Blühende Landschaften
Predigt am 2. Oktober 2005 (Erntedankfest) zu Jesaja 58,6-12
6 Löst die Fesseln der Gefangenen, nehmt das drückende Joch von ihrem Hals, gebt den Misshandelten die Freiheit, und macht jeder Unterdrückung ein Ende! 7 Ladet die Hungernden an euren Tisch, nehmt die Obdachlosen in euer Haus auf, gebt denen, die in Lumpen herumlaufen, etwas zum Anziehen, und helft allen in eurem Volk, die Hilfe brauchen!
8 Dann strahlt euer Glück auf wie die Sonne am Morgen, und eure Wunden heilen schnell; eure guten Taten gehen euch voran, und meine Herrlichkeit folgt euch als starker Schutz. 9 Dann werdet ihr zu mir rufen, und ich werde euch antworten; wenn ihr um Hilfe schreit, werde ich sagen: ‚Hier bin ich!‘
Wenn ihr aufhört, andere zu unterdrücken, mit dem Finger spöttisch auf sie zu zeigen und schlecht über sie zu reden, 10 wenn ihr den Hungernden zu essen gebt und euch den Notleidenden zuwendet, dann wird eure Dunkelheit hell werden, rings um euch her wird das Licht strahlen wie am Mittag.
11 Ich, der HERR, werde euch immer und überall führen, auch im dürren Land werde ich euch satt machen und euch meine Kraft geben. Ihr werdet wie ein Garten sein, der immer genug Wasser hat, und wie eine Quelle, die niemals versiegt.
12 Was seit langer Zeit in Trümmern liegt, werdet ihr wieder aufbauen; auf den alten Fundamenten werdet ihr alles von neuem errichten. Man wird euch das Volk nennen, das die Lücken in den Stadtmauern schließt und die Stadt wieder bewohnbar macht.«
Das ist Gottes Weg zu blühenden Landschaften: wenn in einem Volk Erbarmen und Barmherzigkeit herrschen: »Ihr werdet wie ein Garten sein, der immer genug Wasser hat, und wie eine Quelle, die niemals versiegt.« Eine Quelle fließt auch im heißen Sommer, sie wird unterirdisch versorgt. Sie ist unabhängig vom jeweiligen Tageswetter. Das heißt: Gott verspricht blühende Landschaften, deren Gedeihen nicht abhängig ist von der jeweiligen Konjunkturlage und dem Investitionsklima.
Gott denkt nicht von der Knappheit her, sondern vom Reichtum dieser Erde, und am Erntedankfest üben wir uns ein, die Welt aus dieser Perspektive zu sehen. Wir lassen uns nicht weismachen, es sei zu wenig da, sondern wir sagen: danke, Gott, dass du uns beschenkst mit allem, was wir brauchen. Danke, dass du die Erde so eingerichtet hast, dass genug für alle da ist, auch wenn es Milliarden von Menschen sind, aber es reicht für alle. Und wir können alle gut von deinen Gaben leben – wenn wir sie teilen. Es reicht für alle, wenn Gerechtigkeit herrscht.
Gott hat diese Welt nicht so geschaffen, dass wir ängstlich schauen müssen, wieviel noch da ist. Er hat sie auch nicht so geschaffen, dass es nur für das Notwendigste reicht und wir uns alles Schöne und Begeisternde versagen müssten. Wir leben nicht von Astronautenkost aus der Tube, sondern von vielfältigen lebendigen Früchten, und je vielfältiger sie sind, um so gesünder ist es. Unser himmlischer Vater streut Herrlichkeiten aus, er hat uns zur Freude geschaffen, und er lässt es nicht fehlen an kostbaren Überraschungen und herrlichen Aussichten auf unserem Weg durch die Welt. Selbst jetzt, wo wir nicht mehr im Paradies leben, wo Not und Tod sich ausgebreitet haben in der Welt, auch jetzt noch lädt er uns ein zu erstaunlichen Freuden und fröhlichen Tagen. Und das Tolle ist, dass das kaum vom Lebensstandard abhängig ist, sondern Sie haben bestimmt schon mal gehört, wie Besucher aus einem armen Land, in dem die Menschen es materiell ganz schwer haben, zurückkommen zu uns und dann erzählen: die Menschen sind da trotz allem fröhlich und dankbar, man kann das gar nicht verstehen, wie die das unter diesen Bedingungen können, aber im Vergleich kommt es mir jetzt hier zu Hause so kalt vor, menschlich kalt.
Oder vielleicht haben Sie auch schon mal gelesen von diesen Glücksforschern, die mit ihren Fragebogen herauszukriegen versuchen, wodurch Menschen eigentlich glücklich werden. Und eines ihrer Ergebnisse ist, dass der Lebensstandard gar nicht viel Einfluss auf das Glück hat. Wenn man aus der Zone der Not heraus ist, dann spielt der Lebensstandard für das Glück keine große Rolle mehr. Aber es gibt noch ein anderes interessantes Ergebnis: viel wichtiger als der Lebensstandard ist für das allgemeine Glück in einem Land die Frage, ob der Reichtum einigermaßen gleich verteilt ist, oder ob es da riesige Unterschiede gibt. Riesige Unterschiede vermehren das Unglück!
Ja, genau das steht eben in der Bibel: wenn ihr euch um die Bedürftigen kümmert, »dann strahlt euer Glück auf wie die Sonne am Morgen, und eure Wunden heilen schnell«. Das Wohlergehen unseres Landes hängt ganz entscheidend davon ab, dass wir uns an Gottes Prioritäten halten und niemanden in unserer Mitte im Unglück lassen. Natürlich gibt es auch Menschen, denen man nur schwer helfen kann, weil sie sich beharrlich selbst schaden – aber das setzt nicht diesen Grundsatz außer Kraft.
Wir haben in unserem Land vor langer Zeit einmal die Entscheidung getroffen, dass unter uns niemand mit Not allein gelassen werden soll. Das war damals nach dem zweiten Weltkrieg. Unser Land lag in Trümmern, und es waren nicht nur äußere Trümmer, sondern da war ja auch innerlich, menschlich so viel kaputt gegangen, so viel Schuld und so viel Zerstörung lastete auf den Menschen. Als man damals überlegte, wie es inmitten diesen Trümmer einen Neuanfang geben könnte, damals haben die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes eine Weichenstellung vorgenommen. In § 20 des Grundgesetzes haben sie lapidar hineingeschrieben: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat«.
Und sie meinten damit: bei uns soll niemand hilflos politischer Willkür ausgesetzt sein (deshalb »demokratisch«), und wir werden nicht zulassen, dass in unserem Land Menschen in Armut und Unglück versinken, ohne dass ihnen einer hilft (deshalb »sozial«). Das war in einer Zeit, als noch immer Menschen in Blechhütten lebten und Ausgebombte und Flüchtlinge in die Wohnungen der Einheimischen eingewiesen waren. In so einer Zeit der Not und Entbehrung hat sich unser Land diesen Luxus geleistet, zu sagen: bei uns wird niemand zugrunde gehen, weil sich keiner um ihn gekümmert hat. So etwas soll es bei uns nicht geben.
Da waren damals eben Leute darunter, die ihre Bibel kannten und das, was sie da gelesen haben, umgesetzt haben in die Sprache einer Verfassungsordnung. Und was war das Ergebnis? Was in Trümmern lag, ist wieder aufgebaut worden. Wunden sind geheilt. Und wir haben eine lange Periode mit Frieden und gutem Auskommen gehabt. Natürlich war nicht alles problemlos, aber diese Grundentscheidung hat unserem Land gutgetan und ihm eine lange gute Zeit beschert. Und man hat den Eindruck, dass eben immer noch eine Mehrheit in unserem Land findet, dass das eine gute Entscheidung war, und die Menschen möchten nicht, dass diese Entscheidung gekippt wird.
Und das ist richtig und weitsichtig. Hier in der Bibel wird deutlich, dass das Füreinander-Eintreten das wahre Kapital eines Landes ist. Es gibt immer Menschen, die für längere oder kürzere Zeit in eine schwierige Situation kommen, mit oder ohne eigenen Schuld. Und uns allen bleibt viel Sorge und Angst erspart, wenn wir wissen: falls mir das mal zustößt, dann ist das nicht mein privates Risiko, sondern dann wird die Gemeinschaft dafür sorgen, dass ich nicht unter die Räder komme. Und eines Tages kann ich dann auch wieder meinen Beitrag zur Gemeinschaft leisten. Das ist realistisch, das liegt in unser aller Interesse, dass ein Netz ausgespannt ist, das die Risiken des Lebens abfedert.
Wenn wir nochmal an diese schlimmen Jahre nach dem Krieg denken, da hat es natürlich auch Leute gegeben, die relativ wenig verloren hatten und nicht einsahen, wieso man sich um die ganzen Leute kümmern sollte, die da plötzlich mittellos vor den Türen standen, oft mit nicht mehr als dem, was sie auf dem Leibe trugen. Aber ich habe genauso mit Menschen gesprochen, die damals spontan gewusst haben: diesen Leuten muss man helfen! Wir können nicht unsere Häuser und Herzen einfach zuschließen und die draußen lassen! Und in aller menschlichen Fehlerhaftigkeit und auch unter vielen schweren persönlichen Erfahrungen, natürlich auch unter gesetzlichem Zwang hat es dann doch Solidarität gegeben, und all die Menschen, die zuerst lästige Zuzüge waren, haben am Ende mit ihrem Potential ganz entscheidend zum Wirtschaftswunder in der Nachkriegszeit beigetragen.
Wir stehen heute ganz anderen Herausforderungen gegenüber. Nicht der Krieg ist unser Problem, sondern Verschiebungen in der Wirtschaft. Es sieht so aus, als ob es nicht genügend Arbeit für alle gibt. Und es heißt, wir könnten uns das nicht mehr leisten, all die mitzuversorgen, die von solchen schwierigen Situationen betroffen sind. Die Kranken, die Pflegebedürftigen, die Arbeitslosen, die Alten – immer wieder bekommt man den Eindruck vermittelt: die sind wie ein Klotz am Bein, die sind ja viel zu teuer für uns. Die können wir uns angeblich gar nicht mehr leisten.
Aber das Füreinander-Eintreten ist das wirkliche Kapital eines Landes, und heute ist das das Kapital der Menschheit. Was uns hilft, ist genau diese Grundentscheidung, dass wir keinen allein lassen und keinen unter die Räder kommen lassen. Dass wir die Armen unser Herz finden lassen. Gott verspricht uns, dass das der Weg ist, auf dem das Glück aufstrahlt wie die Sonne am Morgen. So heilen Wunden, so werden aus Trümmern wieder blühende Landschaften. Und wenn wir auf diesem Weg gehen, dann wird Gott seinen Segen geben, und wir werden Antwort bekommen, wenn wir nach ihm rufen. Er wird segnen und helfen, wie er das auch in der Vergangenheit so oft getan hat.
Gott zeigt uns einen Weg, wie wir Gestaltungsspielraum bekommen. Unser Spielraum wächst durch Barmherzigkeit und Solidarität. Wenn wir die vertrocknen lassen, dann sind wir eines Tages wirklich nur noch abhängig von den Entscheidungen in irgendwelchen Konzernzentralen. Aber wenn wir offene und mitleidige Herzen haben, dann gehen Türen auf und dann wachsen uns Möglichkeiten zu. Wenn wir in einer neuen Lage die Entscheidung der Väter und Mütter unseres Grundgesetzes erneuern, dass wir niemanden im Unglück allein lassen, dann wird ein Ruck durch Deutschland gehen, dann wird es Aufbruchstimmung geben, dann werden wir mit Freude in diesem Land leben.
Gott denkt von der Fülle her, er denkt vom Geben und Schenken her, und nicht vom Mangel. Das sind die Regeln, nach denen die Welt funktioniert. Nur Liebe ist in Wahrheit realistisch. Ängstlich zugehaltene Taschen zeigen, dass wir die Prinzipien des Schöpfers nicht verstanden haben. Heute wollen wir in seinen vielen und guten Gaben etwas von seinem Wesen erkennen, seine Großzügigkeit, seine Freundlichkeit und seinen Reichtum. Das soll auf uns abfärben, das soll auch zu uns kommen.
Es gibt im Hintergrund der Welt immer noch einen Strom der Fülle, und auch alle Gier und alles Raffen und Anhäufen haben den nicht vertrocknen lassen. Es ist genug für alle da, wenn wir teilen. Von diesem Strom des Segens leben wir in Wahrheit, und wir wollen uns heute dankbar daran erinnern und uns diesem Strom anvertrauen.