgeschichte durcheinander bringen, und manchmal wissen sie vorher noch gar nicht, dass sie dazugehören werden.
Gerade wenn bei uns heute im Gottesdienst das Thema Kirchenvorstand dran ist, dann muss man deutlich sagen: es geht in der Gemeinde darum, dass so ein Haufen von Leuten zusammenkommt, die die Schutzlosigkeit des Lammes und den Mut des Löwen verbinden, und die fest zusammengehören. Wenn man in so einer Organisation arbeitet, dann muss man wissen, wem die eigene Loyalität gehört: nämlich den Menschen und dem, was Jesus in ihnen tun will. Organisationen kommen und gehen, aber wenn sie gut sind, dann sorgen sie dafür, dass da ein Raum ist, in dem Menschen das Lamm und den Löwen kennenlernen und lernen, als Stamm Jesu miteinander und in der Welt zu leben.
Ich weiß nicht, ob Sie sich entsinnen, wie damals diese Iranerin abgeschoben werden sollte, auf die in ihrer Heimat wahrscheinlich die Todesstrafe durch Steinigung wartete. Und da war ein Pilot, der sich geweigert hat, sie mitzunehmen, und sie konnte hierbleiben. Und unser halber Landtag und die Landesregierung waren damit beschäftigt, das irgendwie legal zu machen – alles nur, weil ein Mensch einfach menschlich gehandelt hat. Ich weiß nicht, ob er Christ war, aber er hat im Auftrag des Lammes gehandelt.
Wir sind keine Soldaten im Schützengraben, wir sind vermutlich keine Piloten, wir sind wahrscheinlich mit viel weniger dramatischen Situationen konfrontiert, aber das weiß man vorher immer nicht. Wann beginnt es? Für uns beginnt es, wenn wir zur Armee des Löwen stoßen, die gleichzeitig die Armee des Lammes ist. Zu diesem Stamm von Leuten, die schon wissen, dass am Ende der neue Himmel und die neue Erde steht.
Dazu ist die Offenbarung geschrieben worden, für die Christen in einer Zeit, als das Römische Weltreich sie zum Staatsfeind Nr. 1 erklärt hatte und sie sich fragten: wozu? wie wird das ausgehen? Und die Antwort ist: Jesus führt den Plan Gottes aus. Jesus ist fähig dazu. Er ist der Löwe. Das schutzlose Lamm wird am Ende siegen und auch zwischendurch immer wieder fröhlich seine Zeichen setzen. Das Lamm war tot und ist auferstanden.
Und jetzt seht zu, dass ihr auch zu seinen Leuten gehört, dass ihr diesen Weg einschlagt, mit ganzem Herzen. Wir sollen jeden Tag üben, unser Herz stärken, uns vorbereiten, damit wir auch im Großen das Richtige tun, wenn es mal dahin kommen sollte. Und das ist auch im Kleinen wichtig. Wir haben alle unsere unterschiedlich großen Verantwortungsbereiche, und sicher hat mancher auch nur einen sehr kleinen, weil er kleine Kräfte hat. Aber mühelos ist es nie, seine Verantwortung wahrzunehmen. Ob klein oder groß, wir müssen unser Herz stark machen dafür, und dann mit mutigem und ganzen Herzen hineingehen in unsere Tage.
Viel zu lange haben sich Christen beschrieben und definiert mit dem, was sie nicht tun, was sie nicht dürfen, über die Sünde, die sie vermeiden sollen. Aber auf die Weise denkt man immer nur an Sünde, und das ist nicht gut. Wir sollen uns viel mehr definieren über das, was wir tun, wozu wir befreit sind, über die Herausforderungen und Heldentaten im Kleinen und im Großen, zu denen uns der Löwe von Juda ruft. Er gewinnt Menschen für Gott, dass wir jetzt schon jeder an seinem Platz zu seinem Stamm gehören, darauf achten, ob Nachrichten von ihm kommen und fest verankert sind in der Wirklichkeit Gottes.